Vergleichende Filmkritik: Angel (1984) vs. Die Wildgänse kommen (1978)

Heute eine weitere Folge der beliebten Sendereihe ‚Filme, die ich längst gesehen haben sollte, aber irgendwie jetzt erst geschafft habe‘. Diesmal mit Angel (minderjährige Straßenprostituierte und ihre riesige Magnum jagen Serienkiller) und Die Wildgänse kommen (alte weiße Männer ballern in Afrika rum). Klingt nach zeitlosen, vorteilhaft gealterten Meisterwerken für Klassenfahrten und therapeutische Einrichtungen? Wir werden es herausfinden.

Wir erinnern uns: Angel lief seinerzeit in Bremen im U. T. 4 an, also dem zweitgrößten der sechs Säle. Der, in dem auch Dario Argentos Phenomena und Jim Drakes Police Academy 4 – und jetzt geht’s rund liefen. Die Annonce für Angel im freitäglichen Kinoprogramm übte eine gewisse Faszination auf mich aus. (Ja, das war noch bevor dieser neumodische Quatsch mit den Filmstarts am Donnerstag losging (1985). Wird sich ohnehin nicht durchsetzen.)

Es war eine gefährliche Faszination. Zu gefährlich für mich, damals. Ich fürchtete, was in diesem Film zu sehen sein müsste, würde meine unschuldige Seele für immer korrumpieren. Der verruchteste Ort, den ich kannte, war der Utkiek von Bremen-Vegesack. Was wusste ich schon vom harten Pflaster des Straßenstrichs von L. A.? Nur das, was ich mir von den Kinoanzeigen im Weser-Kurier zusammenfantasieren konnte. Ich wartete lieber auf Police Academy 4.

Rund 40 Jahre später wähnte ich mich vom Leben abgehärtet genug. Dass die Darstellerin der 15-jährigen Titelfigur bei den Dreharbeiten 24 war, ist nicht das Erste, was einem auffällt. Das Erste, was einem auffällt, ist, dass einige ihrer Highschool-Klassenkameraden wohl auf die 40 zugehen. Da hat man es mit der Hauptrolle vergleichsweise gut getroffen. Vor allem, weil sie ihre Sache schauspielerisch so gut hinbekommt, dass man sich fragt, warum sie danach nicht mehr viel hinbekommen hat. Ihr hohes Alter sieht man ihr nur bei besonders ungünstigen Lichtverhältnissen und Kamerapositionen an.

Zum Glück spielt Angel mehr auf dem Straßenstrich als in der Schule. Dort wurde mit mehr Finesse besetzt. Angels gewählte Familie ist ein bunter, liebenswerter Haufen aus neuro- und genderdiversen Außenseitern. Endlich normale Menschen, möchte man sagen. Die Freakshow sind die Bullys und Drama Queens in der Highschool. Käme der Film unverändert heute heraus, würde der rechte Pöbel ihn wahrscheinlich als ‚woke‘ beschimpfen. Vermutlich genau der Pöbel, der damals im Kino noch gar nichts dagegen hatte, dass unterschiedliche Menschen unterschiedlich sind.

Es überrascht überhaupt nicht, dass dieser vermeintliche Exploitation-Film 1984 beim International Lesbian & Gay Film Festival in San Francisco den Publikumspreis abgegriffen hat. Gut, die oberste Tunte muss zwar sterben (ups, ich weiß, ich weiß – Spoiler-Warnung!). Aber sie stirbt kämpferischer und heroischer, als Jason Statham es jemals hinbekommen hätte (und ich liebe Jason Statham, mit ganz viel Zunge und Barstoppelschubbern, so wie er es gern hat). Wer da nicht zur Kleenex-Box greift, ist kein echter Mann.

Selbstredend ist Angel kein einfühlsames Dokudrama über das Leben auf der Straße, sondern in erster Linie ein küchenpsychologischer Rache-Reißer. Allerdings ein verdammt guter, für den sich niemand schämen oder fremdschämen muss. Darüber hinaus ist der Film ein glänzend gefilmtes 1A-Zeitdokument, wurde er doch fast ausschließlich an Originalschauplätzen gedreht und zeigt ein Los Angeles, das irgendwie so ähnlich sicherlich immer noch existiert, aber eben nicht mehr genau so. Fun-vielleicht-Fact: Man erzählt sich, Regisseur Robert Vincent O’Neil habe bei den Dreharbeiten immer ein gefaltetes Stück Papier aus seiner Popotasche herausragen lassen, um eine Drehgenehmigung vorzutäuschen.

Das ultimative Lob im Streaming-Zeitalter: Ich habe Angel in einem Rutsch geguckt. Das ist mir schon lange bei keinem Film mehr passiert. Bei Die Wildgänse kommen ganz sicher nicht.

Etwas zur Vorgeschichte: Wie alle jungen weißen Männer hatte ich in den 80ern eine kurze und halbherzige Phase der Söldnerfilmverehrung. Das stand keinesfalls im Widerspruch zu meiner Karriere als angehender Kriegsdienstverweigerer, denn ich konnte Fiktion und Realität schon damals gut auseinanderhalten. Es waren Filme wie Geheimcode: Wildgänse, Kommando Leopard, Der Commander – in den Philippinen gedrehter Euroschrott mit abgehalfterten Ex-Hollywoodstars, schlecht beratenen britischen TV-Stars und Klaus Kinski. Das Konzept war geklaut von Die Wildgänse kommen mit Richard Burton, Roger Moore und Hardy Krüger. Also so ähnlich wie The Expendables, nur nicht so woke. Meine Leidenschaft verpuffte bald, denn so richtig gut waren diese Filme nicht. Retrospektiv muss ich nun allerdings feststellen, dass sie viel besser waren als der Film, von dem sie abkupferten.

Gleichwohl möchte ich diesen Film vom hin und wieder gehörten Vorwurf freisprechen, er habe einen rassistischen Blick auf die Bevölkerung Afrikas (mein Freispruch hat natürlich keinerlei juristische Konsequenzen). So viel afrikanische Bevölkerung kommt in Die Wildgänse kommen gar nicht vor, als dass man da ein klares Urteil fällen könnte.

Das Afrika-Abenteuer ist eingebettet in eine Handlungsklammer, die in England spielt. Dort wird am Anfang die Band wieder zusammengebracht, und am Ende legt dort die letzte überlebende Wildgans (Burton) den Oberschurken um (ups, ich weiß, ich weiß – Spoiler-Warnung!). Dieser Anfang und jenes Ende sind überzeugend geschrieben, gespielt und inszeniert. Alles dazwischen ist halbgarer Mumpitz, der sich zwischen Action, Drama und Klamauk nicht entscheiden kann. Da guck ich mir vielleicht doch lieber noch mal Geheimcode: Wildgänse an. Oder Police Academy 4. Oder (mit Sicherheit) Avenging Angel, Angel III: The Final Chapter und Angel 4: Undercover.

