Ein wilder Ritt auf dem Pomadenhengst, ein Text ohne Bilder, eine Welt am Abgrund

Unlängst ging ich mit undeutschem Besuch Kaffeetrinken, und zwar mehrmals täglich, der Besuch mochte Kaffee gern. Nachdem wir mehrere Kaffeehäuser besucht und jedes Mal ausführlich die Aushangangebote studiert hatten, fragte mich der Besuch aus ehrlicher Wissbegier und ganz ohne öden Sarkasmus: „Gibt es im Deutschen keine Worte für ‚to go‘?“ Da wurde genau der Richtige gefragt. Ich stieg auf ein Podium und referierte für den Rest des Tages darüber, was alles in der Welt schief liefe und woran das liegt (ich hatte sehr viel Kaffee getrunken).

Ich hatte demselben Besuch gegenüber schon mal einen Tag lang über das andere leidige Thema gesprochen, Sie wissen schon, den Sinn. Davon, dass er in der deutschen Sprache gefälligst nicht „gemacht“ wird, sondern allenfalls gestiftet, oder sich ergibt, oder notfalls gehabt wird. Jedoch ganz sicher nicht „gemacht“, schreib dir das hinter die Ohren. Das wäre eine Unsitte, die sich durch schlampige Übersetzungen ohnehin nicht sehens- oder hörenswerter amerikanischer Fernsehsendungen eingeschlichen hätte und nicht mehr rauszukriegen sei aus der deutschen Sprache und deshalb sei der Euro auf Talfahrt und alles würde immer teurer und und überhaupt. Das Thema war aber für den undeutschen Besuch vielleicht etwas zu advanced, you know.

Oder vielleicht bloß zu uninteressant. Beim Sinn-„Machen“ genau wie beim To-Go ist die Bredouille, dass halbwegs aufmerksame Menschen seit Ewigkeiten auf den Missstand hinweisen, die Bekloppten aber trotzdem unbekümmert weitermachen, und täglich werden es mehr. Uns Mahner langweilt unser eigenes Mahnen mittlerweile, es ist wie mit einem Witz, der schon so’n Bart hat, wie man früher sagte, als einem noch keiner wuchs. Werden Witze allerdings tatsächlich mit ihrem Bart meistens unlustiger und somit für ihre Art irrelevanter, wird der Hinweis auf Missstände nicht unnötiger, solange die Missstände weiterbestehen, auch wenn das Gemahne den Unschuldigen schon aus den Ohren rauskommt. Man muss sich fragen, wie man mit den Schuldigen umgeht. Launige Schönsprechkolumnen scheinen nichts zu bewirken. Die Leute lesen, lachen, und ändern ihr Leben trotzdem nicht. Man kann in einem Rechtsstaat leider auch nicht jedem die Kehle durchschneiden, der sagt: „Das macht nicht wirklich Sinn.“ Das blasierte und inflationäre „nicht wirklich“ (gleiche Entstehungsgeschichte wie „macht Sinn“) ist übrigens das Thema meines nächsten Wochenendseminars (bitte rechtzeitig anmelden und Coffee to go selbst mitbringen).

Ich habe in der Macht-Sinn-Debatte eine radikale Zero-Tolerance-Haltung eingenommen, weil es mir um den Erhalt sprachlicher Vielfalt geht, nicht um den Erhalt sprachlicher Korrektheit. Korrektheit ist was für Zahlenliebhaber, nicht für Worteliebhaber. Meine fellow Mahner müssen sich jetzt kurz die Augen zuhalten: Insgeheim glaube ich nicht, dass „macht Sinn“ sprachlich falsch ist. Wäre nicht die erste fremdsprachige Wendung, die ins Deutsche eindringt, da muss man tapfer sein. Es ist eher moralisch als sprachlich falsch, und das ist viel schlimmer. Diese Formulierung verdrängt zusehends alle anderen Formulierungen, mit denen man ausdrücken kann, dass einer Sache Sinn innewohnt. Ich bin für den Tod dieser einen Formulierung, damit die anderen Formulierungen leben können. Das ist nicht schön, aber Krieg ist nun mal nicht schön. Opfer müssen gebracht werden. Es geht nicht um richtige Sprache gegen falsche Sprache, sondern um gute Sprache gegen böse Sprache.

