Making of Kawaii Mania, Folge 1: Harajuku

Gerne erinnere ich mich dieser Tage an die total 2019-mäßigen Probleme, die ich im letzten Sommer hatte: Ich konnte einfach keine anständigen Bilder für mein damals im Entstehen begriffenes Buch Kawaii Mania bekommen. Unanständige hätten es auch getan, aber selbst das war schwierig. Offizielle Pressevertreter relevanter Unternehmen konfrontierten mich mit langwierigen Verfahren, komplizierten Antragsformularen, furchteinflößenden Knebelverträgen oder der guten, alten kalten Schulter. Also löste ich das Problem auf total 2019-mäßige Weise: Ich verließ das Haus, stürzte mich ins soziale Gewimmel und knipste selbst. Gleich am ersten Tag ging mir dabei die Kamera kaputt, also machte ich es wie normale Menschen: Ich nahm das Mobiltelefon. Viele der Fotos kamen tatsächlich ins Buch. Etliche nicht. Eine kleine Auswahl der letzteren möchte ich in dieser Serie teilen.

Heute geht es erst mal ins Teenager- und Touristenviertel Harajuku, dort selbstverständlich in die Takeshita Dori.

Was es dort gibt, weiß man ja.

Ich hatte es in erster Linie auf die Purikura-Fotokabinen abgesehen, in denen sich ursprünglich Geschäftsleute Fotoaufkleber für ihre Visitenkarten erstellen lassen sollten. Es stellte sich aber heraus, dass darin viel lieber junge Frauen Fotoaufkleber für ihr Amüsement erstellen lassen. Man erahnt es inzwischen schon an der Aufmachung der Kabinen.

Dabei ist für die Älteren auch was dabei:

Noch ein Fotokabinenfoto? Na gut, wollen wir mal ein Auge zudrücken.

Gerne hätte ich einen dieser Lastwagen mit Reklame für die neuesten Produkte der Musikindustrie fotografiert, wie sie insbesondere durch Harajuku und Shibuya gurken. Allerdings immer, wenn ein guter kam, bekam ich nervöse Finger, und ich konnte nur noch das Nummernschild identifizieren. Ein besserer als dieser ist mir nicht vor der Linse stehengeblieben (und der ist leider vergleichsweise schlicht):

Den Appetit auf einen Hamburger im Kawaii Monster Café hat mir diese relative Fehlleistung nicht verdorben.

Zum Runterspülen gab’s auch was (das vollständige Getränk ist im Buch abgebildet).

Weitere Getränke hingen von der Decke.

Bei der Show zur Mahlzeit blieb ich lieber im Hintergrund, bevor man mich noch zum Freiwilligen-aus-dem-Publikum erklärte.

Den Nachtisch nahm ich im Rotationskuchencafé Maison Able Café Ron Ron ein. Das wurden allerdings so viele Kuchen, dass ich dafür eine neue Folge beginnen werde. Für heute sage ich erst mal tschüs und:

Wundertüten gibt es immer wieder

Letztes Jahr (gucken Sie hier) spazierte ich am dritten von eigentlich nur zwei Verkaufstagen in die internationale Kinokuniya-Buchhandlung in Shinjuku und hatte noch freie Auswahl zwischen mehreren Variationen der beliebten Neujahrswundertüten, in denen japanische Händler traditionsgemäß zum Jahresauftakt Überraschungssonderangebote zu Schleuderpreisen raushauen. Mein Anfängerglück nicht als solches erkennend, meinte ich, die Gerüchte um die Begehrtheit dieser Tüten seien stark übertrieben.

Also ahnte ich nichts Böses, als ich in diesem Jahr am Nachmittag des Erstverkaufstages mit betonter Lässigkeit ins Geschäft schlenderte. Diesmal wollte ich mehr als eine Tüte. Zwar habe ich von den Büchern aus der von vor einem Jahr bislang nur eines gelesen, aber darauf kommt es ja nun wirklich nicht an. Leider wird nur ein Beutel pro Nase ausgegeben. Deshalb hatte ich meiner Frau 2020 Yen zugesteckt und sie instruiert, sich ganz normal zu verhalten. Im Nullkommanichts würden wir den Laden mit zwei sogenannten Lucky Bags verlassen haben, und niemand müsse je erfahren, dass beide für mich bestimmt sind.

Doch, Schockschwerenot, auf dem Wundertütentisch standen nur noch die Ausverkauft-Schilder. Auf Anfrage versicherte man uns, dass es am nächsten Tag eine weitere Chance gäbe, wir uns allerdings gefälligst recht früh, also vor Ladenöffnung, vor dem Haupteingang im Erdgeschoss einfinden sollten, so uns die Sache wichtig wäre. Abkürzungen über andere Zugänge seien nicht erlaubt.

Wir fügten uns. Als wir um zehn vor zehn ankamen, warteten bereits ungefähr 20 andere auf ihr Glück.

Zuerst war alles sehr zivilisiert, wir Büchermenschen sind schließlich sanft und großmütig. Wir gönnen allen alles. Als sich aber nach dem Einlass die Fahrstuhltür schloss und einige Ansteher untransportiert zurückblieben, machte sich eine gewisse Unruhe breit. Auch bei mir, denn ich war ein Betroffener. Als ein Ordner den Tipp gab, dass es über die Rolltreppe schneller gehen könnte, rannten wir los. Mein Frau flehte mich an, ohne sie voranzupreschen, sie sorge sich um das Wohl des Kindes in unserer Begleitung. Doch ich zerrte beide mit. Entweder wir teilten den Triumph, oder wir gingen gemeinsam leer aus.

Fünf Stockwerke Möbelhaus rauschten an uns vorbei, was schon ein wenig wehmütig machte. Das war alles mal Buchladen, dachte ich. Die jungen Leute wissen’s gar nicht mehr. Inzwischen ist nur noch das internationale Stockwerk übriggeblieben. Das ist ja auch die Hauptsache. Aber trotzdem.

Schluss mit dem sentimentalen Gewäsch; wir konnten unsere Schnäppchen abgreifen. Ich eine Tüte ‚Literature‘, meine Frau eine Tüte ‚Japanese Literature‘ und meine Tochter eine Tüte ‚Children’s & YA‘. Perfekt durchdacht, ich weiß. „Die ist schwer!“, beklagte sich Hana auf dem Weg zur Kasse. Ich versicherte ihr, dass sie in ungefähr zehn Jahren an den Büchern in ihrer Tüte viel Freude haben würde. Solche Argumente sind Musik in den Ohren Fünfjähriger.

Als wir nach unserer Transaktion das Geschäft verließen, war nur noch ein einziger Beutel am Platz, aus der Kategorie ‚Self-Help‘. Ich hätte die unentschlossene Kundschaft gerne pfiffig aufgefordert: “Please, help yourself!“ Aber ich war zu schüchtern.

Kommen wir nun zur Auswertung.

Die größte Überraschung an der Überraschungstüte für Kinder und Jugendliche ist, dass lediglich ein Kinderbuch dabei ist, und auch das ist eher eins für ältere Vertreter der Gattung als wir eines daheim haben. In erster Linie war die Anschaffung eh für mich gedacht, nicht zuletzt aus Gründen der Marktanalyse.

Anstatt hier über den Lesespaß zu spekulieren, der mich zwischen den Deckeln genau dieser Bücher erwartet, möchte ich gerne etwas Allgemeines loswerden, was mir schon lange unter den Nägeln brennt (Blog-style, quasi): Ich verstehe die Attraktivität der Young-Adult-Kategorie für ihre Zielgruppe nicht. Es geht mir nicht um die Qualität der ihr zugeordneten Werke, da sind immer wieder dolle Dinger drunter, sondern um das Label als solches, also die Kategorisierung ‚Young Adult‘ als Marketing-Werkzeug. Bei mir war das so: Als ich ein Kind war, las ich Kinderbücher. Als ich mich dafür zu alt fühlte, griff ich zu Erwachsenenbüchern. Mit Lust und Genuss, oft heimlich. Eine Kompromisslösung hätte mich nicht interessiert. Hätte mir ein Buchvermarkter angeboten: „Ey, Alter, ich hab hier einen Mega-Lese-Hammer speziell für Kids wie dich: etwas für ‚junge Erwachsene‘, zwinker, zwinker!“, dann hätte ich genau um dieses Buch den größten aller denkbaren Bögen gemacht.

Sicherlich, Young-Adult-Titel gab es schon zu meiner Zeit. Sie hießen Jugendbücher, und ich möchte meine Argumentation keineswegs auf die billige Klage reduzieren, dass heute alles englisch heißt (obwohlistdochwahr). Der wesentliche Unterschied ist, dass Jugendbücher damals nicht von Jugendlichen gekauft wurden, sondern von ratlosen Eltern, Onkeln und Tanten. Jugendliche selbst ließen sich nicht vorschreiben, was für sie geschrieben wurde. Die heutigen Young Adults scheinen da beratungsaffiner zu sein. Doch ich möchte ebenfalls nicht das Klagelied anstimmen, die jungen Erwachsenen von heute seien so anders als die alten Kinder von früher. Ist zwar in der Sache richtig, allerdings kaum ein Grund zur Klage, denn anders muss ja nicht schlechter sein. Will nur sagen: Ich steck da nicht drin.

Ein ähnliches Problem habe ich übrigens mit dem japanischen Konzept der ‚Light Novel‘. Als schwerer Leser habe ich da immer Angst, ich würde nicht satt. Doch wenden wir uns der nächsten Tüte zu:

Jeder hat My Absolute Darling und Normal People schon gelesen und auf seine Jahresbestenliste gepackt, nur ich nicht. Ich freue mich, das bald nachzuholen. Lullaby scheint was Wüstes zu sein. Mal gucken, ob mich irgendwann mal eine wüste Stimmung überkommt. Das legt sich ja etwas mit dem Alter. Ich könnte mir vorstellen, dass ich genau dieses Buch gerne als ‚junger Erwachsener‘ gelesen hätte. Und nicht irgendwas mit Glitzercover und dystopischen Paralleluniversen.

All the Birds in the Sky habe ich bereits als E-Buch, doch, ach, es hat mir nicht gefallen. Die Geschichte um einen Zeitmaschinentüftler und eine Hexe war süß, so lange sie noch klein waren. Als sie sich jedoch zu erwachsenen Hipster-Kotzbrocken entwickelt hatten, sah ich keine Veranlassung mehr, weiterzulesen.