Um es zusammenzufassen: The winner is …

Mit Mike Krüger gegen die KI

In dieser Woche veröffentlichten mehrere amerikanische Zeitungen einen Agenturartikel, der fünfzehn besonders sommerliche Sommerlektüren empfahl. Die meisten davon verfasst von großen, leicht wiedererkennbaren Namen aus vergangenen und gegenwärtigen Bestsellerlisten. Nur bei den Titeln und Inhaltsbeschreibungen wollte es mit dem Wiedererkennen nicht so recht klappen. Zehn der fünfzehn vermeintlichen Bücher waren nämlich frei erfunden. Und die Eignung der fünf tatsächlich existierenden Titel als unbeschwerte Sommerlektüre kann zumindest im einen oder anderen Fall stark bezweifelt werden; das einzige Auswahlkriterium schien gewesen zu sein, dass die Handlungen der Bücher teilweise im Sommer spielen müssten.

Ist nicht schwer zu erraten, was geschehen war: Künstliche Intelligenz war geschehen. Und weil der besagte Artikel eben von KI geschrieben wurde, muss ich in meiner Formulierung gleich wieder zurückrudern: Die Bücher wurden natürlich nicht ‚frei erfunden‘, denn Künstliche Intelligenz erfindet nichts. Erfindung würde tatsächliche Intelligenz oder etwas Vergleichbares voraussetzen, und Künstliche Intelligenz hat mit tatsächlicher Intelligenz nichts zu tun und nichts gemein; der Begriff ist äußerst unglücklich gewählt. Künstliche Intelligenz ist ungefähr so intelligent wie ein Donut. Oder wie ein Redakteur, der meint, Menschen müssten sich Strandlektüren von Maschinen empfehlen lassen, die noch nie an einem Strand gewesen sind und noch nie ein Buch von den Millionen, die sie gelesen haben, verstanden haben. KI stellt lediglich auf Anfrage Inhalte neu zusammen, die KI in anscheinend oder auch nur scheinbar ähnlichen Zusammenhängen so schon mal irgendwo gefunden hat. So kann KI dem Wort ‚Katze‘ das Bild einer Katze und gewisse Katzenfakten zuordnen, hat aber trotzdem kein Verständnis dafür, was eine Katze ist. Oder ein Buch. Oder ein Strand. Oder Fakt. Oder Fiktion.

Oder ein Witz. Über die oben genannte Zeitungsblamage habe ich freilich aus dem Internet erfahren, und ich konnte aus hoffentlich offensichtlichen Gründen gar nicht darüber lachen. Anders verhielt es sich bei einem anderen Internet-Fundstück dieser Woche: Eine Rundfunksendung gratulierte Who-Gründer Pete Townshend zum Geburtstag und illustrierte das mit einer Abbildung des jungen Mike Krügers (die beiden Rocklegenden haben eine gewisse nasale Ähnlichkeit). Darüber konnte ich zumindest vornehm schmunzeln. In den Kommentaren fand sich die übliche Mischung aus Leuten, die es lustig fanden, und solchen, die es nicht verstanden hatten und mit der mediumsüblichen Selbstherrlichkeit und Unfreundlichkeit auf den vermeintlichen Fehler hinwiesen. Ein Kommentar jedoch war anders als die anderen: Der Kommentator hatte den Witz verstanden, fand ihn aber nicht lustig. Nicht, weil der Kommentator ein total humorloser The-Who- oder Supernasen-Verehrer wäre, sondern wegen KI. Wenn eine KI nun diesen Beitrag verarbeitete, so die Argumentation, dann würde sie Mike Krüger fälschlicherweise Pete Townshend zuordnen. Und dann könnten andere KI diese Fehler übernehmen und eines Tages, wenn alle Intelligenz auf Erden von Künstlicher Intelligenz verdrängt worden wäre, hätte Mike Krüger Pete Townshend komplett ausgelöscht, zumindest bildlich. (Gut, ganz so weit ging der Kommentator in seiner Argumentation nicht, aber die Richtung stimmt schon.)

Zuerst war ich amüsiert, dann erschrocken: Es gibt also bereits Menschen, die meinen, die KI müsse sich nicht an uns anpassen, sondern wir uns an sie. Ich sage nein: Kein Entgegenkommen. Nicht mal ein Stück weit. Bloß keinen Witz machen, weil der alles sehende und alles hörende Computer es falsch verstehen könnte? Dann leben wir bereits in den Filmen und Büchern, die wir als Kinder verschlungen haben.

Ausnahmsweise weiß ich bei diesem Thema übrigens mal, wovon ich rede, denn ich habe in einem meiner unsichtbaren Brotjobs über zwei Jahre lang recht intensiv mit KI-Unterstützung gearbeitet. Es ging dabei um das Erstellen von SEO-Texten für Produkte, von denen ich (zumindest anfangs) recht wenig Ahnung hatte. Der geringe Pro-Wort-Lohn rechtfertigte keine langwierigen Recherchen, also bat ich regelmäßig die gängigen Chat-Programme um erste Textentwürfe (für vollwertige SEO-Texte ist KI zu doof; das schafft jeder echte Mensch besser, nachdem er sich ein paar YouTube-Videos zum Thema angesehen hat). Da diese Texte nur von Maschinen gelesen werden sollten und der Auftraggeber selbst recht KI-affin war, hielten sich meine Gewissensbisse in Grenzen. Von vornherein fielen mir viele inhaltliche Fragwürdigkeiten in den KI-Texten auf, und je mehr Produktkenntnis ich mir mit der Zeit aneignete, desto offensichtlicher wurde es, dass sie vor faustdicken Unwahrheiten nur so wimmelten. Nicht selten wurde das genaue Gegenteil des eigentlichen Sachverhalts behauptet. Und die Fehlerquote der Maschine schien nicht nur mit meinem eigenen Kompetenzzugewinn zu steigen, sondern auch mit jedem neuen Software-Update. Die Behauptung, dass diese sogenannten ‚Halluzinationen‘ Kinderkrankheiten seien, die sich mit der Zeit von selbst erledigen, scheint mir arg optimistisch, blauäugig oder gar blind. Bislang ist keine Besserung zu erkennen (siehe 15 Buchempfehlungen für den Sommer).

‚Halluzinationen‘ ist selbstredend eh mal wieder der falsche Ausdruck. Halluzinationen setzen einen Geist voraus, der sich verwirren lässt. KI aber ist geistlos. Deshalb hat KI in Geisteswissenschaften, Kunst und Kultur nichts verloren. Nicht mal ein bisschen. Nicht mal im Hintergrund, oder aus Spaß, oder als Ideengeber, oder als ‚Werkzeug‘, oder womit man sich die Stinkefaulheit sonst so schönredet.

Liebe Nerds, der Kampf gegen Skynet hat längst begonnen. Werft eure geschmacklosen, unoriginellen, zutiefst unethischen Ghibli-Profilbilder auf den Müll und ab an die Front! Stürmt die Maschinen! Blockchains zu Pflugscharen! Und möge Mike Krüger unser Terminator sein.