Vereinzelt wurde Sinn bereits vor über hundert Jahren in der deutschsprachigen Literatur gemacht [citation needed], es wird als Formulierung also nicht per se falsch sein, zumindest heute nicht mehr. Denn selbst wenn etwas falsch ist, wird es mit der Zeit richtig, so es nur beharrlich weiter falsch gemacht wird. Es ist nun schon seit einigen Jahren kein offizieller Fehler mehr, das „desto“ gegen ein zweites „je“ auszutauschen, oder den altertümlichen Unterschied zwischen „wie“ und „als“ nicht mehr zu kennen. Sprache knickt gerne vor der Gewohnheit ein. Man muss das in gewissen Maßen akzeptieren, wenn man nicht einer dieser Menschen werden will, die mit so’n Bart in einer Höhle leben und wirre Traktate in trotziger alter Rechtschreibung in den Fels ritzen. Man sollte sich nur reiflich überlegen, welche Gewohnheit man zur eigenen macht. Ich kenne einen, der kriegt den guten alten Kehle-durchschneiden-Blick, wenn einer sagt: „der“ Blog. Ich sage das auch (der). Laut Regel ist der oder das egal. Derjenige mit dem Blick meint allerdings, Blog käme von Weblog, also von Log, also gefälligst: „das“ Blog. Das ist alles richtig. Vollkommen logisch und logisch vollkommen. Nun ist Sprache aber eben nicht nur schnöde Mathematik, sondern auch Poesie, und Poesie ist total irre. Da kommt es auf Fluss und Klang an, auf flow und sounds, nicht bloß auf „wenn a, dann b“. „Der Blog“ fließt für mich einfach grooviger wie „das Blog“.

Alternativ plädiere ich in der Macht-Sinn-Debatte dafür, den Sinn einfach öfter mal komplett unerwähnt zu lassen. Man scheint den Respekt vor diesem einstmals großen Wort zu verlieren, indem man unentwegt jede Trivialität damit veredelt. „Möchtest du Milch auf dein Müsli?“ – „Ja, das macht Sinn.“ Wie wäre es einfach mit: Ja, bitte.

Wenn Sie immer noch lesen, stimmen Sie mir womöglich zu, dass Worte und Formulierungen schützenswert sind. Dann muss ich Ihnen auch nichts von der Gefährdung des Wortes „gleichzeitig“ erzählen. Es wurden schließlich schon genügend launige Schönsprechkolumnen darüber geschrieben, dass alles nur noch „zeitgleich“ und nichts mehr „gleichzeitig“ geschieht. Warum erzähle ich es trotzdem? Um einen riesen Irrtum aus der Welt zu schaffen (zumindest aus dem Teil der Welt, den ich erreiche; bitte beteiligen Sie sich als Multiplikatoren). Und es nicht der Irrtum, an den sie jetzt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit denken. Jener Irrtum ist nämlich der Irrtum.

Ich hab da neulich vielleicht einen Schreck bekommen! Ich sah einen älteren, bereits veröffentlichten Text von mir zwecks baldiger überarbeiteter Wiederveröffentlichung durch, und stolperte über einen Satz, in dem ich achtlos das Wort „zeitgleich“ verwendet hatte, obwohl ich ganz sicher „gleichzeitig“ meinte. Schlimm genug, dass mir das passieren konnte. Aber wie konnte es sein, dass dieser Fauxpas auch an all den Berufslesern unbeanstandet vorbeigekommen war, die zwischen Tippen und Drucken Wache halten? Dabei weiß doch jeder schönsprechkolumnenlesender Klugscheißer, dass „zeitgleich“ übereinstimmende Zeiträume bezeichnet, jedoch nicht notwendigerweise übereinstimmende Zeitpunkte: Ich lief gestern 10 Minuten, du liefst heute 10 Minuten = wir liefen zeitgleich (nämlich 10 Minuten). Während gleichzeitig eben gleichzeitig heißt. Mit anderen Worten: „gleichzeitig“ und „zeitgleich“ heißen nicht dasselbe. So die landläufige Oberlehrer-Meinung, die ich die längste Zeit meines Lebens teilte.

Behuft durch den schrecklichen Fund in meinem eigenen Werk habe ich recherchiert und musste feststellen: Es stimmt leider nicht. Nicht ganz. „Zeitgleich“ hat zwar tatsächlich die genannte Bedeutung mit dem Zeitraum, ist allerdings so flexibel, dass es ebenfalls synonym mit „gleichzeitig“ verwendet werden kann. Und zwar wohl schon immer. Ich bin weit zurück gegangen in meiner Recherche, habe aber keinen Hinweis gefunden, dass die Bedeutungsgleichheit eine neumodische Flause wäre.

