Nur noch 42,195 Kilometer mehr

Die gute Nachricht: Der erste Lauf des Wochenendes ist geschafft.

Leider war es erst der 2-Kilometer-Spaßlauf International Friendship Run. Der 42,195-Kilometer-Spaßlauf Tokyo Marathon folgt morgen. Damit jeder noch eine faire Chance hat sich rechtzeitig etwas wegzuholen, fand der Friendship Run im strömenden Regen statt. Das ist beruhigend, denn genau das hat der Wetterbericht vorausgesagt. Möglicherweise ist dann auch der positive Bescheid für morgen korrekt.

Sorgen Sie sich nicht, wenn ich mich nicht sofort nach Zieleinlauf melde, ich nehme den Computer wohl nicht mit. Sollte aber dennoch etwas passieren, wollte ich eben noch diese Besprechungen bei Ihnen abgeben:

Stephen King: Der Anschlag

Aftershock

Chatroom

Morituri te salutant

Ich habe eine offizielle Bekanntmachung zu verlesen:

Es ist zu kalt!

Es ist zu kalt für die heiße Phase eines anständigen Marathontrainings, zumindest so lange man kein norwegischer Ultra-Marathon-Veteran ist. Und zu viel Schnee ist auch, vor allem in den Schuhen. Ich hatte den Verdacht schon länger, wollte es aber nicht wahrhaben und bin stur weiter gelaufen, genau wie meine Nase. Dann hat die Grippe geschafft, wozu die Vernunft nicht imstande war: Das Angeber-Trainingsprogramm langfristig zu unterbrechen. Es geht mir schon wieder besser, aber ich werde in den nächsten zwei Wochen nicht aufholen können, was ich in den letzten zwei verpasst habe. Ich werde am 26. Februar trotzdem erst mal loslaufen, ist schließlich alles schon organisiert. Ich bin nur etwas kleinlauter in der Benennung meiner Erfolgsaussichten. Mein ursprünglicher Plan war es, den Tokyo Marathon in erster Linie mithilfe eines rigorosen 10-Wochen-Intensivtrainings zu absolvieren. Mein neuer Plan ist, den Tokyo Marathon in erster Linie mit Gottvertrauen und gutem Willen zu schaffen. Denn der Wille ist noch da, ich bin weiterhin hoch motiviert. Aber ich weiß auch, dass Kopf eben nicht alles ist, egal was die Motivationsseminarspinner sagen. Bein ist auch wichtig, und meine Beine haben in den letzten Tagen mehr Zeit auf der Couch als im Park verbracht.

So eine Grippe hat natürlich auch enorme Vorteile. So weiß ich inzwischen wirklich alles über die Entstehung aller Alien-Filme, und ich habe schon die komplette BBC-Krimiserie Luther gesehen, die Sie ab Sonntag sehen werden.

Wenn sie Ihnen nicht auf Anhieb gefällt, gucken Sie gefälligst nächste Woche wieder rein. Solange bis es Ihnen gefällt, hat bei mir auch geklappt. Ich habe am Sonntag frei und kann endlich Vier Fliegen auf grauem Samt schauen, aber Sie haben die erste Staffel Luther als Hausaufgabe. Die zweite ist freiwillig, weil die nur für Zuschauer mit Nerven wie Drahtseile ist. Will sagen: Die erste Staffel hat mir gut gefallen, aber erst bei der zweiten musste ich öfters fast heulen vor Glück. Lag vielleicht auch an den Medikamenten, aber höchstens ein bisschen.

Apropos irgendwas (mir fällt gerade keine Überleitung ein): Sie erinnern sich an Megumi Sakurai? Ich mich an manches leider zu gut. Da Megumi mitunter Poesie in deutscher Sprache schreibt, hatten wir es schon lange locker ins Auge gefasst, ein paar ihrer Gedichte hierzulande in Umlauf zu bringen. Mit ein wenig Hilfe meinerseits und viel Engagement der Herausgeberin Andrea Herrmann ist nun das Gedicht „Mädchen in dem grünen Wald“ in der aktuellen Ausgabe der Lyrik-Zeitschrift Veilchen erschienen, ein weiterer Text folgt in der nächsten Ausgabe. Lesen Sie mal wieder ein Gedicht. Hat mir auch nicht geschadet.

Was uns von Tieren unterscheidet, ist eklig

Seit es Mensch und Tier gibt, stellt sich der Mensch die Frage: Was ist der Unterschied? Meine Antwort wäre, dass der Unterschied darin besteht, dass Tiere sich diese Frage nicht stellen. Aber das ist unwissenschaftlich. Wer weiß schon, welche Fragen einen Nacktmull den lieben langen Tag lang beschäftigen (oder sind die nachtaktiv?).