(„Aber … aber … die Terminatoren waren doch mehrheitlich FÜR Skynet … Was ist, wenn jetzt eine KI das liest, und …“)

Ator (Herr des Feuers, he/him) und ich (Meister*in des lauwarmen Badewassers)

Als ich noch jung und die Welt ein sonnendurchflutetes Paradies war, hatte die Nachbarsfamilie einen Partykeller. Das war sehr praktisch, förderte aber auch einen gewissen Kellerneid. In unserem Keller standen bloß Sachen rum. Also bekniete ich meine Eltern, auch den in ein Funktionsgewölbe umzuwandeln, damit die Nachbarn nicht ständig tuschelten: „Das sind die, in deren Keller bloß Sachen rumstehen. Das arme Kind.“ Ein weiterer Partykeller wäre aber nicht schicklich gewesen; unsere beschauliche Nachbarschaft sollte ja nicht zu einer Partymeile verkommen. Also entschieden wir uns für das Gegenteil: einen Fitnesskeller. Zumindest hatte ich es so meinen Eltern verkauft, obwohl meine eigentliche Absicht ein Bodybuilding-Keller war, denn ich wollte aussehen wie Conan der Barbar, damals ein beliebtes Jugendidol.

Die Wände des Kellers wurden in einem freundlichen Hellgrün gestrichen, eine Sprossenwand wurde montiert, ein Punchingball eingefädelt und ein paar Hanteln und Expander im Raum verteilt. Schließlich kamen diverse Poster an die Wand; zum einen zur Motivation, zum anderen, um das schreckliche Neongrün zu überdecken. Ich erinnere mich nur an die beiden wichtigsten: Filmplakate zu den Kinofilmen Conan der Barbar und Ator – Herr des Feuers. Das eine zeigte eine anatomisch einigermaßen korrekte Abbildung des Conan-Darstellers Arnold Schwarzenegger, das andere eine anatomisch stark übertriebene Darstellung des Ator-Darstellers Miles O’Keeffe.

Nach ein paar Tagen intensiven Trainings stellte sich heraus, dass man die Art von Muskeln, die mir vorschwebte, nur mit Drogen bekommen konnte, und Drogen gab es im sonnendurchfluteten Paradies nicht. So verlor ich das Interesse an dieser ganzen Bodybuilding-Sache und funktionierte den Raum zu einem Fantasy-Rollenspiele-Keller um. Das hatte den Vorteil, dass man die Poster nicht abnehmen musste.

Meine Freunde und ich waren damals kulturell noch nicht so tief gesunken, dass wir uns absichtlich schlechte Filme angesehen hätten, nur um uns über sie lustig zu machen. Wir waren allerdings bereits tief genug gesunken, die Vokabel ‚Kult‘ viel zu häufig und für viel zu vieles zu verwenden. So ließ es sich nicht vermeiden, dass das Ator-Poster in meinem Keller irgendwann ‚Kult‘ wurde. Meine naseweisen Mitrollenspieler und ich machten uns lustig über den Titel des Films, die anatomisch übertriebene Darstellung des Hauptdarstellers und vor allem über die Abstammung der Titelfigur, mit der das Poster warb: „Seine Mutter war eine Prinzessin – sein Vater ein Barbar!“ Wir fantasierten uns zusammen, welche Absurditäten in diesem Film wohl geschehen mochten, und wir schworen einander, ihn uns niemals anzusehen.

Die Jahre zogen ins Land und wir aus dem Keller hinaus in die weite Welt. Ich dachte in den folgenden Lebensabschnitten immer seltener an Ator, den Herrn des Feuers. Manchmal natürlich schon, wenn jemand etwa beim Party-Smalltalk beiläufig fallen ließ: „Wissen Sie, ich hatte eine recht behütete Kindheit. Meine Mutter war eine Prinzessin und mein Vater ein Barbar.“ Solche Momente brachten einen sofort wieder zurück in den grünen Keller mit seiner ungenutzten Sprossenwand.

Zugegebenermaßen waren solche Momente recht selten. Doch neulich spülte etwas Ator, den Herrn des Feuers, wieder hoch, und zwar ein Algorithmus. Netflix möchte mir mitunter weismachen, dass die Fernsehsendung Mystery Science Theater 3000 etwas für mich wäre. Eine infame Unterstellung. Ich empfand die Sendung in Konzept und Ausführung stets als einen Ausbund an Stinkefaulheit, eine totale kreative Bankrotterklärung. Im Wesentlichen geht es darum, dass eine Gruppe untalentierter Comedy-Komiker ausgemacht schlechte Filme mit blasiertem Pennäler-Sarkasmus kommentiert.

Gerade als ich die erneute Empfehlung dieser unangenehmen Zeitverschwendung wieder wegklicken wollte, sah ich aus dem Augenwinkel, dass einer der in der empfohlenen Staffel verballhornten Filme AHDF war. Vielleicht ist das meine Chance, diesen Film endlich mal zu sehen, dachte ich. Meine Freunde müssen es ja nicht erfahren.

Doch wieder reagierte ich allergisch auf das unlustige Gequatsche über dem Filmton, das die Jungs und vereinzelten Mädchen aus dem giftgrünen Keller um einiges besser hinbekommen hätten als die Crew von MST3K, und schaltete nach wenigen Momenten ab. Nichtsdestotrotz war ich nun wie besessen: Ich MUSSTE diesen Kindheitsschwur endlich brechen! Ich musste Ator – Herr des Feuers sehen! Vielleicht hatte ja irgendein Streamingdienst eine unbefleckte Kopie im Angebot. Erfahrungsgemäß landet man bei solchen Suchen letztendlich immer bei Tubi, also schaute ich dort als erstes nach, und natürlich wurde ich fündig. Sollte Tubi mal nach einem cleveren Werbespruch suchen, würde ich vorschlagen: Alles in Tubi.

Die Verwirrung setzte früh ein. Mein Leben lang gab es in Bezug auf Ator nur eines, dessen ich mir sicher war: Seine Mutter war eine Prinzessin, sein Vater ein Barbar. Sinnvollerweise beginnt der Film mit der Geburt des kleinen Ator und verständlicherweise hat die Mutter dabei mehr zu tun als der Vater, der nach alter Barbarensitte mit Abwesenheit glänzt. Da ist es doch ein wenig befremdlich, dass diese Geburt in einer schlichten Holzhütte zwischen groben Tierfellen vonstattengeht. Wurde die Prinzessin wegen nicht standesgemäßer Schwangerschaft aus dem Palast verbannt? Oder wurde das Plakat im Geiste der unsäglichen deutschen Blödelsynchronisationen betextet: „Hallöchen, Popöchen, was sehen meine entzündeten Äuglein? Da ist ja noch Platz auf dem Popösterchen! Schreib doch mal irgendwas hin, Zuckerschnute, muss auch nichts mit dem Film zu tun haben.“ Korrekt hätte der Spruch wohl heißen müssen: „Seine Eltern waren – Barbaren!“ Das hat natürlich nicht den gleichen Wohlklang und ist kaum ein Alleinstellungsmerkmal. Um die Botschaft noch klarer zu kommunizieren, hätte man den Film gleich Ator der Barbar nennen können.

Rätsel gibt ebenso der Schurke des Films auf. Was den Bösen von den Guten unterscheidet, ist offenbar, dass er Spinnen ganz, ganz toll findet, während andere eher sagen: Iiieeh! Jedenfalls spielt er gerne verträumt mit den behaarten Achtbeinern, lässt sie über seine Hände und seine Glatze spazieren, kümmert sich rührend um sie. Diese positive Einstellung zu den oft missverstandenen Arachniden macht ihn meiner Ansicht nach mehr zu einem Tierrechte-Aktivisten als zu einem Fantasy-Film-Schurken, aber es waren wohl andere Zeiten, damals.