Eine neumodische Flause ist allenfalls der Oberlehrer-Hinweis auf den vermeintlichen Bedeutungsunterschied. Und natürlich die sprachliche Auslöschung von „gleichzeitig“ durch „zeitgleich“. Der erste Ausdruck scheint kaum mehr bekannt. Deshalb ist die ständige Verwendung von „zeitgleich“ anstelle von „gleichzeitig“ weiterhin schwer zu tadeln, wenn auch nicht zu ahnden. Sie ist ja nicht verkehrt. Sie ist nur böse.

Denke ich an aussterbende Wörter, denke ich an den Typen, mit dem ich mir an manchem Morgen die Bushaltestelle teile. Es ist nicht lange her, da trug er mittellange Haare, die mit viel Gel über den Kopf zurückgekämmt waren. Da er außerdem einen konservativen Anzug trug, sah er aus, wie deutsche Fernsehkrimi-Stylisten sich seit rund 30 Jahren einen kokainsüchtigen Bankkaufmann vorstellen. Müsste ich für ihn Dialoge schreiben, klänge das so (Telefonat): „Was? Morgen große Koks-Party im P1? Klar, Digger, das macht Sinn, da bin ich bei dir. Ist zwar zeitgleich auch Crack-Anstich im Schumann’s, aber das klingt nicht wirklich spannend.“ Ich habe ihn wohlgemerkt nie reden hören, und ich gehe angesichts seines Arbeitsweges davon aus, dass er kein Bankkaufmann ist, und er hat sich in meiner Gegenwart nie drogensüchtig verhalten (nervöses Kratzen, irres Lachen). Ich habe mir nur so meine Gedanken gemacht. Einer davon ging: Oh Mann, wenn ich doch nur ein einziges knackiges Wort hätte, mit dem ich diesen Typen humorvoll-geringschätzig beschreiben könnte! Doch fällt mir keines ein! Es wird keines existieren!

Eines Tages las ich dann im Duden-Newsletter (was lesen Sie denn zum Spaß?!) eine kleine Auflistung ausgestorbener Worte, ein werbender Auszug aus dem Büchlein Unnützes Sprachwissen (ich sage: nichts in diesem Büchlein ist unnütz, und Wissen ist es überhaupt nie!). Dass krisengeschüttelte Zeiten für das Wort „beleibzüchtigen“ (Versehen mit lebenslangem Unterhalt) keine Verwendung mehr haben, ist nachvollziehbar. Der „Pomadenhengst“ allerdings wurde im Jahr 2000 ganz offensichtlich voreilig von der Duden-Redaktion für obsolet erklärt und aus der Sprache gestrichen.

Aber jetzt kommt der Kracher, und ich schwöre, es ist die Wahrheit: Als ich den Pomadenhengst von der Bushaltestelle das nächste Mal sah, hatte er eine ganz neue Trockenfrisur, einen naturstacheligen Mecki-Schnitt.

Vielleicht hatte er sich gedacht, nachdem ihm jemand den Duden-Newsletter aufs fettige Kopfkissen gelegt hatte: Ach, wenn der Pomadenhengst als Wort gegangen ist, dann ist es auch für mich an der Zeit zu gehen. Kurz darauf dachte er weiter: Nein, Quatsch, ich werde mir doch nicht wegen so was den goldenen Schuss setzen! Ich lasse mir bloß eine andere Frisur „zaubern“, einen kecken Mecki-Schnitt. Den behalte ich solange, wie noch einer den frechen Igel Mecki, das Maskottchen der Illustrierten ‚Hörzu‘, kennt. Wenn diese Ära ebenfalls vorbei ist, nehme ich vielleicht so eine Modeglatze wie der Spacko von meiner Bushaltestelle, der damit versucht, seine Naturhalbglatze zu kaschieren, wie alle anderen Modeglatzköpfe auch. Werde ich ohnehin wahrscheinlich bald nötig haben, bei der ganzen Chemie, die ich mir bis vor kurzem in die Haare gepfiffen habe.

Und das war die schöne Geschichte vom Pomadenhengst, der ein Igel wurde.