Tiere haben keine Seele, sagen die einen. Tiere haben keinen Humor, sagen die anderen. Das eine ist keine Basis für eine vernünftige Diskussion, das andere wurde inzwischen widerlegt (durch Forschung, nicht durch Ronny’s Popshow). Die früheren Annahmen, Tiere würden keine Werkzeuge benutzen, könnten nicht treu und nicht homosexuell sein, gelten ebenfalls als überholt.

Ein Mensch sagte mir einmal, der Unterschied zwischen uns und Tieren sei eine gute Handschrift. Ich weiß aber nicht, wie das gemeint ist. Meine Handschrift ist nicht wesentlich besser als die meines Wellensittichs selig. Aber ich bin ein menschliches Wesen!

Einen nachvollziehbaren neuen Ansatz vertritt Dr. Rachel Herz in ihrem neuen Buch That’s Disgusting: Der Unterschied zwischen Mensch und Tier sei der Ekel. Tiere finden nichts eklig. Der Ekel im Menschen hingegen sei angeboren, nicht etwa, wie man meinen könnte, ein gelerntes Zivilisationswehwehchen. Wovor man sich genau ekelt, mag erziehungsabhängig sein, aber gewisse Ekelauslöser, insbesondere bezüglich Verwesung und Fäulnis, seien laut Herz kulturübergreifend zu finden, auch wenn auf Sardinien Käse erst als köstlich gilt, wenn er von Maden verspeist, verdaut und wieder ausgeschieden wurde, und Japaner verschimmelte Sojabohnen futtern wie andere Menschen Popcorn (ich finde beides eklig). Das Buch gefällt mir so gut, dass ich schon jetzt davon schwärme, obwohl ich es noch gar nicht gelesen habe, sondern nur eine ausführliche Besprechung in der, öhöm, New York Times Book Review.

Dr. Herz erzählt nicht nur davon, dass die ordnungsgemäße Benutzung eines Geldautomaten ein höheres Gesundheitsrisiko birgt als das Ablecken eines Klositzes im Cinemaxx (mache ich trotzdem nicht, aber ich werde fortan wohl mehr mit Karte zahlen), sondern sie erzählt selbstverständlich auch von Horrorfilmen. Überrascht hat mich, dass Mädchen laut der Autorin Horrorfilme oft als Mittel zum Zweck benutzen: Wenn ich das brav durchstehe, kann ich hinterher den Typen klarmachen. Ich hielt das für eine sehr männliche Strategie; genau so sind ich und die anderen Typen früher an Dirty Dancing und Pretty Woman herangegangen.

Apropos Woman (puh, endlich den Bogen zu dem Thema gekriegt, auf das ich eigentlich hinaus wollte). Ich liebe Horrorfilme mehr als irgendwelche anderen Filme, aber im fortgeschrittenen Alter hat sich mein Geschmack verlagert vom wilden und gefährlichen Grenzbereichhorror zum sicheren, vorhersehbaren Mainstreamhorror. Überhaupt habe ich erst wieder Spaß am Kino, seit ich akzeptiert habe, dass es sich um Unterhaltung handelt, nicht um Kunst oder Religion. Mein früheres Ich würde meinem heutigen Ich wohl die Freundschaft kündigen, aber was weiß mein früheres Ich schon. Man gebe mir eine neblige Gespenstergeschichte oder einen schlecht ausgeleuchteten Thriller über einen Serienmörder-von-teuflischer-Intelligenz, und ich bin glücklich. Meine Horrorfilme sollen Wohlfühlfilme sein. Extrem-Party-Splatter reizt mich nicht mehr, weil ich nicht mehr so viel trinke. Aufgekratzte Blut- und Sperma-Provokation mit Kunst- oder Anti-Kunst-Attitüde (beides dasselbe, das zweite ist nur verblasener) brauche ich nicht mehr, weil ich schon groß bin.

Man komme mir auch nicht bei jedem Brüll-Film mit dem Macker-Argument: „So ist eben die Realität!“ Ich sage: Das kannst du gar nicht beurteilen, Kleiner. Zu behaupten, das ganze Leben sei ein Jack-Ketchum-Roman, ist, als würde man behaupten, das Leben sei wie eine Komplettbox Die Waltons. Das eine ist so verlogen wie das andere, und keine von beiden Weltanschauungen ist gehaltvoller oder tiefgründiger als die andere. Es gibt Leid, Gewalt und Verzweiflung auf der Welt, und es gibt menschliche Wärme, grüne Weiden und flauschige Daunendecken. Menschen, die die Muße haben Filme zu schauen, werden mehr Begegnungen mit Daunendecken haben und erfahren in den wenigsten Fällen mehr Gewalt in ihrem Leben als eine Schulhofschlägerei aus der Ferne.