Außerdem rätselhaft: Warum ist der Film in der deutschen Fassung mit ‚Herr des Feuers‘ und in der englischen, mit der ich Vorlieb nehmen musste, mit ‚The Fighting Eagle‘ untertitelt? Weder Feuer noch Adler spielen größere Rollen. Der italienische Originaltitel erwähnt keines von beidem.

Apropos Italien: Spät im Film gibt es eine Szene, in der Ator und Red Sonja (nicht die echte Red Sonja) durch eine Höhle voller blinder Schwertschmiede schleichen müssen. Da hatte ich den Eindruck, das hätte auch von Fellini sein können. Außerdem hatte ich da die Flasche schon fast aus und der Handlung nicht mehr recht folgen können. So lässt sich vielleicht ebenfalls erklären, dass mich der finale Twist völlig überrumpelt hat. Nachdem der angenommene Ober-Schurke explodiert, weil er sich im Spiegel gesehen hat (vermutlich gab es eine Erklärung, die mir entgangen ist), stellt sich eine andere Figur als der wahre Ober-Schurke heraus. Zumindest für ein paar Sekunden, denn das Totschlagen geht schnell, der Film ist ja bald vorbei. Immerhin gibt es zum Schluss endlich die Riesenspinne, auf die wir von Anfang an gewartet haben. Beziehungsweise: Es gibt die zwei bis drei Riesenspinnenbeine, für die man Geld hatte. Zum Glück stirbt dann noch schnell Red Sonja (nicht die echte Red Sonja), so dass Ator ohne amouröse Komplikationen seine Schwester heiraten kann, wie es sich gehört.

Zu den weiteren Überraschungen zählt ein Auftritt der Schauspielerin Laura Gemser. Ich hatte sie rein zufällig bereits in dem einen oder anderen Kabelfernsehspätfilm gesehen, aber noch nie komplett bekleidet.

Eine Entschuldigung schulde ich Hauptdarsteller Miles O’Keeffe: So anatomisch übertrieben ist seine Darstellung auf dem Filmplakat auch wieder nicht, wie sich herausstellt. Wahrscheinlich waren die Szenenfotos, die ich kannte, nur aus unvorteilhafter Perspektive geknipst. Im Bewegtbild sieht man ihm schon an, dass er vermutlich einen Bodybuilding-Keller zu Hause hat. Anders als beispielsweise Mark Hamill.

Inzwischen, das ist mir bewusst, braucht Ator mich eigentlich nicht mehr. Neben MST3K hatte den Film bereits Oliver Kalkofe öffentlich veralbert, der so etwas gemeinhin besser hinbekommt als das amerikanische Format, bei dem er ein kleines bisschen abgeguckt hat. Was soll ich da noch sagen? Etwa darauf hinweisen, dass eine mutmaßlich bewusst überbelichtete und bewegungsarme Szene so lange dauerte, dass ich schon aufstehen und an der WiFi-Box fummeln wollte? Oder dass ich mir ziemlich sicher bin, dass Ator in einer Szene lange Bluejeans unter dem Felllendenschurz trägt? Hundertprozentig sicher bin ich mir nicht, denn ich wollte nicht zurückspulen und die Erfahrung unnötig in die Länge ziehen.

Letztendlich kommt es bei solchen Filmen natürlich drauf an, was hinten rauskommt. Und das wäre bei AHDF: Ich habe mich gut amüsiert. Ob gut genug, um mir auch Ator II – der Unbesiegbare und Iron Warrior (vulgo Ator 3) anzusehen, weiß ich noch nicht. Aber ich fürchte schon, wie ich mich kenne.

Eraserhead in Vegesack

Lange (und damit meine ich: relativ kurz) habe ich überlegt, ob ich überhaupt etwas über David Lynch schreiben sollte, jetzt, wo Sie wissen schon. Man schreibt bei diesen Anlässen ja letztendlich doch nur über sich selbst, und das scheint unangebracht und anmaßend im Schatten dieses viel größeren Geistes.

Doch dann zwitscherte mir im Morgengrauen ein kleines Vöglein von seinem Ast zu (es konnte, im Gegensatz zu vielen anderen Vögeln, meine Gedanken lesen): „Wovon solltest du denn sonst schreiben, wenn du über David Lynch schreibst? Zum abertausendsten Male analysieren, was das alles zu bedeuten hat? Seine Werk- und Lebensstationen runterbeten? Das kann die New York Times auch. Du bist doch wohl besser als das.“ (Der Vogel sprach in Anglizismen, er war schlecht synchronisiert.)

„Was?“, fragte ich, der ich nicht in jedem Morgengrauen mit Vögeln kommunizierte.

„Folge deinem Herzen. Wenn du gerne etwas über David Lynch und dich selbst schreiben möchtest – go crazy, auf gut Deutsch gesagt. Wem sollte das denn schaden?“

„Nein, ich meine kannst du das noch mal sagen, wo ich besser bin als die New York Times? Ich habe denen nämlich mal was geschickt, und die so: Nee, das ist irgendwie so ein 90er-Jahre-mäßiger Taz-Bremen-Stil …“

„nebah tmuärteg ud tssum saD“, behauptete der Vogel, begann auf seinem Zweig einen hypnotischen Tanz, und ich wusste, dass es nun an der Zeit war, mit dem Schreiben zu beginnen.

Erledigen wir die Formalitäten gleich vorweg: David Lynch war der wichtigste und einflussreichste in meiner Lebenszeit aktive Künstler. Es ist schwer vorstellbar, dass es so schnell einen anderen geben wird, der das Regelwerk von so ziemlich allem so allumfassend umformulieren, korrigieren und erweitern wird, wie er es getan hat. Darüber hinaus fand ich ihn auch richtig gut. Liebe und Bewunderung sind ja zweierlei, aber bei David Lynch war es mir einerlei, also beides. Allerdings nicht von Anfang an.

Meine früheste Erinnerung an David Lynch ist mein Eraserhead-T-Shirt. Ich kaufte es mir als Drei-Käse-Hoch im örtlichen Plattenladen, der schon früh die Zeichen der Zeit erkannt und auch Non-Platten-Produkte ins Programm genommen hatte (genützt hat es ihm auf lange Sicht trotzdem nichts). Es war das erste Mal, dass der milieustimmig mürrische Plattenverkäufer meinen Kauf anerkennend kommentierte, oder überhaupt das Wort an mich richtete. Oder mich überhaupt wahrnahm. Ich wusste nicht so ganz genau, welche Art von Musik Eraserhead spielten, aber das T-Shirt hatte mich schon lange in seinen Bann gezogen, wie es so monatelang ungekauft im Schaufenster hing. Es war einfach zu cool für Vegesack, ich musste es haben.

Es wird nicht viel später gewesen sein, dass der Film Eraserhead den Weg zu mir fand, per Zufall oder Schicksal. Ich hatte ein paar Videokassetten mit raubkopierten Horrorfilmen bei einem Raubkopierer bestellt, der in Liebhabermagazinen annonciert hatte. Es gehörte damals unter solchen Raubkopierern zum guten Ton, Gratis-Bonusfilme auf die Kassetten zu spielen, so noch Platz war, wegen der Customer Experience. Und so fand ich sozusagen auf der Rückseite meiner herrlich verwaschenen Kopie von Hellbound: Hellraiser II David Lynchs Langfilmdebüt. Ich staunte nicht schlecht: Das war die größte Portion gequirlten Bockmists, die ich jemals gesehen hatte, mein lieber Scholli! Das T-Shirt trug ich weiterhin, jetzt allerdings ironisch. So frech war die Jugend von damals.