Außerdem zwei, die nach Historienschmökern aussehen. Da bleibe ich Snob, ich kann mir nicht helfen. Die werden wohl 1A-fabrikneu bleiben.

Weiter, japanisch (auf Englisch):

Asleep von Banana Yoshimoto habe ich jetzt dreifach. Schon auf Englisch gehabt, dann versehentlich noch mal deutsch gekauft, oder umgekehrt. Macht nichts, manche Bücher kann man ja mehrmals lesen. Den Murakami habe ich bereits in einer unvorteilhaften alten Ausgabe, die für den japanischen Englischunterricht gedacht war. Inzwischen vielleicht was wert. Könnte ich sie nur finden. Lese ich gerne noch mal in schönerer Übersetzung und ansprechenderer Aufmachung. Momentan befinde ich mich allerdings in einer Murakami-Pause von unbestimmter Dauer.

Von Kawabata und Soseki habe ich selbstverständlich bereits einige der Greatest Hits gelesen, allerdings kaum so viele, wie ich manchmal behaupte. Das kann ich nun korrigieren.

Sweet Bean Paste sagt mir nichts. Meine Frau meint, das gäbe es auch als Film. Das muss ja nicht gegen das Buch sprechen.

Von Yasutaka Tsutsui habe ich einige Bücher gelesen, und von The Girl Who Leapt Through Time einige Verfilmung gesehen. Ich habe aber noch nie das Buch The Girl Who Leapt Through Time von Yasutaka Tsutsui gelesen. Da schließt sich ein Kreis. Dann noch ein Buch mit Gedichten, es werden schon nicht alle schlecht sein. Der Neujahrswundertütengewinner 2020: japanische Literatur.

2019 war für mich kein gutes Lesejahr. Vieles begonnen, wenig beendet. Es lag nicht immer an den Büchern, es lag auch manchmal an mir. Dieses Jahr wird besser, das spüre ich. Dieses Jahr sage ich: Bücher sind die neuen Videospiele.

Ich bin der Fernsehflorist

Hätte mein Blog zwei Leser, könnte ich mir folgendes Gespräch vorstellen:

Leser 1: „Schon gesehen, Leser 2? Auf Shakira Kurosawa gibt es einen neuen Beitrag.“

Leser 2: „Echt jetzt, Leser 1? Na, meine Neugier hält sich in Grenzen. Ist wahrscheinlich wieder nur so ein apologetisches Geflenne, warum der Typ so selten in seinen Blog schreibt. Hat zu viel zu tun, blabla, schließlich erscheint sein neues Buch Kawaii Mania bald für 19 Euro 95 im Conbook Verlag, blabla, und im Frühjahr kommt schon wieder was, blablabla …“

„Hm, tja, ein bisschen so ist der Beitrag durchaus. Aber gleichzeitig vieles mehr. Eine Geschichte von Liebe und Verrat, von Rache und Drachen, Würfelspielen und Schwertkämpfen, waghalsigen Fluchten und dramatischen Konfrontationen, verloren Söhnen, schönen Prinzessinnen, gefährlichen Piraten und einem Mann mit sechs Fingern.“

„Ach, der Ärmste. Jeweils drei Finger rechts und links? Oder vier und zwei? Oder …“

„Nein, nein. Ich hätte es anders formulieren sollen. Sechs Finger an einer Hand, die andere ganz normal, also fünf.“

„Gibt es in dem Beitrag wirklich einen elffingerigen Mann?“

„Ehrlich gesagt nein.“

„Und die anderen Sachen auch nicht, oder?“

„Nein, da muss die Euphorie mit mir durchgegangen sein.“

„Ich werd’s wohl trotzdem lesen.“

„Gleich nach der Reklameeinblendung geht’s los.“

Zuletzt kam ich nicht mehr recht dazu, diesen Blog zu pflegen, weil ich so viel anderes zu pflegen hatte, und zwar beim Fernsehen. Manuskripte, Präsentationen, fixe Ideen. Ideen anderer Leute, wohlgemerkt. Ginge ich ins Detail, würde ich auf drei Kontinenten verklagt werden. Aber meine beiden Leser haben ein Recht, zumindest grob zu erfahren, was los ist.

Bisweilen ist das, womit ich beim Fernsehen arbeiten muss, so undankbar, dass ich es lieber schnell in eigenen Worten neu schreibe, als die mir zugetragenen Formulierungen zu entlausen. Irgendwann will man ja auch mal fertig werden. An besonders guten oder besonders bedenklichen Tagen stolziere ich dann durchs Arbeitszimmer, als wäre ich der oberste Showrunner von Hollywood, quasi alleinverantwortlich für die Qualität all der Qualitätsproduktionen, die die Ehre haben, vor ihrer tatsächlichen Produktion über meinen Schreibtisch wandern zu dürfen. Was würden die bloß ohne mich machen? Wie haben die das bloß vorher hinbekommen?

In Wahrheit bin ich natürlich nicht der Showrunner von Hollywood. Bevor ich die Wahrheit verrate, kann ich vielleicht doch mal ein kleines Betriebsgeheimnis ausplaudern. In jedem Buch übers Drehbuchschreiben, das sein Geld wert ist, steht der Hinweis, dass Drehbücher nicht gut geschrieben sein müssen. Diesen Satz sollte man dreimal unterstreichen, denn es ist der wichtigste in diesen Büchern. Steht er nicht drin, oder sollte gar das Gegenteil behauptet werden: Buch sofort wegschmeißen, weil nicht praxistauglich. Als Fernsehautor muss man nicht für fünf Pfennig schreiben können. Für geschliffene Dialoge, spürbare Emotionen und dynamische Action kann man später eine anonyme Schreibkraft wie mich pro Wort bezahlen. Die Entscheider, auf deren Schreibtischen oder Bildschirmen die Drehbücher mit ein wenig Glück landen, würden guten Stil nicht erkennen, wenn er ihnen schnurrend um die nackten Beine strich. Eines aber erkennen die sehr wohl: interessante Figuren, knackige Plots, sinnvolle Weltentwürfe, gute Ideen. Die sehen die kleinste Unstimmigkeit auf hundert Meter Entfernung (oder mehr, ich weiß es nicht genau). Und weil es das ist, was sie interessiert, ist es auch das, was einen erfolgreichen Fernsehautor ausmacht. Alles andere kann der vernachlässigen. Keiner weiß genau, wie viele Shakespeare gewesen sind und wer da was gemacht hat, aber eines ist gewiss: Romeo und Julia wurde ein Hit wegen ‚Junge trifft Mädchen gegen Willen der Elternhäuser‘, nicht wegen „es war die Nachtigall“ (zu Shakespeares Zeiten gab es selbstverständlich noch nicht so viele Sender).

Um das, was ich beim Fernsehen mache, zu veranschaulichen, möchte ich ein Gleichnis aus Lego bauen. Und zwar Emmas und Ethans Café von Lego Friends, einer Produktreihe, mit der Kinder spielerisch an ihre Zukunft als Hipster herangeführt werden. Wir hatten es unserer Tochter Hana zum fünften Geburtstag geschenkt, obwohl es erst ab sechs empfohlen ist. Wie alle Eltern halten wir unser Kind für hochbegabt.

Hana hatte bereits Olivias Bus (Olivia ist die mit der Brille, also die Wissenschaftlerin) aus derselben Reihe, und obwohl beim mehrtägigen Zusammenbau mitunter die Nerven blank lagen (Genies neigen zur Ungeduld), bekundete sie Interesse daran, tiefer ins Lego-Friends-Universum vorzustoßen. An das Café machten sie und ich uns wieder gemeinsam, es dauerte ungefähr drei Tage. Letztendlich war ich es, der die wesentlichen Komponenten zusammengebaut hatte, während Hana hinterher Aufkleber aufklebte und die Blumen dranmachte.

Und dann stolzierte sie durchs Wohnzimmer, als hätte sie das ganze Café gebaut. Da wurde mir bewusst: Genau so ist das Verhältnis zwischen mir aufgeplusterten jungen Gockel und erfahrenen Fernsehautoren: Die können ein ganzes Lego-Friends-Café mit verschlossenen Augen in fünf Minuten zusammenbauen. Ich hingegen mach hinterher nur die Blumen ran, uriniere vom Balkon (weil ich es kann, irgendwer wird’s schon wegmachen) und brülle in die Nacht: „Wo ist mein verdammter Primetime Emmy?!“

Sobald ich mich wieder beruhigt habe, arbeite ich heimlich weiter an meinem eigenen Lego-Friends-Café. Aber bis das Geld abwirft, werde ich noch an einigen Lego-Friends-Cafés anderer die Blumen dranmachen. Sinnbildlich gesprochen.

Lesebändchen gegen Nazis

Als ich Ende letzten Jahres kurz in Deutschland weilte, um dem dortigen Buchhandel ein segenreiches Q4 zu bescheren, erschrak ich über mich selbst. Und zwar als ich feststellte, dass es mir beim Bücherkauf offenbar ein Kriterium geworden war, ob ein Buch ein Lesebändchen hatte oder nicht. Dabei mokiere ich mich seit Jahren über die Sammellämmer im Filmbereich, denen Inhalte längst egal geworden sind, solange sie nur in limitierten und nummerierten Blechboxen geliefert werden. Bin ich etwa genauso ein oberflächlicher Ausstattungsfetischist geworden?

Nein, Quatsch mit Soße, ich bin nur ein faules Stück. Liege ich erst darnieder und habe eine neue Lektüre begonnen, möchte ich mich nicht mehr damit auseinandersetzen, woher ich das nächste Lesezeichen bekomme. Hätte ich mir auch vorher drüber Gedanken machen können, aber so viel Vorausplanung ist ja nun auch wieder spießig wie Bausparvertrag. Früher nahm ich häufig Flugblätter für Jugendtanzveranstaltungen oder Eintrittskarten für ebensolche zur Hand. Die lagen überall rum, man musste nicht großartig seine Position verändern, um sich ein Exemplar zu angeln. Heute habe ich sowas nicht mehr schnell zur Hand, warum wohl. Eine Zeit lang versuchte ich es mit Postkarten, denn die hat man immer. Das Tanzen und das Briefeschreiben mag man sich abgewöhnen, aber eine gepflegte Postkartenkorrespondenz gehört sich bis ins hohe Alter. Als Lesezeichen sind Postkarten derweil ungeeignet. Sie fallen stets heraus, es liegt in ihrer Natur. Sie begnügen sich nicht mit dem Schicksal, im Dunkeln eingeklemmt zu sein, es zieht sie hinaus in die Welt, zu Empfängern und Empfängerinnen.