Meine Abkehr von der dunklen Seite des Horrorfilms hat zur Folge, dass mir Filme wieder Angst machen. Zumindest, bevor ich sie sehe. Ich habe aus erwähnten Gründen nicht mehr das Bedürfnis jeden Film zu schauen, den der Buschfunk gerade als das neue Ultimo in Sachen Blutrünstigkeit und Erniedrigung ausruft, aber manchmal bin ich doch neugierig. Dann steigere ich mich vorab oft in Erwartungshaltungen hinein, die schwerer zu ertragen sind als die Filme selbst. So musste ich bei der französischen Folter-Meditation Martyrs (Ultimo 2008) tatsächlich vorzeitig das Kino verlassen, weil mir ganz schlecht war von der Vorstellung, dass mir schlecht werden könnte. Dabei ging der Film eigentlich bis dahin. Und der Rest des Films ging auch, wie ich beim zweiten, erfolgreichen Versuch feststellte. Es ist ein schöner Film über den Lohn des Leidens, eingepackt in eine reichlich alberne Verschwörungsstory, der mir eine gute Inspiration beim Dauerlauftraining geworden ist. Es ist kein Film, den ich als Valentins- oder Muttertagsgeschenk empfehlen würde, aber mich hat er inhaltlich angesprochen, und meine Ekeltoleranzschwelle hat er nicht überschritten. Richtig eklig ist Ekliges nämlich erst, wenn die Beweggründe eklig sind. Das Eklige in Martyrs aber ist unverzichtbarer Teil der Erzählung und kein ekliger Voyeurismus.

(Trailer nicht für jeden.)

Ähnlich feige herumgeschwänzelt bin ich lange um The Woman (Ultimo 2011). Bekannt wurde der Film durch ein vermutlich inszeniertes Viralvideo, in dem sich am Rande der Premiere ein angeblicher Zuschauer angeblich sehr aufregt:

Die Handlung (Anwalt und Familie halten eine verwilderte Frau im Schuppen gefangen) hatte mich nicht sonderlich angesprochen, aber ich vertraue dem Regisseur Lucky McKee und der Hauptnebendarstellerin Angela Bettis seit ihrer herzergreifenden Splatter-Dramödie May.

Gestern bin ich den seit rund zwei Monaten hier herumliegenden Film endlich angegangen, und es war ein weiteres Martyrs-Erlebnis, nur diesmal ohne Fehlversuch. Lucky McKee selbst bezeichnet The Woman als Horrorfilm, also akzeptiere ich das. Meine Wahrnehmung ging allerdings von Anfang an eher in Richtung einer Steigerung von American Beauty. Viel interessanter als die körperlichen Qualen, die in The Woman durchaus vorkommen (wenn auch weniger prominent und explizit, als es das Raunen auf allen Kanälen impliziert), ist die seelische Verfassung der Anwaltsfamilie. Wenn man den Film mit „Yeah! Eklig!“-Gebrüll besser verkauft, soll es so sein. Yeah-Eklig-Fans müssen sich aber darauf einstellen, etwas zu sehen zu bekommen, was sie vielleicht noch nie zuvor gesehen haben: ein satirisches, oft enervierend stilles, sehr fein beobachtetes und inszeniertes Familiendrama. Freunde von fein beobachteten Familiendramen hingegen sollten sich drauf einstellen, dass hin und wieder ein Gesicht abgebissen wird.

Lieber Journalismus, bitte nehmen Sie sofort Ihren Finger aus meiner Wunde, meine Nippel tun schon genug vom Laufen weh!

Mitunter halte ich mich in der Küche auf, dort läuft immer das Radio. In meinem Radio laufen zum Glück nur gute Sendungen, über Bücher, Revolutionen und Neuerscheinungen der Deutsche Grammophon. Aber manchmal vergreifen sich die Moderatoren im Ton, so wurde unlängst ein Sachbuchautor für einen Journalismus gelobt, „der den Finger in die Wunde legt.“

Ich finde daran nichts Lobenswertes. Hat es irgendeiner Wunde je bei der Heilung geholfen, dass ein Finger in sie gelegt wurde? Sicherlich kann man mit dem in die Wunde gelegten Finger auf diese aufmerksam machen. Aber die meisten Wunden sind ja nicht gerade so gut versteckt, dass ohne Sado-Journalisten niemand etwas von ihnen mitbekommen würde. Sollte ein ordentlicher Journalismus nicht lieber einer sein, der bei Anblick einer Wunde ruft: „Ist zufällig ein Arzt anwesend?!“ Ein Journalismus, der Wunden heilt, oder zumindest zur Heilung von Wunden beiträgt. Das wäre ein Journalismus, den ich mir loben würde.