Wenn uns David Lynch eines lehrt, dann dass nichts so ist, wie es scheint. Eraserhead kann ja gar nicht meine erste Begegnung mit seinem Werk gewesen sein. Hellraiser II kam schließlich lange nach Der Wüstenplanet heraus, und den hatte ich im Kino gesehen. Er hatte mir nur so lala gefallen, aber immerhin besser als das Buch, soweit ich das beurteilen konnte. In so ziemlich jedem meiner Lebensjahrzehnte habe ich mindestens einmal versucht, es zu Ende zu lesen. Beim letzten Versuch habe ich immerhin über die Hälfte geschafft. Vielleicht klappt es noch, bevor ich David Lynch die Astralhand schütteln und persönlich hauchen darf: „Sir, thank you for your service.“

Vermutlich hatte ich ebenso Blue Velvet bereits gesehen und für gut befunden, weil man das damals so gemacht hat (nach wie vor wünschte ich mir aber, Lynch hätte sich zur fraglichen Zeit für Die Rückkehr der Jedi-Ritter entschieden, wie man es ihm angeboten hatte). Meine aufrichtige Liebe erklärte ich erst anlässlich Twin Peaks und Wild at Heart. Ich kann nicht zählen, wie oft ich letzteren im Kino gesehen habe. Und niemand kann zählen, wie oft ich ihn danach auf Video gesehen habe. Es reicht auf jeden Fall. Irgendwann ist auch mal gut.

Soll ich jetzt noch erzählen, wie ich bei einer Twin-Peaks-Party in einer Diskothek bei einem Twin-Peaks-Nerd-Quiz ein „Who killed Laura Palmer?“-T-Shirt gewonnen habe? Damit die Geschichte richtig rund wird, quasi von T-Shirt zu T-Shirt? Nein, runde Geschichten sind so was von prä-Lynch.

„Ich kann immer noch nicht fassen, was du da über Eraserhead gesagt hast“, zwitschert das Vöglein von vorhin. „Gequirlter Bockmist? Echt jetzt?“

„Nein, nein!“, rufe ich. „Die Geschichte hat ja noch ein Nachspiel!“

Etliche Jahre später, auf meiner ersten oder zweiten Japanreise, vielleicht auch meiner dritten, kaufte ich bei Tower Records in Shibuya Eraserhead auf DVD. Ein bisschen aus Schalk, doch auch in der vagen Hoffnung, ich möge ihn mittlerweile mit anderen Augen sehen, nun, da ich ein bis zwei Käse höher war, vor allem intellektuell. Hat geklappt. Leider hatte ich das T-Shirt nicht mehr. Ich hatte es getragen und getragen, bis es den Weg alles Stofflichen gegangen war und mir selbst Freunde aus der Punkrock-Szene zuflüsterten, dass es vielleicht so langsam an der Zeit wäre, leise servus zu sagen. Doch im Herzen werde ich es weiterhin tragen. Das T-Shirt, und alles andere auch.

(„Silencio.“)

Mein (wirklich) letztes Weihnachtsfest Teil 3: Das letzte Kapitel

So spielt das Leben: Gestern denkt man noch, man hätte alle Zeit der Welt, und heute – Bäng! – steht plötzlich Weihnachten vor der Tür. Damit konnte keiner rechnen. Es kam quasi aus dem Nichts. Dabei hatte man noch so viel vorgehabt. Doch wie heißt es schon in der Fibel: Wenn du den Weihnachtsmann zum Lachen bringen willst (im Original: Ho ho ho!), erzähle ihm von deinen Plänen. Sicher, die Geschenke hat jeder vernünftige Mensch schon im August besorgt, und das Essen kommt sowieso von KFC. Aber was ist mit all dem ungeguckten Weihnachtsfernsehen? Im Januar kann man es sich nicht mehr ansehen, dann ist es vergammelt. Jetzt ist es an der Zeit, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen und vor der Welt zu gestehen: „Ich werde es nicht mehr schaffen, in die Weihnachtsspionageserie Black Doves auch nur reinzuschauen, obwohl ich mich so darauf gefreut hatte, ehrlich. Ich werde das ganz witzige, jedoch für ununterbrochenes Ansehen zu anstrengende Musical Spirited nicht mehr rechtzeitig zu Ende schaffen. Vielleicht doch noch rechtzeitig vor Weihnachten, aber nicht mehr rechtzeitig, um darüber zu schreiben, womit ich die Leser meines Blogs maßlos enttäuschen werde, alle beide. Und Nutcrackers mit Ben Still als Lindsay Lohan … nun gut, so eine unerwartete Zeitverknappung kann auch Vorteile haben.“

Machen wir das Beste aus dem, was wir haben. Wenn Netflix in den letzten Jahren eines richtig gemacht hat, dann ist es Is It Cake?, die Backwettbewerbsshow, in der die Kandidaten gegeneinander Alltagsgegenstände täuschend echt in Kuchenform nachbilden müssen. Ich mache mir wohlgemerkt rein gar nichts aus Kuchen. Ich esse ihn, wenn er auf dem Tisch kommt. Ich knipse ein Foto und mache es meiner Gemeinde im Internet zugänglich, wenn er likeable aussieht. Weil sich das so gehört und ich ein höflicher Mensch bin. Würde allerdings über Nacht aller Kuchen von dieser Welt für immer verschwinden, würde ich es wahrscheinlich gar nicht bemerken. Woraus ich mir durchaus etwas mache: Drama! Tragik! Komik! Tränen! Gelächter! Freud! Und Leid! All das hat Is It Cake? zuhauf. All das braucht natürlich gute Charaktere, und für die vierteilige Weihnachtssonderausgabe hat man die besten aus den ersten drei Staffeln noch einmal eingeladen. Hätte ich mir gerne 24 Folgen lang angesehen. Allerdings emotional wohl nicht verkraftet.

In erster Linie ist Is It Cake? eine Familiengeschichte, und zwar eine Neuenkirchen/Katayama-Familiengeschichte. Damals, in der Corona-Zeit (die Älteren erinnern sich vage), erwischte es meine Tochter. Sie war noch ein Kind, also steckte sie es gut weg, doch Regeln sind Regeln: Wir mussten sie ebenfalls gut wegstecken, und zwar in ihr Zimmer, 10 Tage lang. Hin und wieder flutschte einer gesichtsverhüllt kurz durch den Türspalt, um Wasser und Brot bereitzustellen. Aber wir sind ja keine Unmenschen, deshalb richteten wir unsere IT-TV-Infrastruktur dahingehend ein, dass wir alle gemeinsam Fernsehen und uns dabei gegenseitig im Fernsehen sehen konnten. Die erste Staffel von Is It Cake? war die Sendung, die uns als Familie trotz Sozialdistanzierung zusammenhielt. Danke, Mikey. Danke, Hemu. Danke, April. Danke, Justin. Danke, Dessiree. Danke, Andrew. Danke, Jonny. Danke, Sam. Danke, Nina. Danke, Steve. Ihr seid alle Gewinner.