Bei Lesebändchen fällt mir immer ein: Ich hatte einmal einen Freund, der stand politisch so weit rechts von mir, dass es einem schon mal unangenehm sein konnte, aber demokratisch noch vertretbar war. Das muss eine Demokratie aushalten können, mag ich mir gedacht haben. Weitergedacht: Was eine Demokratie aushält, muss eine Freundschaft erst recht aushalten, wir sind ja nicht mehr im Kindergarten. Mit diesem Freund (es handelte sich übrigens nicht um Nazi-Jürgen) konnte man, man mag es sich denken, über vieles nicht reden, ohne innerlich zu schäumen (äußerlich schäume ich ungern). Über eines allerdings konnte man sich vortrefflich mit ihm austauschen: über Bücher. Bei allen Unterschieden war uns gemein, dass wir es befremdlich fanden, wie viele Menschen ausschließlich das lesen mochten, was ihnen nach der Schnauze geschrieben war. Wie soll man denn je etwas von der Welt erfahren, wenn man immer nur das zu hören bekommt, was man schon weiß?

Aber ich schweife ab, womöglich verführt vom Lesebändchen, diesem lustigen Schweif des geschriebenen und gedruckten Wortes. Dieser Freund jedenfalls sagte einmal, dieses oder jenes Buch (welches genau habe ich vergessen) habe ihm recht gut gefallen, „obwohl“ es auf der Spiegel-Bestseller-Liste stünde und ein Lesebändchen habe. Das fand ich interessant aber unverständlich, also fragte ich nach und bekam heraus, dass für den Freund ‚Spiegel-Bestsellerliste‘ sowie ‚Lesebändchen‘ Codes für ‚Intellektuellenscheiß‘ waren, also die Vorstufe von ‚rot-grün-versifft‘. Das fand ich erstaunlich. Unangesehen dessen, was man vom Mutterblatt halten mag, steht auf der Spiegel-Bestsellerliste ja nur, was sich gut verkauft, und das ist eher selten als oft von großer intellektueller Wucht. Auch das Lesebändchen hielt ich politisch stets für neutral. In der Tendenz vielleicht sogar ein bisschen antiintellektuell, nämlich etwas für Schmuckbücher, die eher verschenkt als gelesen werden.

Ich habe es jüngst mal überprüft, auf den Webseiten der beiden beliebtesten Naziverlage der Deutschen. Tatsächlich: Weit und breit keine Publikation mit Lesebändchen. Mag freilich sein, dass es schlicht nicht ausgewiesen wird. Doch wer sich die Mühe macht, ein Bändchen ins Buch zu kleben, der verschweigt es normalerweise nicht in den Katalogangaben.

(Bevor ich Leserbriefe von aufmerksamen und neugierigen Leserinnen bekomme, denen nicht entgangen ist, dass ich von der besagten Freundschaft in der Vergangenheitsform schreibe: Ja, sie ist nun eine verflossene. Der Ex-Freund bewegte sich schließlich über den Rand meiner Rechtstoleranz hinaus. Doch ehe ich mit ihm deswegen Schluss machen konnte, machte er wegen etwas anderem mit mir Schluss, einer unpolitischen Bagatelle. Letztendlich ist es ja gleich, wer mit wem warum Schluss gemacht hat, solange nur beide mit dem Ergebnis zufrieden sind. Selbst wenn es für uns kein Happy End im klassischen Sinne gab, plädiere ich weiterhin dafür, nicht bloß mit Typen abzuhängen, die alles ganz genauso sehen wie man selbst. Davon wird man blöd.)

Gut ist es, wenn man Sachen, von denen man meint, jemand hätte sie mal gesagt, nicht einfach so aufschreibt und vervielfältigt der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt, sondern vorher denjenigen noch mal fragt, ob er das wirklich gesagt hatte, oder ob man sich das nur eingebildet hat, quasi der Wunsch Vater des Gedankens war. Nein, ich habe nicht vor, bei meinem Ex-Freund nachzufragen, ob er das mit dem Lesebändchen und der Spiegel-Bestsellerliste wirklich gesagt hat, dafür sind die Verhältnisse wohl zu zerrüttet. Allerdings hätte ich, als ich Matjes mit Wasabi schrieb, meine Frau ruhig noch mal fragen können, ob sie wirklich jemals gesagt hatte, dass Japaner ihre leeren Milchtüten auswaschen, aufklappen, zum Trocknen an die Leine hängen und schließlich bügeln, bevor sie in den Müll wandern. Hätte sie nie gesagt und entspräche auch nicht der Wahrheit, behauptete sie, als das Buch bereits erschienen war. Aber jemand musste es gesagt haben, ich denke mir doch so etwas nicht aus. Ich wünschte, ich könnte. (Gewaschen und aufgeklappt werden die Milchtüten freilich schon, getrocknet ebenso, wenngleich nicht zwingend an der Wäscheleine. Nur das mit den Bügeln ist wohl nicht ganz so landesüblich, wie ich im Buch den Eindruck vermittelt hatte.)

Heute habe ich gut daran getan, als ich meine Frau fragte: „Es stimmt doch, dass es in Japan keine Lesebändchen gibt?“

„Klar gibt es die. In so gut wie jedem gebundenen Buch. Wieso sollte es die nicht geben?“

„Weiß ich nicht. Hast du mal gesagt.“

„Habe ich ganz bestimmt nicht.“

Vermutlich hat sie recht. Das bringt mich ein bisschen in die Bredouille, denn die Sensationsmeldung „In Japan gibt es keine Lesebändchen! In Japan gibt es keine Lesebändchen! In Japan gibt es keine Lesebändchen!“ sollte eigentlich der hauptsächliche Aufhänger dieses Textes werden.

Dann muss ich mir eben etwas anderes suchen, vielleicht mal den Blick über den Tellerrand werfen, zum Beispiel nach England und Amerika. Da gibt es wirklich keine Lesebändchen, das kann ich anhand der eigenen Bibliothek empirisch nachweisen. Japanische Bücher habe ich nur wenige, schließlich möchte man Bücher möglichst zu Lebzeiten durchbekommen. Englische Bücher hingegen habe ich jede Menge. Nicht mal die geschuberten, farbig illustrierten, auf Büttenpapier gedruckt und mundgebundenen Prachtexemplare, die ich mir in dem elitären britischen Buchklub kaufen musste, dem ich in den Neunzigern mal auf den Leim gegangen war, haben Lesebändchen.

Eine gute Sitte der amerikanischen Buchproduktion hingegen ist es, hinten drin die Type beim Namen zu nennen, in der das Buch gesetzt wurde, inklusive der Begründung, warum das eine gute Type ist. Das hätte ich auch gerne in meinen Büchern, aber ich habe mich noch nicht getraut, danach zu fragen. Im deutschsprachigen Raum ist mir das bisher nur bei Christian Kracht untergekommen, meine ich. Der kann das wahrscheinlich einfach anordnen, sonst sucht er sich ratzfatz einen anderen Verlag. (Ich mag mich gänzlich irren, ich finde aktuell kein Beispiel in meiner Kracht-Bibliothek. Vielleicht spielt mir meine Erinnerung Streiche, weil Kracht einfach der Typ für so was scheint.)

Den Typenhinweis kann man gut oder überflüssig finden, für allzu leidenschaftliche Grabenkämpfe taugt er nicht. Anders ist das bei einer anderen amerikanischen Buchbesonderheit, dem rauen Buchschnitt. Da steht dann in deutschen Amazon-Rezensionen gerne mal: „Achtung, Kundenverarsche!!! Das Buch kam dreimal kaputt an – schade, dass man bei den Rezessionen hier nicht NULL Sterne geben kann!!!!“

Ich fand den rauen Buchschnitt (technische Hintergründe gerne auf Wikipedia) erst doof, dann gut. So geht einem das ja manchmal, wenn man erfahren muss, dass das, was man für einen Makel hielt, in Wirklichkeit eine Zierde ist. Heute zahle ich sogar eine oder zwei Mark mehr, wenn ich eine attraktive Novität grob anstatt fein geschnitten erwerben kann.

Rauschnitt und Lesebändchen in einem einzigen Buch – das wäre das höchste der Gefühle. Lesebändchen gibt es aber in Amerika nicht und rauen Buchschnitt nur dort. Nur ein Grund von vielen, die Globalisierung gut gelaunt voranzutreiben.

Gegendarstellung (oder: Auch das noch!)

Beim neuerlichen Schlendern durch den anglofonen Flügel meiner Bibliothek fand ich doch ein englisches Buch mit Lesebändchen, die britische Hardcover-Ausgabe von John Irvings The Fourth Hand. (Übrigens ein zermürbend unterschätzter Irving. Ein notwendiger, erfrischender Befreiungsschlag, nachdem Irving in den vielen Jahren nach Garp (n. G.) nur noch Garp-Variationen geschrieben hatte, zugegebenermaßen auf oft hohem Niveau, wodurch sich die widerliche Formulierung „ein typischer Irving“ etablierte, Kompliment und Watschen zugleich. Aber das nur am Rande. Gott bewahre, dass wir hier über Inhalte sprechen. Es geht schließlich um Bücher.)

Bricht nun meine ganze Rede zusammen wie ein Kartenhaus, nackt im Wind, der planlos tötet? Weiß ich nicht. Vielleicht gibt es drüben doch manchmal Lesebändchen, und vielleicht schneidet auch so mancher deutsche Nischenverlag seine Liebhaberausgaben rau. Aber in der Tendenz habe ich recht. Ganz falsch liege ich nicht. Wahrscheinlich. Möglich ist es.

Es lebe die Alte-Herren-Fantasie (und zwar möglichst intensiv)

Ich möchte mir einmal mehr Luft machen, damit es mir hinterher besser geht. Wieder geht es um inflationär wie undurchdacht herausposaunte Formulierungen, die mich schon lange um den Verstand bringen. Und wenn schon nicht um den Verstand, dann doch an den Rand des Nervenzusammenbruchs. Und wenn selbst das nicht, dann gehen sie mir doch gehörig auf den Senkel. Das kann man so stehen lassen.