Es gibt nichts Schrecklicheres als die Phrase vom Finger in der Wunde. Außer Krieg und Hungersnot vielleicht. Oder Schimmel auf dem Pesto, oder das gemeinsame Album von Lou Reed und Metallica. Eigentlich gibt es jede Menge Schrecklicheres als die besagte Phrase, wenn man es genau bedenkt, aber ich reagiere in letzter Zeit häufig voreilig und emotional, weil meine Nippel so sensibel sind.

Sie wissen ja, mir ist da neulich wg. Midlife-Crisis ein Malheur passiert, und jetzt muss ich immer viel laufen, und zwar nach Anleitung, sonst wird das nichts. In meiner Anleitung ist eine Merkliste, was man nicht einzupacken vergessen darf, wenn man sich auf den Weg nach bzw. zum Marathon macht. Ein paar der Dinge leuchteten mir sofort ein (Schuhe, Socken, Seife), aber einen Punkt fand ich doch albern: „Pflaster (Brustwarzen)“. Das war mir zu kinky, ich will schließlich Marathon laufen, nicht CSD-Parade. Eins nach dem anderen.

Aber inzwischen weiß ich: Menschen, die Bücher übers Laufen schreiben, wissen oft mehr über das Laufen als Menschen, die Bücher über das Laufen bloß lesen und hinterher leicht süffisant dumme Witzchen darüber machen.

Meine Brustwarzen tun höllisch weh.

Aber ich habe daraus gelernt und renne nicht mehr ohne Pflaster aus dem Haus. Tatsächlich sind meine Nippel in genau diesem Moment überklebt, und ich fühle mich gut dabei. Ein Foto erspare ich Ihnen. Würde ich selbstverständlich nicht ersparen, wenn ich Hello-Kitty-Pflaster hätte, aber die gibt es leider nicht in Erwachsene-Brustwarzen-Größe. Selbstverständlich habe ich danach gesucht, was ist denn das für eine komische Frage?! Für mein Laufprogramm habe ich aber nur dies aus dem HK-Programm gefunden:

Das Bye-Bye Boo Boo Therapeutic Ice Pack (fantastisch: Bye-bye, Boo Boo! Hello, Kitty!) hilft bestimmt auch, wenn einer einem mal wieder einen Finger in die Wunde gelegt hat. Ich bin für einen Journalismus, der das Hello Kitty Bye-Bye Boo Boo Therapeutic Ice Pack auf die Wunde legt!

Diese neuen Besprechungen aus meinem Besprechungslabor legen keinen Finger in die Wunde, sie haben keine Ecken und Kanten, sitzen nicht zwischen Stühlen und sie gehen auch nicht an Grenzen. Sie gehen nur soweit die Nippel tragen:

Film

Haunters

The Man from Nowhere

Paranormal Activity – Tokyo Night

Buch

Laura Joh Rowland: Der Wolkenpavillon

Haruki Murakami: 1Q84 Buch 3

Ich bin Nummer 13191

Beim Pflegen meiner Korrespondenz ist es mir heute wieder eingefallen: Ich habe mich für den Tokyo Marathon im nächsten Februar angemeldet. Nun ist es mir ein Anliegen, dies öffentlich zu machen, um mir weniger Fluchtmöglichkeiten zu lassen.

Ende August lief die Anmeldefrist ab. Ich war lange unentschlossen, ob ich noch ein Jahr warten sollte oder nicht, aber man weiß ja, wie schnell aus einem Jahr zehn werden. Ich wollte nicht riskieren, dass mir die jüngst diagnostizierte Gicht (Abb. unten) noch den ganzen Fuß abbeißt, bevor ich die Chance habe, einmal im Leben bei diesem Unsinn mitzumachen.

Ich beschloss, mir im August die Seele aus dem Leib zu laufen, um so meine Verfassung zu prüfen und auf Grundlage dieser Prüfung meine Anmeldung abzuschicken oder nicht. Dann war es aber total heiß, und ich dachte mir: Ich bin doch nicht blöd! Mutige Entscheidungen kann man auch anders treffen, nämlich indem man auf dem Sofa liegt und so lange Bockbier in sich reinkippt, bis man alles unterschreibt. Das habe ich dann gemacht.

Abends noch zu heiß, abends schon zu dunkel, morgens zu viel Arbeit, Fuß kaputt (wir berichteten). Obwohl ich dank Zipperlein und Launen also noch nicht so intensiv im Training bin, wie man es sechs Monate vor dem Lauf sein sollte, fühle ich mich gut vorbereitet. Ich habe schon ein Buch über Marathonlaufen gekauft und rechne fest damit, dass ich es bald wiederfinde. Ich suche übrigens darüber hinaus auch noch nach Sponsoren (am liebsten Sanrio).