Der Film Carry-On ist ebenfalls von Netflix, jedoch kein Kuchen. Ein niederer Ordnungshüter muss in einer kniffligen Bedrohungssituation über sich selbst hinauswachsen, um den Bösen möglichst unbemerkt das Handwerk zu legen und seine Liebsten zu retten, mit ein klein bisschen fernmündlicher Hilfe von zunächst skeptischen externen Ordnungshütern. Die Prämisse hat es womöglich schon mal gegeben, aber ganz bestimmt nicht als Weihnachtsfilm. Das Ganze wurde geschrieben von einem Videospiele-Autor und inszeniert von einem Liam-Neeson-Regisseur. Man bekommt also das, was man bestellt hat. Carry-On verrät einem nichts grundlegend Neues über die Conditio humana und zeigt uns keine Wege aus dem Weltschlamassel. Aber der Film erinnert uns daran, dass andere Menschen es auch nicht leicht haben. Zum Beispiel wenn sie Giftgasanschläge verhindern müssen, während sie um ihren Job und ihre Beziehung kämpfen. Ich muss leider darauf bestehen, dass die Fortsetzungen (Carry-On 2, Carry-On with a Vengeance, Live Free or Carry-On, A Good Day to Carry-On) pünktlich zu den nächsten Weihnachtsfesten ausgestrahlt werden, denn dieser Film hat mir gut gefallen. Wenn auch nicht so gut wie Is It Cake?.

Amazon hat immer noch nicht gelernt, dass man für Geld nicht alles kaufen kann. Gute Drehbücher zum Beispiel nicht (obwohl ich meinen möchte, so wie ich Autoren kenne, dass sich gerade da mit Geld eigentlich was machen lassen müsste). Red One – Alarmstufe Weihnachten ist genau die Art von zynischem, waffenstarrenden, Product-Placement-verseuchten Unsinn, der in Die Geister, die ich rief noch als Film-im-Film parodiert wurde. Doch wir leben in einer post-satirischen Epoche, und uns wundert gar nichts mehr. Der Weihnachtsmann wurde jedenfalls von der bösen Weihnachtshexe entführt, und The Rock und Captain America müssen ihn retten. Wer mich kennt, der weiß, dass ich überraschende Handlungswendungen gemeinhin als billige Taschenspielertricks abtue, die nur bemüht werden müssen, wenn man sonst nichts zu bieten hat. Im Umkehrschluss heißt das allerdings auch: Wenn man tatsächlich sonst nichts zu bieten hat, dann sind billige Taschenspielertricks immerhin etwas. Red One ist eine Action-Komödie ohne echte Witze (und ich habe nicht das Gefühl, dass das posthumoristische Absicht ist wie bei dezidierten Anti-Komödien à la The Bear und diesem ganzen öden Mist, Entschuldigung, aber stimmt doch). Ohne Action ist sie leider nicht, man fummelt also ständig wegen Lautstärkeregelung mit der Fernbedienung rum. Es passieren unentwegt Sachen vor sich hin, doch nichts davon scheint allzu dringlich oder wichtig. Ein Film wie eine zweistündige Star-Wars-Cantina-Szene. Man wünschte sich, dass das Happy End dann wenigstens durch eine überraschende Wendung herbeigeführte würde, wo sonst schon nichts Interessantes passiert ist, aber nein: Die Liebe siegt wegen Liebe, einfach so. Die Überraschung: Es gibt keine Überraschung.

Ähnlich überfüllt und hibbelig ist das Musical Spirited, gleichwohl etwas origineller konzipiert und sympathischer besetzt. Ein weiterer Remix von Dickens‘ Weihnachtsgeschichte, diesmal mit dem Hauptaugenmerk auf dem Geist der diesjährigen Weihnacht (Will Ferrell), der kurz vor der Pensionierung steht, aber vorher noch eine als hoffnungslosen Fall kategorisierte besonders dunkle Seele (Ryan Reynolds) retten möchte. Reynolds macht sich beim Tanzen besser, Ferrell beim Singen. Kann halt nicht jeder Hugh Jackman sein. Wie bei Red One möchte man den Film öfter mal anhalten und ihn anherrschen: „Nun beruhig dich doch mal!“ Das haben wir auch getan, deshalb bin ich noch nicht fertig damit. Mit diesem Beitrag hingegen schon.

Und das war es nun wirklich. Hier enden meine jährlichen Weihnachtsfilm- und -fernsehbetrachtungen mit Mein (wirklich) letztes Weihnachtsfest Teil 3: Das letzte Kapitel für immer. Darum schalten Sie auch nächstes Jahr wieder ein, wenn es heißt: Mein (wirklich) letztes Weihnachtsfest: Ein neuer Anfang.

Mein (wirklich) letztes Weihnachtsfest Teil 2: Ho-Ho-Horror-Special

Bevor ich zu meinem eigentlichen Thema komme, möchte ich eine kleine Anekdote von neulich loswerden, die gar nichts mit dem Thema zu tun hat, obwohl ich, wie ich mich kenne, trotzdem krampfhaft einen Übergang versuchen werde.

Neulich lud mich eine Geschäftsfreundin zu einem Catch-up-Mittagessen (nicht zu verwechseln mit einem Ketchup-Mittagessen) in den etwas vornehmen Tokyo American Club ein. Besorgt, dass ich womöglich als Junge vom Lande nicht mit den Gepflogenheiten urbaner Erwachsener vertraut wäre, sagte sie gegen Ende der Terminabsprache: „You have to wear a shirt with a collar.“ Ich sollte also ein kragenbewehrtes Hemd tragen, so ich Zutritt zum Speisesaal begehrte. Das war natürlich kein Problem; abgesehen von Unterhemden habe ich gar keine Hemden ohne Kragen, und nur fürs Unterhemd ist es jetzt (endlich) zu kalt. Allerdings war unsere Internet-Telefonverbindung nicht gerade von Fünf-Sterne-Qualität und die Geschäftsfreundin saisonbedingt arg verschnupft, deshalb verstand ich: „You have to wear a shirt with the colors.“

Da dachte ich mir: Die sind aber streng geworden! Das letzte Mal, dass ich mich im TAC verlustieren durfte, musste man kein Hemd in den amerikanischen Farben tragen. Ist das wegen Trump? Ist diese vormals gar nicht so unsympathische Ausländerorganisation jetzt auch eingeknickt? Dann vielleicht doch lieber Ketchup-Mittagessen bei Mos Burger.

Glücklicherweise fragte ich noch zweimal nach, und das Missverständnis klärte sich auf. Weder erschien ich zur Verabredung angetan wie ein Rodeo-Clown noch zornig mit Protestbanner. Das Erstaunliche an dieser kleinen Schnurre ist meines Erachtens, dass ich den Gedanken, ich könnte mich eingangs NICHT verhört haben, zwar ein wenig absurd fand, aber nicht völlig undenkbar. Vielleicht sind wir schon so weit gekommen. Vielleicht bin auch nur ich schon so weit gekommen.

Das ist ein idealer Übergang zu meinem eigentlichen Thema: Amerikanische Filme. Speziell amerikanische Weihnachtsfilme. Heute insbesondere amerikanische Weihnachtshorrorfilme. Und einer kommt nicht mal aus Amerika.