Es sind heute nur zwei, damit der Text nicht wieder so lang wird. Ich habe schließlich auch noch etwas anderes zu tun, nur falls sich jemand wundert. Die erste Formulierung ist ein Begriff, der immer dann ins Feld geführt wird, wenn ein Schriftsteller mit grauen Haaren und schrumpeligen Fingern es mal wieder geschafft hat, seinen Lebensumständen ein neues Buch abzutrotzen. Besonders wenn er es wagt, ein bisschen aus dem Hosenlatz heraus zu plaudern, kommt er: der Vorwurf der Alte-Herren-Fantasie.

Dabei fällt mir stets der oft arg ungerechte und uneinsichtige, im Großen und Ganzen aber ganz wunderbare Marcel Reich-Ranicki ein. Nicht weil er viele Jahrzehnte so ein fantasievoller alter Herr gewesen wäre (an Fantasie gerade mangelte es ihm häufig, aber Schwamm drüber, das ist verjährt), sondern wegen Hitler. Konfrontiert mit dem merkwürdigen Lamento, Adolf Hitler würde in der erzählenden Kunst zunehmend „als Mensch“ dargestellt werden, konterte er (sinngemäß): „Als was soll man ihn denn sonst darstellen? Als Elefant?“

Ich möchte mir hier die Ranicki-Methode aneignen und zu den Büchern alter Herren sagen: „Was soll in denen denn sonst drinstehen? Kleine-Mädchen-Fantasien?“

Ich finde es gut, wenn alte Herren noch Fantasien haben, und es würde mich wundern, wenn das Junge-Männer-Fantasien oder Frauen-in-den-besten-Jahren-Fantasien wären. Hat halt jede Demografie ihre eigenen Fantasien. Ist eine weniger wert als die andere? Ist das Ageismus gepaart mit Sexismus? Wem die Fantasien alter Herren zuwider sind, der muss sie nicht lesen (wenn man der passive Typ ist) oder kann ihnen literarisch etwas entgegensetzen (wenn man der aktive Typ ist). Sie jedoch pauschal zu denunzieren ist plump (viel plumper als die besagten Fantasien selbst), unliterarisch, antiintellektuell, diskriminierend. Schlechtmenschen arbeiten so.

Das andere Ding: die Sache mit dem intensiven Leben. Wahrlich nicht zum ersten Mal, gleichwohl unlängst schon wieder, las ich über einen früh verstorbenen Schriftsteller, er habe zumindest „intensiv gelebt“. Gemeint war, dass er gegenüber allerlei Rauscherfahrungen kaum Berührungsängste hatte.

Ich behaupte: Das Leben passiert einfach so, solange man nicht gerade tot oder ungezeugt ist. Unterschiedliche Intensitäten gibt es dabei nicht. Die gibt es allenfalls bei bestimmten Tätigkeiten und Wahrnehmungen; hochrechnen auf das Leben an sich lassen sie sich nicht. In den Zoo gehen ist nicht per se weniger intensiv als zu Hause bleiben und schnackseln. Kommt drauf an, was man daraus macht und wie sehr man sich für Tiere interessiert (bezüglich Zoo). Kaffeetrinken muss kein geringeres Erlebnis sein, als sich LSD auf der Zunge zergehen zu lassen. Die weitgehend nüchtern gewonnenen Eindrücke im Café und auf der Straße davor können langfristig interessanter sein, und die Wahrscheinlichkeit, dass da wirklich gewesen ist, was man glaubt wahrgenommen zu haben, ist ungleich größer.

Besagter Schriftsteller ist am Ende seines kurzen Lebens ertrunken. Ich könnte mich darauf einigen zu sagen, er sei „intensiv gestorben“. Wahrscheinlich intensiver als ein alter Herr, dem man auf der Pflegestation den Stecker rauszieht, weil man seine Fantasien nicht mehr erträgt. Könnte mir allerdings vorstellen, dass beide zuvor ungefähr gleich intensiv gelebt haben. Nur einer eben länger. Glück gehabt.

Mir geht es jedenfalls schon wieder besser, vielen Dank.

Das Glück gibt’s nicht in Wundertüten (nicht der Titel meines kommenden Schlageralbums)

Das Schöne am japanischen Neujahrsfest ist, dass tagelang alles stillsteht und nichts aufhat. Wenn man den Heimaturlaub so koordiniert, dass man direkt von den deutschen Weihnachtsfeiertagen ins japanische Neujahr schlittert, hat man knapp zwei Wochen süßen, zwangsverordneten Nichtstuns. Zeit für Andacht, Schnaps, Lego-Friends-Wohnmobile zusammenbauen, und dann gleich wieder Schnaps.

So richtig stimmt es natürlich auch nicht, dass in Japan dieser Tage gar nichts aufhat. Schließlich müssen die traditionellen Neujahrswundertüten verkauft werden, international bekannt als Lucky Bags. Also Beutel mit Überraschungsqualitätsprodukten zu Schnäppchenpreisen. Ich wollte dieses Jahr unbedingt die von meinem bevorzugten Büromaterialienhändler Smith/Delfonics haben, denn ich hatte von Leuten gehört, die von Leuten gehört hatten, dass diese Lucky Bags sich besonders lohnten. Ganz genau konnte es keiner sagen, denn keiner hatte je eine abbekommen.

Ich auch nicht. An zwei verschiedenen Tagen habe ich es versucht, Pustekuchen. In den Schnickschnackgeschäften Loft und Tokyu Hands versuchte ich mein Glück ebenfalls, dort wurden die Tüten allerdings nur in Abteilungen angeboten, die mich nicht interessierten. Die Wein-Beutel diverser Luxussupermärkte lockten mich, doch ich widerstand. Die Preise waren gut für japanische Verhältnisse, aber im internationalen Vergleich nach wie vor nicht tragbar. Besonders wenn man gerade aus dem Billigweinland Deutschland zurückgekehrt ist.

Heute Morgen hatte es dann doch noch geklappt mit dem Tütenerwerb, in der internationalen Kinokuniya-Buchandlung in Shinjuku. Die hatte ich fast vergessen. Obwohl, wie könnte ich sie jemals vergessen?

(Ich weiß, dass ich gar nicht so heiße. Der Fehler wurde allerdings inzwischen nach einem anonymen Tipp meiner Frau korrigiert.)

Ich hatte am Morgen extra einen kleineren Kaffee als sonst getrunken, um Punkt 10 auf der Rolltreppe zu sein. Ich griff mir gleich vier Tüten: Literature, Japanese Literature, Sci-Fi Fantasy und Mysteries. Kürzer gesagt ließ ich nur zwei Tüten stehen: Self-Help und Love Stories. Bislang ist mir kein gewohnheitsmäßiger Leser von Selbsthilfebüchern untergekommen, der ein überzeugendes Plädoyer für deren Wirksamkeit gewesen wäre. Zum sogenannten Romance-Genre war ich stets um dieselbe Offenheit bemüht, die ich von anderen gegenüber der Kriminalliteratur einfordere. Hat langfristig aber nicht geklappt. Zuletzt las ich einen Romantiktitel an, der selbst im gefürchteten Feuilleton einer amerikanischen Edeltageszeitung lobend besprochen worden war. Im begleitenden Interview mit der sympathischen Autorin hatte diese ein paar durchaus vernünftige Dinge gesagt.

Herrschaftszeiten, mein ganzes Leben habe ich kein Buch so schnell zurückgehen lassen. Wenn das das Sahnehäubchen des Genres war, wollte ich mich mit den Krümeln gar nicht erst befassen. Für mich bitte keine Liebesgeschichten mehr, vielen Dank.

Selbst wenn ich auch die verschmähten Tüten zur Kasse geschleppt hätte, ich hätte sie wieder zurückgelegt. Denn die freundliche Verkäuferin erklärte mir, dass es ihr sehr leidtäte, aber: nur eine Tüte pro Nase.

Ich wurde zweimal puterrot vor Zorn. Zuerst wegen dieser kleinlichen Regel (Es sind doch sechs Kategorien! Sechs Tüten pro Nase würde ich ja noch verstehen!), dann wegen mir selbst. War ich etwa zu einem raffgierigen Black-Cyber-Friday-Geiz-ist-geil-Schnäppchenjäger geworden?

Ich behielt lediglich die Sci-Fi-Fantasy-Tüte, weil ich in diesen Gattungen am meisten Hilfe benötige. Ich habe schon versucht, mir selbst zu helfen, jedoch nur mit mäßigem Erfolg. Vielleicht aus altersbedingter Rührseligkeit würde ich gerne mal wieder diese Genres meiner Kindheit lesen, allerdings finde ich da nüscht. Zumindest in der Science-Fiction; in der Fantasy hat mir zuletzt doch einiges gefallen. Lian Hearn, V. E. Schwab, Fonda Lee. Ich weiß gar nicht, ob überhaupt noch Männer Fantasy schreiben. Wäre mir auch egal.

Nun sagt sich der gewiefte Japan-Kenner: „Wie kann das denn angehen, dass der Laden seine Kunden mit einer Tüte durch die Straßen laufen lässt, an der dick und fett ein Schild hängt, auf dem steht, was drin ist? Wo doch sonst sogar einzelne Bücher gleich an der Kasse mit einem neutralen Umschlag verkleidet werden.“

Raffinierter Trick: Die flinken Finger des Personals drehen das Schild einfach um:

Im Beutel war ein weiterer Beutel:

Sowie diese Bücher:

Leider fehlte mir heute Mittag die Zeit, alle Bücher zu lesen, deshalb hier nur kurz meine Erwartungen, Ängste und Hoffnungen:

Artemis von Andy Weir: Gutes drüber gehört, weiß nicht mehr genau was. Von der Verfilmung eines anderen Buches desselben Autors, Der Marsianer, ist mir positiv in Erinnerung geblieben, dass darin derselbe Ikea-Teddy vorkommt, den meine Tochter doppelt hat. Wenn Hollywood weder Kosten noch Mühen scheut, dann ist das Ergebnis reine Magie.

A Knight of the Seven Kingdoms von George R.R. Martin. Sympathischer Typ, dieser Martin, mit seinem Hut, seinem Bauch und seiner lässigen Einstellung zu Abgabeterminen. Mit A Game of Thrones bin ich allerdings nie warm geworden, in keinem Medium. Vor knapp drei Jahren nicht und später ebenfalls nicht. Ich habe offiziell aufgegeben.