Einen Haken hat die Sache: es melden sich immer neunmal so viele Bekloppte an, wie letztendlich teilnehmen dürfen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich wirklich von Regierungsgebäude bis Big Sight zu Fuß laufen muss, ist also zum Glück gering.

Weniger anstrengendes Thema: Ich alter Omega-Blogger habe mal wieder anderswo was Anderes geschrieben. Nämlich Filmbesprechungen:

Colombiana

Garden of Sinners – Film 4: Der leere Tempel

Und Buchbesprechungen:

Jean-Christophe Grangé: Im Wald der stummen Schreie

Timothy Hallinan: Die Poke-Rafferty-Romane

Leif Randt: Schimmernder Dunst über Coby County

Das Sommermärchen ist wahr: Maja Haderlap ist Weltmeisterin!

Wie ich haben Sie ja diese Woche und insbesondere am Wochenende ebenfalls gebannt an den Geräten geklebt und auf 3sat oder ORF die Tage der deutschsprachigen Literatur (TddL) verfolgt, deren krimiartig spannendes Finale heute Mittag Maja Haderlap in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Cup brachte.

In alter Tradition wurde ein Text ausgezeichnet, der inhaltlich so auch vor 50, sprachlich vor 100 Jahren hätte geschrieben worden sein können. Man darf ihn genau deswegen schätzen. Man könnte aber auch erst recht die Schultern hängen lassen, aus Solidarität mit einer Literatur des Hier und Jetzt, die in Klagenfurt durchaus auch stattfindet, aber von einer Jury, die nach eigenem Bekunden im Leben nie etwas anderes als Bernhard und Handke gelesen hat, aus Prinzip nicht verstanden wird. Das Spezialgebiet eines Jurymitglieds ist laut Offizielltext die Literatur des Mittelalters. Man hat das Gefühl, es ginge dem Rest der Jury nicht anders.

Aber wir wollen uns nicht zu sehr grämen, erfreulich war immerhin das Ergebnis des Fußballspiels der japanischen Kämpferinnen gegen die deutschen Schauspielerinnen (Bildzeitungswerbefernsehen).

„Deutschland Vs Japan 0:1 …“
Dieses Video ist aufgrund des Urheberrechtsanspruchs von FIFA nicht mehr verfügbar.

Das ändert freilich auch nichts am Ergebnis.

告白: Ich habe Fußball gesehen, Kuh gegessen, und nichts gelernt

Heute machte ich mit der Arbeit früher Schluss und fing mit der Abendschule gar nicht erst an. Stattdessen ging ich in den Biergarten, schaute Fußball und aß in der Halbzeitpause ein Steak (engl., aus dem Altnordischen, steik -> braten). Und natürlich dachte ich: Huch, wie konnte das passieren? Wo ich doch sonst gerne pro Tier (lebend) und gegen Sport (hauptsächlich Fußball) töne. Der Steak-Aspekt bedarf zu ausschweifender Erläuterung und zu händeringender Rechtfertigung für dieses Umfeld, aber Fußball ist schnell erklärt, denn ich habe ja nicht irgendwelchen Fußball geschaut, sondern Frauenfußball. Da ist die Formel leicht: Fußball eigentlich nicht interessant, Frauen schon irgendwo interessant, ergo Frauenfußball nicht ganz uninteressant. Dann spielt noch ein gewisser Fußfetisch mit rein und die Tatsache, dass ich nicht irgendein Spiel gesehen habe, sondern Japan gegen England. Japan erst recht nicht uninteressant. England auch nicht zu verachten, aber wenn ich wählen müsste, Sie wissen schon. Von daher war das Ergebnis heute nicht so erfreulich, aber der Stachel sitzt nach zwei Stunden Biergarten auch nicht sonderlich tief. Außerdem ist Japan ja ohnehin im Viertelfinale. (Oder? Ich habe das doch richtig verstanden?!)

Gesellschaftlich war ich schon immer ein Wanderer zwischen den Welten, und beide Welten (also alle außer der dritten) haben schon versucht mich von meiner Fußball-Lethargie zu kurieren. So unterschiedlich die Welten auch scheinen mögen, sie sind sich in einem einig: Du musst mal mit ins Stadion, Alter! Meine stolzen, tapferen proletarischen Freunde sagten stets: „Alter, du musst mal mit in die Fankurve, da willste gar nicht mehr weg!“ Meine Etepetete-Bekannten aus der Etepetete-Society sagten: „Alter, du musst mal mit in die VIP-Lounge, wo unkomplizierte junge Dinger dir und Kai Pflaume Schnittchen auf die Zungenspitze legen!“ Ich habe beides ausprobiert. Die Fankurve war mir zu proletarisch, die Schnittchen zu etepetete, das Spiel in beiden Fällen egal.