Es geht also um das sogenannte Ho-Ho-Horror-Subgenre. Bitte vergessen Sie meine Titelankündigungen aus der letzten Folge, ich habe es auch längst getan. Manchmal hat das Schicksal andere Pläne, und dann macht man Limonade. Oder holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank, um beim Thema zu bleiben.

Hand aufs Herz: Weihnachtshorrorfilme sind selten gut. Zumindest selten richtig gut. Kein Wunder, schließlich bringen Weihnachtshorrorfilme nur an Weihnachten die Kassen zum Klingeln, und dann wahrscheinlich sogar unabhängig von ihrer Qualität (also wie alle anderen Weihnachtsfilme auch). Da muss man sich keine Mühe geben. Da kann man ruhig mal Fred Olen Ray anstatt David Cronenberg ranlassen, denkt man sich in der Filmproduktionsbuchhaltung. Doch Wunder gibt es immer wieder, und in diesem Jahr ist mir das eine oder andere geschehen. Ich rede dabei nicht von Violent Night, dem Saison-Hit von vor zwei Jahren mit dem Weihnachtsmann als Action-Held, den ich nach kurzer Zeit abgebrochen habe. Das hätte ich mit 12 Jahren vermutlich im Brustton der Überzeugung als „messerscharfe Satire“ gepriesen, aber heute ist es mir zu stumpf. Apropos Messer.

Angesichts des bescheuerten Titels hätte ich mir It’s a Wonderful Knife beinahe gar nicht erst angeschaut. Doch mir blieb buchstäblich kaum eine Wahl. Zum Glück. So viel Spaß hatte ich mit einem Weihnachtsfilm schon lange nicht mehr. Wie der Filmtitel ist die Handlung eine Annäherung an den Weihnachtsklassiker It’s a Wonderful Life (das entschuldigt natürlich nichts): Einer jungen Frau, die sich eines Nachts im Affekt wünscht, nie geboren worden zu sein, wird paralleldimensional vor Augen geführt, wie viel schrecklicher die Welt ohne sie darin wäre; insbesondere in Bezug auf den maskierten Serienmörder, der sich äußerst negativ auf die Stimmung und die Einwohnerzahl in ihrem Heimatort auswirkt.

Erfrischenderweise betet das Skript nicht die falschen Götzen des Plots und der überraschenden Handlungswendungen an. Ein gesundes Tempo und liebevoll gezeichnete Figuren sind ihm wichtiger. Die Geschichte wird kaum über die Prämisse hinaus entwickelt, und selbst deren innere Logik wackelt arg, wenn man unbedingt Spielverderber sein muss und allzu verbissen drüber nachdenkt. Oder überhaupt drüber nachdenkt. Doch vor der öden, buchhalterischen Logiklückenerbsenzählerei mancher angeblicher Filmfreunde sollten wir zumindest an Weihnachten Aug und Ohr fest verschließen, dafür unser Herz so sperrangelweit öffnen, als wäre es ein sternebestrahltes Scheunentor in Betlehem.

Kritiker waren übrigens von It’s a Wonderful Knife nur mäßig begeistert. Das hat der Film heute mit It’s a Wonderful Life damals gemeinsam. Ich meine ja nicht, ich sage ja nur.

Norwegischer Horror scheint so langsam ein Ding zu werden, wie wir Berufsjugendlichen sagen. Ist das N-Horror? No-Horror? No-Ho-Ho-Horror? An der Verschlagwortung muss noch gefeilt werden. There’s Something in the Barn ist so etwas wie das norwegische Gremlins, nur mit lieben Elfen/fiesen Elfen anstatt Mogwais/Gremlins. Wer Gremlins mag und etwas für Norwegen übrig hat, kann damit nichts falsch machen.

Silent Night – leise rieselt das Blut von 2012 ist angeblich ein Remake von Stille Nacht – Horror Nacht von 1984, den ich in meinen Flegeljahren höchstwahrscheinlich mindestens einmal gesehen habe. Es stellte sich allerdings beim Ansehen des neueren Films kein Ach-ja-Effekt ein. Vielleicht ist es nur ein Remake dem Namen nach, um sich bei den Horrorfans anzubiedern. Die sind ja bekanntlich ganz verrückt nach Remakes, können gar nicht genug davon bekommen, schreiben zu Abertausenden tagtäglich das Internet voll: „Mensch, wann kommt endlich mal wieder ein Remake? Immer nur Originalstoffe, Originalstoffe, Originalstoffe! Den Studios fällt auch echt nichts Altes mehr ein!“

Mein Verhältnis zu Silent Night – leise rieselt das Blut ist ein wie von einer großen, scharfen Axt gespaltenes: Einerseits hat der Film ein paar gut gespielte exzentrische Charaktere deutlich über Slasher-Film-Niveau, die für vereinzelte Momente von regelrechter Tiefganggefahr sorgen. Andererseits werden die stets von so maßlosen Gewaltexzessen abgebrochen, dass man sich fragt: Ist das noch Unterhaltung, oder kann das weg? Gut möglich natürlich (nein, eigentlich nicht), dass genau das künstlerische Absicht war: Das Genre und das Publikum entlarven und letzterem einen Spiegel vors Gesicht halten, auf dass es seine eigene hässliche Fratze erkenne und ihm das Ho-Ho-Ho im Halse steckenbleibe. Aber wir sind hier ja nicht bei Michael Ho-Ho-Haneke.

So, machen wir an dieser Stelle mal einen Cut (Mann, bin ich heute in Form!) und sehen uns zum allerallerallerletzten Teil kurz vor Weihnachten noch mal wieder, so alles gutgeht. Dann unter anderem mit der Endschlacht der Titanen: Red One – Alarmstufe Weihnachten gegen Is it Cake? Holiday.

Mein (wirklich) letztes Weihnachtsfest

Nur mein wirklich letztes Weihnachtsfest vor dem Fernseher, keine Sorge.

Hilfreich wäre es, wenn man sich an sein Geschreibe von gestern stets erinnern könnte, denn dann hätte ich gewusst, dass ich bereits im letzten Jahr damit gedroht hatte, in diesem Jahr zur Weihnachtszeit die ‚Flimmerkiste‘ auszulassen und meine Familie lieber mal bei Gesellschaftsspielen und Käsefondue neu kennenzulernen, als noch einmal dieses Elend zu ertragen, das sich dieser Tage Weihnachtsfilm nennt (Weihnachtsfernsehen mitgemeint). Aber nein, ich habe mich nur an eins erinnert: Dass ich jedes Jahr so viel Weihnachtsfilm und -fernsehen gucke, wie ich kann, um dann in meinem stets aktuellen Blog mit erschöpfender Ausführlichkeit darüber zu berichten.

Meine Frau und ich haben uns in diesem Jahr größtenteils an die Filme der letzten Jahre gehalten, für die wir damals keine Kraft mehr gehabt hatten. Diese Ausschussware schien immer noch verheißungsvoller als die aktuellen Neuerscheinungen. Die Sharknadoisierung des Weihnachtscontents schreitet unerbittlich voran.