The Godwhale von TJ Bass. Erster Satz des Klappentextes: Rorqual Maru was a cyborg – part organic whale, part mechanised ship – and part god. So fühlt sich sicherlich jeder mal. Gekauft. Geht ja nun auch nicht mehr anders.

The Three-Body Problem von Cixin Liu. Das habe ich natürlich schon auf Deutsch gelesen, hinterm Mond lebe ich schließlich nicht. Die große Ausnahme bei meinen fruchtlosen Versuchen, mich wieder mit der Science-Fiction anzufreunden. Ich fand es allerdings nicht nur einfach großartig, sondern auf so viele verschiedene Arten großartig, dass ich mich fast ein bisschen sträube, es als Science-Fiction zu bezeichnen. Huch, dass ich mich mal so Science-Fiction-feindlich äußern könnte, hätte ich selbst nicht gedacht.

The Grace of Kings von Ken Liu sagt mir nichts, aber dafür sind Wundertüten ja da. Mir ist nicht entgangen, dass dieser Autor auch der Übersetzer des zuvor genannten Buches ist. Ulkiger Zufall oder ein kompetenter Tütenpacker mit verschmitztem Witz?

Children of Time von Adrian Tchaikowsky. Das Lob von Peter F. Hamilton auf dem Cover lässt mich befürchten, dass es sich hierbei um die Art von Science-Fiction handelt, in der detailliert beschrieben wird, wie genau die Antriebe all der Raumschiffe funktionieren, die da so rumfliegen. Das interessiert mich eher nicht die Bohne. Bei Science-Fiction interessieren mich vor allem gesellschaftspolitische Spekulationen und Schießereien mit Laserpistolen.

Saint Odd von Dean Koontz, dem alten Schweden. Seit es Netflix gibt, habe ich den Film Odd Thomas auf meiner Guckliste, nur leider guckt man nie die Filme von seiner Guckliste. Koontz jedenfalls war mir stets so etwas wie ein minderer Stephen King, was nicht ganz so böse gemeint ist, wie es vielleicht klingt. Manchmal mag man schließlich Corman lieber als Fellini.

Letztendlich bin ich sehr zufrieden mit meiner Wundertüte und finde es auch nicht mehr schlimm, dass ich die anderen drei nicht kaufen durfte. Dadurch hatte ich noch genügend Bares, um im Gemischtwarenladen in die Krankenkasse einzuzahlen, was ich um ein Haar vergessen hätte. Darüber sollte mal jemand ein Selbsthilfebuch schreiben, dass man das nicht immer vergisst. Würde ich aber wahrscheinlich nicht lesen.

Ich öffne im Traum David Bowies Nassrasiererverpackung und esse in echt Salat mit jemand anderem

Ich habe letzte Nacht nichts versäumt, denn ich habe nur von David Bowie geträumt. Wir fuhren auf einem Kreuzfahrtschiff und kamen ins Gespräch, als wir im Rasiererladen an Bord dasselbe Modell von Nassrasierer kauften. Wir hatten beiden Schwierigkeiten, die unglücklich gestaltete Designerverpackung zu öffnen. Ich bekam den Trick schließlich heraus, wir rasierten uns gemeinsam im öffentlichen Puderzimmer des Schiffes.

Wohin die Reise ging? Wer weiß das schon, im Leben wie im Traum.

Den Bowieisten der Welt hingegen brennt eine ganz andere Frage unter den Nägeln: „Welcher Bowie war es denn?! Er war ja ein Mann der tausend Masken, ein Chamäleon gar!“

Sage ich: „Quatsch mit Soße, Chamäleon! Er war eher das Anti-Chamäleon! Das Schuppenkriechtier aus der Familie der Leguanartigen ist bekannt dafür, dass es die Farbe seiner Umwelt annimmt. Bei David Bowie hingegen war es umgekehrt: Die Welt nahm stets die Farbe an, die er trug.“

Aber um die Frage zu beantworten: Es war circa der Bowie von hours, seinem besten Album.

Der Bowie um die Jahrtausendwende ist mir der Liebste. Da hatte er den Firlefanz der frühen Jahre ebenso fahren lassen wie die Gefallsucht des 80er-Jahre-Comebacks und sich verhältnismäßig ungeschminkt stärker auf die Musik als auf die Inszenierung konzentriert. Nun rufen die medienwissenschaftlich studierten Inszenierungsexperten: „Reingefallen! Das war doch auch nur eine Inszenierung!“ Sollen sie rufen, sie haben ja sonst nichts.

Ich möchte wohlgemerkt kein Bowie-Phasen-Bashing betreiben. Alle Bowie-Phasen beinhalteten großartige Einzelleistungen, sogar die allseits überschätzte Berlin-Phase. Okay, da hat sich jetzt doch ein kleines Bowie-Phasen-Bashing eingeschlichen.

Das Album hours wurde seinerzeit von den wohlwollenderen Kritikern als gediegenes Alterswerk eingeordnet. Das Dilemma mit Bowie und meiner Generation war stets, dass wir ihn von Anfang an für „alt“ hielten (ohne es notwendigerweise böse zu meinen) und eines Tages ganz plötzlich für „viel zu jung von uns gegangen“. Er konnte es uns einfach nicht recht machen, dieser David Bowie. Im Leben nicht, und im Tode nicht.

Der Traum mit David Bowie erinnert mich an einen weitaus früheren Traum, den ich einmal träumte. Darin gründete ich mit Don DeLillo und Harvey Keitel eine Zeitschrift für Videospiele und postmoderne Literatur. Warum Harvey Keitel? Ist er ein Experte für NextGen-Konsolen? Ach, es waren die 90er, da spielte Harvey Keitel einfach überall mit.

Um einem falschen Eindruck entgegenzuwirken: Ich träume relativ selten von Prominenten. Ebenso selten begegne ich welchen. Manchmal aber schon. Einmal zum Beispiel teilte ich mir einen Fahrstuhl mit der berühmten Wettesserin Gal Sone.

Es war im Gebäude des Kindergartens meiner Tochter. Womöglich wollte sie ihr Kind dort ebenfalls einschreiben. Entweder hat sie es sich anders überlegt, oder sie überlässt das Holen und Bringen ihrem Personal, jedenfalls blieb es bei dieser einen Begegnung. Sie hat sich damals im Fahrstuhl weder danebenbenommen, noch war sie außerordentlich kommunikativ, falls es jemanden interessiert.

Manchmal treffe ich Prominente und merke es nicht, beziehungsweise man sagt es mir erst hinterher. Kürzlich war ich essen mit einer japanischen Schriftstellerin. Ihr Manager hatte uns zusammengebracht, zwecks einer eventuellen Zusammenarbeit.

Obwohl ich der japanischen Schriftstellerei zugeneigt bin, hatte ich von der betreffenden Dame noch nie gehört. Während des Gesprächs wurde allerdings deutlich, dass sie schon einiges geleistet hatte. Abends sagte ich dann zu meiner Frau: „Ich glaube, die ist semi-berühmt.“

Als ich ihr den Namen nannte, staunte sie nicht schlecht und rief: „Die ist sogar sehr berühmt!“

Ich wiegelte ab: „Wenn du und ich jemanden kennen, heißt das nicht, dass der berühmt ist. Berühmt ist jemand, den, zum Beispiel, unsere Eltern kennen.“

„Meine Mutter kennt die, jede Wette!“

Ein kurzer Kontrollanruf bestätigte: Mutter Katayama kannte sie und ist nun einigermaßen erleichtert, dass ihr Schwiegersohn es vielleicht doch noch zu was bringt.

Mit dem Wissen, dass meine Lunch-Verabredung recht prominent ist, bekommt die Begegnung natürlich gleich eine ganz andere Qualität. Wissen Sie was? Sie hat Salat bestellt! Und wissen Sie was noch? Sie hat ihn zurückgehen lassen, wegen Nüssen!

Und merken Sie, was nun in Ihrem Kopf passiert? Dort kombinieren Sie ‚prominent‘ und ‚Salat zurückgehen lassen‘ zu: „So eine elitäre, privilegierte Mega-Bitch!“ Es war aber gar nicht so. Sie hat den Salat sehr nett zurückgehen lassen und überhaupt sehr viel und vertraut mit der Bedienung geschnattert, man kannte und schätzte sich wohl. Eine Allergie ist ja auch nicht immer bloß eine Allüre.

Und merken Sie, was außerdem passiert ist? Jetzt habe ich ganz beiläufig einfließen lassen, dass ich eventuell (die Wahrscheinlichkeit verdichtet sich) mit einer berühmten Schriftstellerin zusammenarbeiten werde. Da habe ich maßlos übertrieben. Meinerseits wird es eher ein weitgehend anonymes Zuarbeiten sein. Nichtsdestotrotz freue ich mich sehr. Leider muss ich wegen Knebelverträgen vorerst Stillschweigen bewahren. Das tue ich hiermit.

Wider ein Leben mit dem Senfglas

Letztes Jahr um diese Zeit wollten wir mal was ganz Verrücktes und total Japanisches machen, also haben wir eine Beaujolais-Party gefeiert. Es sollte natürlich eine ironische Beaujolais-Party werden, denn wir wussten ja, dass Beaujolais nouveau total eklig ist. Wir wussten es freilich nicht aus eigener Erfahrung, sondern hatten unkritisch die Vorurteile übernommen, die in besseren Kreisen bei diesem Reizthema zum guten Ton gehören. Alle Welt macht sich lustig darüber, dass Japan den jungen Wein jedes Jahr in großen Mengen aufkauft, und die Franzosen, so hört man, sind froh, dass sie das Gesöff los sind. Doch was soll ich sagen? Uns hat es so gut geschmeckt, dass wir dieses Jahr schon wieder eine Beaujolais-Party gefeiert haben. Diesmal in echt, ohne Ironie. Die Kritik, Beaujolais nouveau schmecke wie Obstsaft mit Alkohol, ist zwar sachlich nachzuvollziehen. Ich verstehe nur nicht, wo darin die Kritik liegt. Obstsaft ist lecker, und Alkohol kann, gewissenhaft genossen, auch mal ganz lustig sein.