Dann geschah letzten Freitag das: Durch Zufall erfuhr ich, dass Japan am Nachmittag in der Fußball-WM der Frauen gegen Mexiko spielen würde. Trotz der Teilnahme Japans hatte ich die Veranstaltung bis dahin nicht großartig verfolgt. Ich war ein wenig enttäuscht gewesen, dass die Japan Football Association nicht auf meinen Vorschlag eingegangen war, AKB48 zur Fußballnationalmannschaft zu erklären, sondern irgendwelche Frauen geschickt hatte, die ich gar nicht kannte. Aus einer Laune heraus jedoch verfolgte ich das Spiel gegen Mexiko per Textticker im Internet (yeah, Silver Surfers go, schreibt uns noch nicht ab, Kids!), und das stellte sich im Nullkommanichts als das Spannendste heraus, was ich jemals aufrecht sitzend gelesen hatte. Das war aber auch ein Spiel! Die überraschende Ono! Die emsige Kinga! Und die vom Himmel herab gestapfte Sawa! Die kannte ich alle gar nicht!

Aufgeregt rief ich in Japan an, um meiner persönlichen Weltmeisterin zum Sieg zu gratulieren, aber da kam nur: „Fußball? A[ch] so. Aber nur Frauen, oder? Haben wir gewonnen? Ich hab gerade CSI gesehen.“

4:0 würde ich nun nicht als ‚gewonnen‘ bezeichnen, sondern eher als Volksfest mit Bauchtanz, aber gut. Bin ich mit meiner Begeisterung eben allein. Auch wenn meine persönliche interdisziplinäre Weltmeisterin den Großteil meines Herzens zur freien Verfügung hat, weiß sie, dass da ein kleiner, abgelegener aber warmer Platz ist, der theoretischen Traumfrauen zur Eroberung durch sportliche Leistungen zur Verfügung steht. Sie hält sich da raus, und ich sag nichts gegen Matt Damon, so sind die Regeln. In der besagten Herzkammer könnte es ein wenig enger werden, denn die eine, die da jetzt schon wohnt, könnte bald Gesellschaft bekommen.

Ich weiß nicht viel über Homare Sawa, und heute war sie ein wenig schüchtern, aber das wird schon. Ich habe ein paar Bilder von ihr gegoogelt (das ist nichts Unanständiges, sondern ein menschlicher Urinstinkt), und sie wirkt auf mich wie jemand, der seine Passion sehr ernst nimmt. Das gefällt mir an Menschen. Ob ich die Passion teile oder nicht. Ich hoffe, sie macht noch ein paar Dinger rein, wenn es drauf ankommt. Und selbst wenn nicht, wohnt sie auf ewig in der Ruhmeshalle meines Herzes, wegen des sehr euphorisierenden Nachmittags am Ticker.

Bitte nicht verwechseln:

Fußballnationalmannschaft der Frauen

AKB48

Nena, Blümchen, Miyavi, meine Güte wie die Zeit vergeht (oder eben nicht)

Es ist schon eine Weile her, dass ich zum letzten Mal bei einem Konzert war, bei dem vorne Teenager kreischen und Ärmchen in die Luft recken, während hinten der erziehungsberechtigte Fahrdienst wartet und milde lächelt. Über eine Woche ist das schon her. Da war nämlich das Konzert von Miyavi, einem jungen japanischen Gitarrengott, wenn auch kein Songwritergott, der in Japan in erster Linie dafür bekannt ist, dass er im Ausland bekannt ist.

So fürchterlich bekannt scheint er im Ausland auch nicht zu sein, der mittelkleine Münchner Austragungsort war mit etwas gutem Willen gerade mal zu einem Drittel gefüllt. Rein akustisch war davon aber nichts zu merken, der harte Kern machte einen Krach wie ausverkauft und überbucht. Miyavi selbst war auch nicht leise, aber es war doch das Gekreisch der Anerkennung und Wertschätzung, das noch außerhalb der Halle in einigen hundert Metern Entfernung gut zu hören war, und mich nach langem Herumirren aufgrund altersbedingter Orientierungslosigkeit doch noch mit leichter Verspätung zum Konzert finden ließ, das offenbar mit löblicher japanischer Pünktlichkeit begonnen hatte.