Die ungeprüften Vorurteile gegenüber Beaujolais erinnern mich an den strunzdummen Merlot-Hass, der kurz nach der mäßigen amerikanischen Kinoklamotte Sideways grassierte. In der Filmhandlung überredet der eine Tunichtgut den anderen Tunichtgut zu einer Doppelverabredung mit zwei Damen, woraufhin der nur bedingt überredete Tunichtgut die Bedingung stellt: „Aber wenn sie Merlot bestellen, gehen wir!“

Man nagele mich nicht auf die I-Tüpfelchen-Genauigkeit des Wortlauts fest, es ist eine Weile her. Es ist mir trotzdem sinngemäß hängengeblieben, weil es lustig ist.

Mehr ist es derweil nicht. Ein flotter Spruch einer ausgedachten Figur in einer ausgedachten Geschichte. Daraus muss man keine Konsequenzen für das eigene Leben ziehen. Und trotzdem behaupteten plötzlich Hinz und Kunz, etwas gegen Merlot zu haben. So ein Unsinn. Merlot. Darüber haben sich Hinz und Kunz vor Sideways nie irgendwelche Gedanken gemacht. Wozu denn auch. Ist halt eine Traube. Daraus gärt man Traubensaft mit Alkohol, der wird mal so, mal so, wie bei anderen Trauben auch. Behauptet jemand, Merlot ganz generell zu verachten, plappert er mit großer Wahrscheinlichkeit nur etwas nach, was mal ein abgehalfterter Alkoholiker in einer amerikanischen Komödie gesagt hat.

Mit Amerika und Wein ist das ja eh so eine Sache. Ich spreche nicht vom amerikanischen Wein, der ist mitunter ganz gut, sondern von der amerikanischen Weinetikette. Zumindest die, die man aus dem Fernsehen kennt. Fast niemand im amerikanischen Fernsehen weiß, wie man ein Weinglas hält. Nicht mal im Weißen Haus, inzwischen Pflichtschauplatz in so ziemlich jeder einigermaßen aktuellen US-Serie, weiß man das. Was glauben diese Menschen denn, wozu der Stiel am Glas da ist?

Schlimmste Sünderin ist Olivia Pope, Hauptfigur der Serie Scandal. Ein kurzer weinseliger Exkurs: Ich liebe diese Serie aus dem gleichen Grund, aus dem ich die Saw- und die Fast-&-Furious-Filme liebe: Wegen des völlig ungehemmten Storytellings. Wo ich schon entgegen meiner Überzeugung unnötigen Anglizismen Tür und Tor öffne (der Alkohol), packe ich gleich noch einen oben drauf und gebe dieser Storytelling-Technik einen vollmundigen Titel; und zwar nenne ich sie den ‚We make it up as we go along‘-Ansatz. Das gänzlich schamlose Verheddern und Voranpeitschen der Plots hat zur Folge, dass die Serien kaum noch etwas mit ihren ursprünglichen Konzepten zu tun haben, und das ist gut so. Fast & Furious wurde erst sehenswert, als man endlich aufhörte so zu tun, als ginge es in diesen Filmen um illegale Autorennen. Scandal ist schon lange keine episodenhafte Serie mehr über eine Gruppe von Rechtsexperten, die Woche für Woche einem anderen Klienten aus der Bredouille helfen, sondern ganz großes amerikanisches Theater, eine Art Mischung aus The Blacklist und House of Cards, nur auf Speed.

Saw handelt zugegebenermaßen immer noch von einem kranken alten Mann, der seine schlechte Laune an anderen auslässt. Allerdings wurde inzwischen durch das fröhliche Rückblendenbombardement der Fortsetzungen so vieles relativiert, dass an den ersten Filmen eigentlich gar nichts mehr stimmt. Saw und Fast & Furious sind so etwas wie der Beaujolais und der Merlot unter den amerikanischen Filmserien. Kritisiert werden sie meist von denen, die zu der Materie gar keinen nennenswerten Bezug haben.

Doch zurück zu Olivia Pope und ihrem Weinproblem. Ich habe die Figur von Anfang an nicht gemocht; sie ist weinerlich, selbstgerecht und opportunistisch. Ich bin begeistert, dass sie in der aktuellen, finalen Staffel endlich gewissenlos über die Leichen von Frauen, Kindern und Männern geht. Ich hoffe, es folgt keine überraschende Wendung mehr, die alles wieder relativiert. Jeder soll endlich sehen, was für ein Miststück sie wirklich ist und immer gewesen ist. Aber am meisten stört mich nach wie vor die Sache mit dem Weinglas.

Im amerikanischen Fernsehen gibt es nur eine einzige Figur, die fähig ist, ein Weinglas korrekt zu halten, und die ist ausgerechnet ein Serienmörder mit Migrationshintergrund.

Kein Wunder, dass die Serie eingestellt wurde in dem gerade wieder sehr serienkillerfeindlichen politischen Klima in den USA.

Denke ich an Wein, Amerika und Manieren, dann denke ich an Max Goldt, denn er hat zu all diesen Themen gearbeitet. Weil es Max Goldt sehr daran gelegen ist, nicht ständig als Benimmonkel missverstanden zu werden, hat er einmal sinngemäß geschrieben, das ganze Weinglasgewese sei ihm herzlich schnuppe, man könne Wein genauso gut aus Senfgläsern trinken (vielleicht schrieb er gar nicht: „Senfgläser“, sondern: „Limogläser“, aber ich finde Senfgläser lustiger). Ich widerspreche Max Goldt äußerst ungern, muss es gleichwohl in diesem Fall tun. Ein guter Wein gehört in ein gutes Glas, und das will gut gehalten werden. Nein, falsch. Ich korrigiere: Ein richtiger Wein gehört in ein richtiges Glas. Ob das nun ein Glas für zehn Mark oder hundert Euro ist, ist tatsächlich herzlich schnuppe. Ein Weinglas derweil sollte es schon sein. Wer Wein (oder überhaupt irgendetwas) aus Senfgläsern trinkt, geht vermutlich auch in Trainingsanzügen aus Ballonseide aus dem Haus. Geht alles, ist vermutlich genauso warm und bequem wie richtige Kleidung. Doch schuldet man es nicht nur den Augen anderer, sondern auch seinem eigenen Körper, ihn in einen geringfügig edleren Zwirn zu hüllen. Es muss nicht haute couture sein, ein mit Bedacht gewähltes Ensemble von C&A ist zur Wahrung der Menschenwürde völlig ausreichend. Nur eben eines aus der Damen- oder Herrenabteilung, nicht aus der Sportabteilung.

Als ich mich übrigens neulich in Ermangelung anderer großer Geister der muttersprachlichen Sachprosa noch einmal durchs bisherige Gesamtwerk Max Goldts querlas, stolperte ich dabei über zwei Ausdrücke: Bundeskanzler Gerhard Schröder und PDA. Hatte ich so lange nicht mehr gehört oder gelesen, dass ich im ersten Moment gar nichts damit anfangen konnte.

Wenn man schon Max Goldt zitiert, kann man auch gleich David Byrne zitieren, der gesagt haben soll, Tischmanieren seien etwas für Leute, die sonst nichts zu tun haben. Bei Byrne wie bei Goldt scheint mir die Ablehnung von Etikette zumindest zu Teilen eine Trotzreaktion auf die eigene Etepetete-Reputation. Dabei ist es bei Etepetete wie bei der Etikette: Zu viel ist doof, aber ein gewisses Mindestmaß sollte sein. Ohne bricht vielleicht nicht gleich die ganze Zivilisation zusammen. Doch ein bisschen bröckeln und wackeln wird sie schon.

Bei Etikette und Zivilisationsverlust fällt mir ein, dass Donald Trump neulich hier in Tokio zu Besuch war. Zu unserer Beaujolais-Party war er nicht eingeladen, dennoch waren wir betroffen, denn wir mussten wegen seines Sicherheitskonvoys erhebliche Umwege bei unserem sonntäglichen Spaziergang in Kauf nehmen. Das war sehr schön, bekam ich doch endlich mal all die verschiedenen Polizeiautos auf einem Haufen zu sehen, die ich sonst nur aus meinen Romanen kenne. Eine der großen Jubelschlagzeilen in der lokalen Presse war indes die, dass Präsident Trump sich in der Gegenwart Kaiser Akihitos nicht sonderlich danebenbenommen hatte.

Ich finde, man könnte bei Staatsmännern die Messlatte für Jubelschlagzeilen ruhig etwas höher hängen. Aber ich möchte auf keinen Fall als Benimmonkel missverstanden werden.

Vier Stunden schreiben, vier Stunden Zeit ablesen, dann Feierabend

Es war schon spät geworden während meines letzten Blogeintrags zu den Unsinnsphrasen in Schriftstellerberichterstattung und Schriftstellerbefragung, da habe ich mir einen Unsinn aufgespart, den ich ursprünglich auch noch anprangern wollte. Gern hole ich heute das Versäumte nach. Es geht um des Schriftstellers Feierabend, dieses offenbar unbekannte Wesen.

In Interviews mit beruflich Schreibenden lese ich häufig Varianten der anbiedernden Servicefrage: „Ja, haben Sie denn überhaupt jemals Feierabend, Sie Ärmster?“ Es kommt selbstredend eine Variante genau der Antwort, die man hören will: „Ach, nein, ich Ärmster habe niemals Feierabend. So etwas kennt man in meiner Zunft gar nicht.“

Gemeint ist damit keineswegs, dass man jede Nacht und den ganzen Tag unermüdlich an der alten Moleskine-Schreibmaschine rattere, sondern dass – ach! – der Stoff auch dann noch erbarmungslos im Kopf rattert, wenn das Schreibgerät bereits runtergefahren ist.

Fragte mich jemand diese Unsinnsfrage (aber mich fragt ja keiner), und hätte ich meinen ehrlichen Tag, würde ich Antworten: „Logo habe ich Feierabend, so wie jeder andere Berufstätige auch. Meiner ist meist so gegen 22 Uhr.“

Bedeutet das etwa, ich stelle das Denken danach ein? Dächte gar nicht mehr an das Geschriebene und das zu Schreibende? Doch, und mitunter greife ich sogar zum Notizblock, ehe bedeutende Gedanken in Vergessenheit geraten. Feierabend ist das trotzdem. Der Bäcker denkt selbst nach der Arbeit manchmal an seine Brötchen, der Banker an seine Zahlen, der Content Manager an seine Premiuminhalte und der Schriftsteller eben an das, was seine Figuren jetzt gerade tun. Eine komplette Trennung von Arbeit-Ich und Freizeit-Ich gibt es nicht, so ist das menschliche Gehirn nicht gewunden. Das heißt nicht, dass man jedes Mal arbeitet, wenn man an Arbeit denkt.

Vielleicht sagt nun einer, der partout Mitleid haben möchte: „Na, aber immerhin: 22 Uhr ist ja schon mal ’ne beachtliche Hausnummer, mein lieber Scholli!“

Sage ich: „Das ist halb so wild, wie es sich anhört. Dafür mache ich ja am Nachmittag so gut wie gar nichts.“

Einer der Vorteile der Freiberuflichkeit ist, dass man nicht nur irgendwann Feierabend hat, sondern auch vier Stunden oder mehr Mittag machen kann.

Eine der erfrischendsten Gegendarstellungen zur angeblichen Selbstzerfleischung der Literaturarbeiter las ich unlängst in einem Aufsatz des US-Schriftstellers Gary Shteyngart. Darin schrieb er von den Freuden seines neuen Hobbys, dem Sammeln von Automatikuhren. Und ganz nebenbei ließ er das Statement vom Stapel, das man gerne mal denen unter die Nase reiben würde, die sozialmedial ständig mit der Quantität ihrer Arbeit und mit ihrer Feierabendlosigkeit prahlen: Es sei nicht sinnvoll, mehr als vier Stunden am Tag zu schreiben, länger könne man sich eh nicht gescheit konzentrieren. Danach wäre Zeit zum Uhrengucken.

Da brüllt der Sozialneider: „Ja-ha – der feine Herr US-Bestseller-Autor! Der kann sich das natürlich leisten, bloß zweimal im Jahr eine funkelnde Glosse für so ein neoliberales Gutmenschenheftchen zu ziselieren! Unsereins hingegen muss die stumpfen Serienkillerschinken im Quartalstakt auf den Markt reihern, sonst merkt noch einer, wie verzichtbar die sind!“

Ich brülle nicht, sondern klatsche hüpfend in die Hände und freue mich für Gary Shteyngart, denn er lebt den Traum. Wäre ich einmal so flüssig, dass man direkt von Überfluss sprechen könnte, würde ich das auf Zeitmanagementebene ähnlich einrichten und das überflüssige Geld ähnlich investieren. Natürlich erst mal Bildung für das Kind und Schuhe für die Dame, aber dann ab ins Herrenuhrengeschäft. Im Grunde sammle ich bereits Automatikuhren. Nur nicht die, die ich gerne sammeln würde. Angefangen hatte es selbstverständlich mit akkuraten Fälschungen aus dem asiatischen Straßenverkauf. Es kam mir dabei nie darauf an, jemanden tatsächlich im Glauben zu lassen, ich müsste mich jeden Morgen zwischen Rolex und Patek Philippe entscheiden, sondern darauf, preiswert auszuprobieren, was mir im Ernstfall gefallen würde. Eher Patek, hat sich herausgestellt, wobei es auch schöne Rolexe gibt. Wer die Rolex generell für einen Geschlechtsteilersatzklunker für Hip-Hopper und Börsianer hält, hat sich mit ihrer Modellvielfalt nie auseinandergesetzt.

Bis dieser Ernstfall allerdings eintritt, spezialisiere ich mich auf preiswertere Modelle von Hausmarken lokaler Uhrengeschäfte, wie die ‚Movement in Motion‘-Reihe der japanischen Handelskette Tic Tac.

Wahre Uhrenliebhaber sind keine Uhrensnobs, denn wahre Liebe kennt keinen Snobismus. Ein wahrer Uhrenliebhaber kann auch einer originellen Billiguhr etwas abgewinnen, und er weiß, dass der wichtigste Wert einer Uhr ihr Erinnerungswert ist; vielleicht die Erinnerung an die Menschen, die sie getragen haben, oder an die Zeiten, die sie angezeigt hat.

Markenfälschungen allerdings sollte man nicht kaufen (ich leiste hiermit Abbitte für frühere Sünden). Nicht, weil es den Marken schadet. Die Zahl der Fälschungsträger, die sich ein Original kaufen würden, wären keine Fälschungen im Umlauf, ist so gering, dass sie statistisch nicht relevant ist. Man sollte Markenfälschungen nicht kaufen, weil sie unter Arbeitsbedingungen entstehen, gegen die jeder Primark-Sweatshop ein Wellness-Salon ist.

Wahre Liebe mag keinen Snobismus kennen, doch macht wahre Liebe mitunter herrlich weltfremd. Ein etwas besser betuchter Uhrenliebhaber, mit dem ich sozialmedial verbandelt bin, schrieb einmal diesen wunderschönen Satz ins soziale Netzwerk, als er von einem neuen Fund berichtete: „Das ist eine Uhr, die sich wirklich jeder leisten kann – wie eine Rolex.“

Ein bisschen übers Ohr gehauen wurde ich bei meinem letzten Uhrenkauf. Halb haute es mich, halb haute ich mich selbst. Ich ließ mich zu einem Crowdfunding von handgemachten sogenannten Luxusuhren hinreißen. Dabei hatte ich zuvor bereits eher mäßige Erfahrungen mit Crowdfunding gemacht. Drei Filmprojekten und einer Musik-CD-Aufnahme hatte ich mich finanziell zur Verfügung gestellt. Richtig gefallen hat mir davon nur die CD. Gerechterweise muss man sagen, dass zwei der drei Filme gar nicht erst zustande gekommen sind, einer wegen Geld, einer wegen Inkompetenz (glaube ich).

Bei diesen Uhren jedenfalls haben die etwas windigen Hersteller meines Erachtens nicht idiotensicher genug darauf hingewiesen, dass es sich nicht bei allen Prämienmodellen um Automatikuhren handelt. Irgendwo stand es wohl, ich aber habe es übersehen, und nun habe ich mir zwei Quarzuhren crowdfinanziert. Quarz! Seit den frühen Neunzigern habe ich keine Uhr mit Batteriebetrieb mehr getragen!

Und hier ermahne ich mich selbst, dass wahre Liebe keinen Snobismus kennt. Deshalb entschuldigen Sie mich jetzt bitte, ich muss vor dem Feierabend noch ein wenig meine neuen Quarzuhren lieben, als wären sie richtige Uhren.

Hände hoch, Phrasenkontrolle: Er schrieb 17 Jahre an seinem neuen Roman, davon 14 an den ersten 100 Seiten, aber Kinder waren ihm grundsätzlich tabu

Ich blätterte unlängst in einer Zeitschrift, in der überwiegend von Büchern und ihren Verfassern die Rede ist. Ich blättere gerne in dieser Zeitschrift, auch wenn ich ihre bedingungslose Publikumsnähe mitunter ein bisschen feige finde. Wirtschaftlich habe ich Verständnis. Eines jedoch trübte mein Blättervergnügen, und zwar war es ein Satz wie dieser: „Er hat an seinem ersten Roman 12 Jahre lang gearbeitet.“

In derselben Ausgabe dieser Zeitschrift musste ich diesen Satz stolze dreimal lesen, in Variationen. Es war nicht immer „er“, es waren nicht immer „12“ und es war nicht immer der erste Roman. Doch es ging stets darum, dass jemand sehr, sehr lange an einem einzigen Buch gesessen hatte, es musste noch nicht mal ein sonderlich umfangreiches sein.

Hierzu stelle ich fest: Niemand schreibt (oder arbeitet anderweitig) 12 Jahre (oder vergleichbar lange) an einem einzigen Buch. Wie solche Zahlen dennoch zustande kommen, möchte ich an einem Schwank aus meinem Leben verdeutlichen, ist schließlich mein Blog.

Im Jahr 2003 schrieb ein Heftromanverlag einen Wettbewerb aus, bei dem man neue Serienkonzepte auf Diskette einreichen durfte. Ich hatte schon einmal in die Welt der Heftromanautoren hineingeschnuppert, war jedoch wieder rausgekommen, als ich einen richtigen Job gefunden hatte. Der füllte mich allerdings inzwischen künstlerisch-literarisch nicht mehr aus, deshalb dachte ich mir: So eine eigene Heftromanserie, das wäre doch was! Ich schrieb etwas zusammen, in dem alles vorkam, was es meiner Meinung nach im Heftroman noch nicht gab, was aber sehr angesagt war bei den jungen Dingern, zum Beispiel virtuelle Realität, Casting-Popstars, Kung-Fu und Riesenmonster, das alles in Videospieledramaturgie und mit Manga-Flair. Im Kern war es ein Abklatsch des Films eXistenZ, aber ich verkaufte es als ein Abklatsch des Films The Matrix, weil der publikumsnäher war.

Ich gewann nur einen Trostpreis, und zwar einen dieser Trostpreise, die verhüllte Beleidigungen sind, nämlich einen Schreibratgeber. Habe ich natürlich nie gelesen. Gleichwohl tun angehende Autoren nicht unbedingt schlecht daran, den einen oder anderen Schreibratgeber zu lesen. Werden es mehr als zwei, fällt das allerdings in die Kategorie der Verzettelung. Von Seminaren, Vereinen und Online-Foren ist gänzlich abzusehen, sonst wird man nie fertig.

Trotz des Affronts war etwas Wunderbares und Wundersames geschehen („zu viel Wunder für einen Satz“, stünde wohl im Schreibratgeber): Ich empfand etwas für mein Serienkonzept. Dabei war ich doch nur zynisch und analytisch vorgegangen und hatte Trendzutaten zusammengekloppt. Aber daraus war etwas geworden, was ich nicht mehr loslassen mochte. Ich begann, die ganze Sache noch mal zu überarbeiten, alles herauszunehmen, was ich nur aus Gefallsucht hineingetan hatte, und alles wieder hineinzutun, was ich mir zuvor aus Angst vor den Jugendschutzbestimmungen der Ausschreibung verkniffen hatte. Ich kam dabei vom Hundertsten ins Tausendste, kaufte mir sogar ein Grafik-Tablett, mit dem ich Zeichnungen der Charaktere anfertigte, nachdem ein befreundeter Grafiker das nicht nach meinen sehr präzisen, allerdings sehr schlecht formulierten Vorstellungen hinbekommen hatte (eine Warnung an alle Grafiker und Grafikerinnen: Bitte nie mit mir zusammenarbeiten). Weil ich gar nicht zeichnen kann, benutzte ich schließlich lediglich das Grafikprogramm, das an das Tablett gebündelt war, um Zeichnungen anderer Leute zu klauen und sie nach meinen Vorstellungen zu collagieren. Es war ja nur für Präsentationszwecke. (Man frage mich nicht, wie viele Seiten ich hätte vollschreiben können in der Zeit, die ich für die Pseudo-Zeichnerei vergeudet habe. Vermutlich könnte die ganze Saga längst fertig und verfilmt sein.)