Dass man mich hier als zahlenden Konzertbesucher aus freien Stücken und ohne minderjährige Begleitung nicht für voll nahm, machte man mir bereits beim Einlass unmissverständlich klar. Niemand wollte meine Karte sehen. Aber ich bestand erstens auf Kontrolle der Eintrittskarte, zweitens auf Durchsuchung meiner Herrenhandtasche. Auch alte Menschen haben ein Recht auf Schikane! Nur weil wir nicht mehr so glänzendes Haupthaar haben wie Miyavi gehören wir längst nicht aufs gesellschaftliche Abstellgleis!

Billige Spötter könnten anmerken, dass das Konzert nicht nur wegen der hysterischen Stimmung voller als tatsächlich wirkte, sondern dass die Größe von Miyavis Ego ebenfalls nicht wenig Raum einnahm. Dazu sage ich in spöttischem Tonfall: „Was?! Ein Rockstar mit einem gesunden Selbstbewusstsein?! Was fällt dem ein! Der bringt noch die ganze Rockmusik in Verruf!“

Miyavi beherrscht die einstudierte Mischung aus großen Gesten und Tuchfühlung, die ich von einem Rockstar erwarte. Rockmusik ist in erster Linie Unterhaltungs- und Dienstleistungsgewerbe, die Revolution ist spätestens seit Elvis‘ erster Goldenen Schallplatte vorbei (1956, für 1.000.000 mal ‚Don’t Be Cruel‘, heute braucht’s weniger), allerspätestens seit ‚Muss i denn zum Städele hinaus‘ (1960). Nichts ist furchtbarer als sauertöpfische Authentizitätsrocker, die meinen, sie müssen so vor ihr Publikum treten, wie sie sich gerade fühlen, in der Annahme, sie spielten die Musik für sich und nicht für die zahlenden Gäste. Nein, sie müssen sich gefälligst zusammenreißen und ihre Arbeit machen, und zwar mitreißend und gut, sonst gehe ich das nächste Mal zu jemand anders. Ein Anlageberater sagt sich ja hoffentlich auch nicht: „So, heute ist mir eine Laus über die Leber gelaufen, da gebe ich aus Authentizitätsgründen mal eine schlechte Anlageberatung. Rock’n’Roll!“

Miyavi liebt sein Publikum aufrichtig. In dem Sinne, dass er es aufrichtig liebt, Publikum zu haben. So muss das sein, da erwidere ich die Liebe gerne. Natürlich nicht in erster Reihe, sondern hinten mit den Eltern. Also, nicht mit meinen Eltern. Aber ich denke sogleich an sie, denn sie standen auf ganz ähnlichen Plätzen vor vielen Jahren, während ich vorne zu Nena oder Extrabreit voll abmoshte. Drolliges Detail am Rande des Geschehens: Heute werden der ehrenwerte Extrabreit-Sänger Kai Havaii und ich in literarischen Belangen von derselben Agentur vertreten. Das hätte ich mir damals, als kleines Mädchen aus der Vorstadt mit einem Nasenring aus Phosphor, auch nicht träumen lassen.

Ich erinnere mich gerne an die Konzerte von vor 20 Jahren und an das von letzter Woche (an letzteres etwas besser, noch). Andere haben auch schöne Erinnerungen. Mein liebster Youtube-Kommentar zum Miyavi-Konzert:

…. außerdem hab ich seine spucke in den mund bekommen^^….

Da zeigt sich, dass junge Menschen gar nicht so verzogen sind, wie vielfach angenommen wird. Auch mit kleinen Dingen kann man ihnen eine Freude machen.

Zwischen meiner eigenen Ärmchen-reck-Phase und dem Miyavi-Konzert war wohl das einzige ähnliche Ereignis, dem ich beiwohnte, ein Blümchen-Konzert in den Neunziger Jahren, das ich mit journalistischem Auftrag besuchte. Ich kam als blasierter Gästelistenschnorrer, ich ging als stolzer und glücklicher Besitzer einer selbst bezahlten ‚Blümchen‘-Wollmütze. Auftritt und Privataudienz hatten mich restlos von Fräulein Blümchens Qualitäten als Mensch und Entertainer überzeugt. Ich hoffe dennoch, dass Blümchen, die heute unter dem Pseudonym Jasmin Wagner schauspielert, mit einem Comeback noch mindestens bis 40 wartet, um es für alle interessanter zu machen. Ich würde jedenfalls kommen, mit meiner Mütze. Ich habe sie noch irgendwo, finde sie aber gerade nicht, weil ich kürzlich aufgeräumt habe. Dies hingegen habe ich natürlich immer griffbereit:

(Warum dort „Für Blohm & Voss“ steht, ist eine lange Geschichte, deren Erzählung auf unbestimmte Zeit verschoben werden muss.)