Bald war aus dem Endlosheftserienkonzept ein Fünf-Dicke-Bücher-Konzept geworden. Ich wusste selbst, dass ich das ohne monetären Anreiz sobald nicht ernsthaft angehen würde, also reichte ich es für weitere Wettbewerbe und Stipendien ein, manchmal wieder in Alternativ-Versionen, duckmäuserisch an Statuten angepasst. Es ergab sich jedoch weiterhin nichts Seriöses (Erfahrung gewonnen: Es gibt mehr unseriöse Wettbewerbe, als man das als junges Mädchen vom Lande angenommen hatte). Die direkte Verlagsakquise ließ ich erst mal außen vor, denn ich wollte diesem Traumprojekt die Chancen nicht versauen. Vielleicht war es noch nicht gut genug. Vielleicht waren die Zeichnungen noch nicht schön genug. Bei Wettbewerben kann man immer wieder vorlegen, bei Verlagen bringt es in der Regel nichts, wenn man einmal abgeblitzt ist.

Sitze ich immer noch dran? Klar. Alle paar Monate fällt mir etwas Cooles ein, was dazu passen würde, und dann mache ich eine handschriftliche Notiz. Manchmal, zwischen zwei Projekten, nehme ich mir sogar die alten Dateien vor. Um weiterzuschreiben, muss ich natürlich erst mal erneut alles lesen, was ich vorher geschrieben habe, um wieder reinzukommen, und dann ist meine Zeit auch schon wieder um. In Schönschrift habe ich ungefähr 100 Seiten fertig, in Kladde ungleich mehr. Das ist zu viel, um einfach aufzugeben, und zu wenig, um ein baldiges Ende absehen zu können.

Doch was wird in der Pressemitteilung stehen, sollte das Ende tatsächlich in Sicht kommen und der erste Band irgendwann erscheinen, sagen wir um der runden Summe Willen im Jahr 2020 (unwahrscheinlich, wohlgemerkt)? Genau: Das Buch, an dem er 17 Jahre lang geschrieben hat! Dabei müsste es eigentlich heißen: Das Buch, an dem er vor 17 Jahren zu schreiben angefangen hatte, woraufhin er es mehrfach verworfen und neu begonnen hat, stets mit mehrmonatigen, vielleicht sogar mehrjährigen Pausen dazwischen, in denen er etliche andere Dinge getan hat. Ist vielleicht etwas zu sperrig für einen Hashtag.

Obendrein weiß ich gar nicht, welche Werbewirkungen sich Verlage und Autoren davon versprechen, mit solchen nichtssagenden Bruttozahlen hausieren zu gehen. Ist ein derartiges Hadern mit dem Manuskript nicht eher peinlich als bewundernswert? Und falls nein: Werden damit nicht völlig unerreichbare Erwartungshaltung bei den Lesenden geschürt? Ich hätte Angst, die sagten hinterher: „Also dieses Buch, an dem er 17 Jahre geschrieben hat, ist ja nun irgendwie auch nicht besser als die Bücher, die er in drei bis vier Monaten rausgehauen hat. Eher sogar im Gegenteil. Überhaupt hatte dieser ganze Cyberkitsch doch schon vor 20 Jahren reichlich Patina angesetzt. Schade, dass man hier nicht null Sterne geben kann!!!!“

Um ganz langsam wieder vom Persönlichen ins Allgemeine zu kommen: So, wie es mir geht, geht es auch denen, von denen stets behauptet wird, sie hätten so unglaublich lange an ihren Werken gearbeitet. Haben sie nicht. Sie haben in dieser Zeit viele andere Dinge getan, und das Schreiben lief irgendwie so nebenher. Ich habe in der Zeit, in der mein bislang unvollendetes Romanprojekt irgendwie so nebenherlief, nicht nur etliche andere (fertige) Bücher geschrieben, sondern bin vor allem meinem unliterarischen Broterwerb nachgegangen, in einer ganz bürgerlichen 40-Stunden-Arbeitswoche (ach, meistens waren es mehr, doch ich will mich gar nicht beschweren, schließlich habe ich als Revanche für die Überstunden häufig genug heimlich während der Arbeitszeit meine Bücher geschrieben). Die anderen Langzeitschreiber hatten vielleicht nicht das Glück, andere Bücher zwischenschieben zu können, aber auch sie werden anderweitig gearbeitet oder studiert haben, und das wird den Löwenanteil ihrer Zeit beansprucht haben. Anders geht es gar nicht, denn Schriftstellerei wird nicht in Monatsgehältern bezahlt; ansonsten würde jeder für jedes Buch zwölf Jahre brauchen.

Ehe wir ein Thema weiterspringen: Das Serienkonzept, das seinerzeit den Wettbewerb gewonnen hatte, war irgendwas mit Werwölfen, wenn mich nicht alles täuscht. Werwölfe! Als hätte sich, mal ehrlich, jemals jemand für Werwölfe begeistern können! Hat’s nicht lange gemacht, die Serie. Wenn mich nicht alles täuscht. Es ist lange her.

Ist man auf Facebook mit Schriftstellern befreundet, hat man nicht den Eindruck, dass die allzu viele Jahre über einzelnen Manuskripten sitzen. Melden sie sich zu ihrem Arbeitsfortschritt, melden sie sich mit Rekordsummen: „Heute Zeichen im hohen fünfstelligen Bereich! Abertausende Wörter vor dem Mittagessen! Unter 10 Seiten fange ich gar nicht erst an zu zählen!“

Niemand protzt damit, dass das Geschriebene besonders gut geworden wäre. Nur, dass es besonders viel geworden ist. Ich weiß, dass es auf die Menge nicht ankommt, und trotzdem bin ich häufig verunsichert und muss mir kleinlaut eingestehen: So viel schaffe ich nie oder nur in Ausnahmefällen. Dabei halte ich mich eigentlich für recht diszipliniert und produktiv, so ich nicht gerade Norovirus oder Besuch habe. Wobei: Besuch ist sicherlich immer lästig, aber so eine zünftige Infektion kann auch mal Motivationsmotor sein. Neulich haute ich trotz enormer Blümeranz elf Seiten an einem Tag raus, fast sogar an einem Stück, weil ich Angst hatte, am nächsten Tag könnte es mir noch schlechter gehen. Ging es aber nicht, tatsächlich ging es mir wieder fast richtig gut. Also machte ich einen Tag Pause und sagte mir: „Hab schließlich gestern elf Seiten geschrieben. Ich bin der King.“ Ich habe es derweil nicht auf Facebook hinausposaunt.

Angesichts der ständigen Erfolgsmeldungen meiner Facebook-sog.-Freunde sage ich mir etwas verbiestert: „Gut, diese unverbesserlichen Vielschaffer haben in der Mehrheit auch keine Kinder. Die haben allenfalls Katzen, und Katzen sind Selbstbespaßer, nach allem, was man so hört.“

Kinder bringen mich gleich zum nächsten Einsatz der Phrasen-Polizei. Noch so ein Satz, den ich zwar nicht über, aber von Schriftstellern immer wieder in Variationen lese und höre: „Also, Kinder sind für mich grundsätzlich tabu!“ Das bekommen Interviewer gerne auf die höfliche Frage geantwortet, ob der Interviewte denn beim Verfassen seiner voyeuristischen, sensationsgeilen, blutrünstigen, menschenverachtenden Krimithriller überhaupt noch irgendeine Grenze des Anstands kenne.

Für mich wäre eine solche Aussage grundsätzlich tabu. Nicht nur, weil sie vom selben alten Sprüchekalender abgerissen ist, an dem auch „Kinder sind was ganz Wunderbares!“, „Kinder sind ein Geschenk!“ und „Kinder sind unsere Zukunft!“ hängen. Sondern vor allem, weil sie eben nicht einfach besagt, dass sich der Autor dem Thema der Gewalt gegen Kinder literarisch nicht gewachsen fühlt (dafür hätte ich vollstes Verständnis). Vielmehr sagt der Autor damit, von einem hohen, selbstgebastelten moralischen Thron herab, dass er eine literarische Auseinandersetzung mit diesem Thema generell für anstößig hält. Und das ist Quatsch. Man kann sich auch äußerst unangenehmen Themen literarisch nähern (theatralischere Geister mögen rufen: Nein, man MUSS!). Man sollte nur eine gewisse Sensibilität walten lassen und aus einer ehrenwerten Absicht handeln.

Aber mit einer solchen ist es halt häufig nicht weit her. Was nämlich der Kinder tabuisierende Autor des Weiteren sagt, ist, dass er tote und misshandelte Kinder für nicht allzu unterhaltsam hält. Man mag ihm beipflichten, der Umkehrschluss jedoch ist entlarvend: Ermordete, zerstückelte, zertrümmerte, in jeder nur erdenklichen Hinsicht an Leib und Seele geschändete Erwachsene hält er durchaus für gute Unterhaltung. Und nur auf Unterhaltung kommt’s ihm an (das wird er in Interviews ebenfalls gerne zu Protokoll geben).

Reine Unterhaltung gibt’s aber auf Erden nicht, und wenn ein Autor nicht mal so viel begriffen hat, dann muss man ihn auch nicht lesen. Und diesen Beitrag muss man nun ebenfalls nicht mehr lesen, denn er ist vorbei.

Geheime Szene nach dem Abspann

Und jetzt geht er doch noch weiter. Mir ist nämlich gerade eingefallen, wie ich mein Dauerprojekt retten kann. Ich fange einfach noch mal ganz von vorne an, in einem anderen Medium.

Dafür bräuchte ich nur eine Grafikerin oder einen Grafiker. Voraussetzung: Muss total kreativ sein und alles genau so machen, wie ich sage. Und natürlich fürs erste unentgeltlich. Das ist also genau die Art von Angebot, bei der ich auch immer gleich herzförmige Pupillen bekomme, wenn sie mir unterkommt.