Eines verbindet Blümchen und Miyavi über die unübersehbare äußerliche Ähnlichkeit hinaus: Es macht Spaß ihnen dabei zuzusehen und zuzuhören, wie sie auf der Bühne das tun, was sie am besten können. Bei Miyavi ist das Gitarrespielen, bei Blümchen habe ich vergessen, aber da war etwas. Miyavi ist ein so exzellenter Gitarrist, dass es nicht weiter stört, dass seine Songs kompositorisch und lyrisch Quatsch sind. Entscheidend ist, wie es hinten rauskommt. Der Ton macht die Musik. Ich würde jederzeit wieder zu einem seiner Konzerte gehen. Ob ich mir je wieder eines seiner Alben besorgen würde, würde ich mir zweimal überlegen, und es dann wahrscheinlich doch tun, wie ich mich kenne.

Eine Mütze habe ich mir diesmal nicht gekauft, aber ein T-Shirt. Freilich trage ich es nur beim Sport, also fast nie. Mein gespanntes Verhältnis zu beschrifteter Bekleidung thematisierte ich bereits in meinem Aufsatz Judas rennt über meine spät erblühte Liebe zum Dauerlauf. Weil zitieren einfacher ist als neu formulieren:

Für obenrum habe ich beschlossen, meine alten Bandshirts aufzutragen. Obwohl das eigentlich hochgradig inkonsequent ist. Ich habe mir im Alltag nicht viele modische Regeln auferlegt, ganz bestimmt nicht. Vielleicht im mittleren zweistelligen Bereich, würde ich sagen, konservativ geschätzt, um mal eine Hausnummer zu nennen. Und bei den meisten lasse ich auch mal Fünfe gerade sein, wenn gerade keiner guckt. Aber bei allem Laissez-faire, zwei Bekleidungsregeln erlauben keinen Interpretationsspielraum und müssen unbedingt in jeder Situation befolgt werden, auch beim Sport und auf dem Sterbebett:

  • 1. Männer über 12 tragen keine kurzen Hosen.
  • 2. Männer über 22 gehen nicht beschriftet aus dem Haus.

Für den Sterbebettfall muss man zwar nicht zwangsläufig aus dem Haus gehen, aber Sie wissen schon, wie es gemeint ist. Wie ein Cowboy bevorzugt in seinen Stiefeln stirbt, möchte ich gerne in langer Hose entschlummern, sobald es an der Zeit ist. Und nach Möglichkeit nicht in einem T-Shirt, auf dem steht: New Model Army 51st State Tour 1987.

(Zitat Ende. Zitiert nach mir selbst, da kann mir keiner was.)

***

Erstaunlich, wie schnell man Kreisch-Konzert-Verhältnisse trotz langer Abstinenz wieder als Normalzustand wahrnimmt. Anfangs dachte ich noch mit leicht distanzierter Elternmeinung: Wenn dieser Miyavi zwischen den Songs auf die Gitarre boxt, kreischen dann alle, weil sie daran wirklich erkennen, welches das nächste Lied ist, oder kreischen die bloß, weil er auf die Gitarre geboxt hat? Aber bald war mir wieder eingefallen, dass das egal ist.

Ein paar Tage später besuchte ich das Münchner Konzert von Anna Calvi, bei dem Anna Calvi erwartungsgemäß die Jüngste war. Es ist nicht bedeutungslos, dass mir das Calvi-Album als große, schwarze Kunststoffschallplatte vorliegt, das von Miyavi als ungreifbarer Download. Das Konzert war gut, die Stimmung auch, dann geschah das Unfassbare: Frau Calvi trank einen Schluck Wasser (direkt aus der Flasche, so sind die jungen wilden Dinger), und irgendwas fehlte. Da fiel es mir ein: Wieso kreischt denn keiner?! Sie hat doch einen Schluck Wasser getrunken! Und da wiederum fiel mir ein: Ach ja, ich bin hier ja der einzige Teenie.

Meiner strikten Ablehnung der Hobbyfilmerei bei Konzerten habe ich gut versteckt in einem überlangen früheren Beitrag Luft gemacht. Weil wir Menschen vom Planeten Erde aber so wunderbar widersprüchliche Naturen sind, habe ich kein Problem damit, hier die Hobbyfilmerei eines anderen zu klauen:

P.S.: Ich wollte es eigentlich geschmeidig in den Text einfließen lassen, aber man wird vergesslich mit dem Alter: Ich danke sehr herzlich der Leserin, die mich auf die Miyavi-Tour überhaupt erst aufmerksam gemacht hat. Sie weiß, wer sie ist, wenn sie noch nicht so vergesslich ist, wie ich es bin. Und ich wünsche weiterhin alles erdenkliche Gute.