Dieses Jahr begann für uns alles mit Genie, und da begann auch schon gleich der Ärger. Nicht so sehr über den Film; der war erträglich genug, um ihn in einem Rutsch zu schaffen (eine Seltenheit in meinem Alter). Aber hier ist die moderne Unsitte, englische Werktitel nicht mehr ins Deutsche zu übersetzen, besonders ärgerlich, geht es in der Geschichte doch nicht um ein Genie im Sinne der deutschen Wortdefinition (also einen Menschen „mit überragender schöpferischer Begabung, Geisteskraft“ – Duden), sondern im Sinne des orthographisch identischen englischen Begriffs, also einen „bösen Geist im vorislamischen Volksglauben“. Im Deutschen sagt man Dschinn dazu, ihr Genies! Wo sind die Zeiten geblieben, als man Filme wie diesen im deutschen Verleih noch Na hoppla – ein Flaschengeist lässt es ordentlich krachen! genannt hätte?

Hollywood jedenfalls hat dem vorislamischen Volksglauben längst das Böse ausgetrieben, deshalb ist der Dschinn in Genie natürlich nicht böse, sondern Melissa McCarthy. Wie immer macht sie lustige Sachen, und wie immer sind die nicht so lustig, wie sie sein könnten, würde McCarthy sich vorher mal durchlesen, worauf sie sich da einlässt. Man muss kein Genie sein, um zu erkennen, dass sie sich seit Jahren unter Wert verkauft.

Allzu viel kann ich über Genie nicht mehr sagen, das ist schließlich schon rund zwei Wochen her, und es ist keiner dieser Filme, an die man sich am nächsten Tag noch erinnern würde (tatsächlich musste ich gerade überlegen, ob ich ihn dieses oder letztes Jahr gesehen habe). Eines meine ich allerdings doch im Gedächtnis zu haben, vielleicht auch eher im Gefühl: Es hat nicht weh getan. Was man nicht über alle Weihnachtsfilme sagen kann. Und das bringt uns direkt zu Our Little Secret, dem dritten und letzten Film aus Netflix‘ Knebelvertrag mit dem ehemaligen Kinderstar und der vorübergehenden Skandalnudel Lindsay Lohan. Endlich frei! Endlich wieder richtige Filme! Das hat sie sich verdient, und wir uns auch. Wie schon bei der Lohan-Netflix-Weihnachtszumutung Falling for Christmas (wir berichteten) gingen die Feuilleton-Meinungen über Our Little Secret in die Richtung, dass der Film nicht viel hermache, aber die alte Comebacknudel Lohan einiges raushaue. Und wieder sage ich: Nein, nein uuuund: Nein! Der Film macht in der Tat nicht viel her, doch leider macht‘s Lohan nicht besser. Sie kann vieles, aber nicht alles. Wunder wirken zum Beispiel nicht. Sie ist ja kein Dschinn. Ihre Lebenserfahrung hat sie gezeichnet, wie es Lebenserfahrung halt so tut. Ihre Zeit für Meet-Cute unterm Mistelzweig ist vorbei, und das ist keine Schande. Lindsay Lohan muss kurz vor 40 keine herzensguten, unverdorbenen Vorstadtmädchen mehr spielen. Lindsay Lohan soll gerne, zum Beispiel, Red Sonja spielen. Wenn sie dann auf dem Schlachtfeld versehentlich von hinten Conan den Barbaren anrempelt, klappt’s auch wieder mit dem Meet-Cute. Dafür würde ich sogar eine Kinokarte lösen. Aber nicht für diesen faden Weihnachtseintopf mit den üblichen Weihnachtseintopfzutaten: Erste Liebhabervorstellung bei den strengen Eltern, eine tote Mutter, ein rührender alleinerziehender Vater und ein Haus voller Erinnerungen, das zum Schluss doch nicht verkauft werden muss. Zu behaupten, dass dieser Lohan-Netflix-Eintopf ein kleines bisschen weniger fade wäre als der von 2022, ist rein wissenschaftlich betrachtet nicht ganz verkehrt, jedoch muss man schon sehr mikroskopisch rangehen, um den Qualitätsunterschied festzustellen.

Ein Schauspieler, der gesichtsmäßig prädestiniert für Liebesgeschichten im Kunstschnee scheint, ist Justin Heartley, der Kevin aus This Is Us, Sie wissen schon, die Manny, der Tracker. Einer dieser Typen wie früher Brad Pitt, wo man es als Mann gar nicht verknusen konnte, dass der gleichzeitig aussehen und schauspielern konnte. In The Noel Diary spielt Heartley einen Schriftsteller mit toter Mutter, der sich in eine Frau mit verschwundener Mutter verliebt (im Schnee).

Hätte ein richtig guter Film werden können, wenn man über das Skript noch mal einen geübten Ghostwriter hätte drüberschreiben lassen und sich der Regisseur und der Kameramann nicht gesagt hätten: Was soll’s, die Leute schauen sich’s ja eh nur auf dem Mobiltelefon an. Man kann direkt froh sein, dass The Noel Diary nicht gleich im Hochformat gedreht wurde. Mit anderen Worten: Die Story ist gar nicht mal schlecht, die Nasen sind sympathisch, hätte man sich in dieser Form aber auch auf dem Mobiltelefon ansehen können. Und mit diesem Skript meinetwegen sogar im Schnellvorlauf.

Interessant ist an dem Film vor allem eins: Meine Frau. Mitunter kommt es ja vor, dass Filme recht plötzlich enden, ohne jeden kleinen Nebenkonflikt in Wohlgefallen aufgelöst zu haben. Normalerweise fällt dann meine Frau aus allen Wolken und ich mannkläre ihr, dass das bewusst so gemacht wurde und auch gut so ist. The Noel Diary endet ebenfalls mittendrin, und diesmal traf es mich völlig unvorbereitet. Ich schimpfte wie ein Rohrspatz, und es war an meiner Frau mir kühlen Kopfes zu frauklären, dass man sich den Rest ja wohl „denken“ könne. Nein! Denken kann ich nicht! Nicht bei Weihnachtsfilmen! Einen der Haupthandlungsstränge nicht zu Ende zu erzählen ist viel zu mutig für dieses Genre.

In Christmas with You machen ein Popstar mit toter Mutter und eine Highschool-Schülerin mit toter Mutter musikalisch gemeinsame Sache, und am Rande verlieben sich der Popstar und der rührende alleinerziehende Vater der Schülerin. Der rührende alleinerziehende Vater wird von Freddie Prinze Jr. gespielt, der früher mal ein unanständiger Teenager-Traum war. Heute sieht er aus wie du und ich, also in erster Linie wie du. Das macht ihn so sympathisch. Wie der Film überhaupt unerwartet sympathisch ist. Besonders der Kunstschnee. Künstlicheren habe ich noch nie gesehen. Er fällt gerne mal von unten nach oben, ganz ohne andere Anzeichen von Aufwinden. Außerdem macht er nie etwas nass und scheint auch nicht allzu kalt zu sein.

Weil wir erst mal genug Netflix-Kunstschnee gesehen hatten, wandten wir uns an die BBC, die jedes Jahr um diese Zeit einen Film namens Nativity! mit Dr. Watson als Grundschullehrer im Krippenspielstress wie Sauerbier anbietet. Ungefähr 50 Prozent der Witze im Trailer kann man als solche durchgehen lassen. Mir hat das gereicht, doch meine Frau legte Veto ein. Stattdessen blieben wir eine Weile bei The Making of Do They Know It’s Christmas? hängen, eine neu zusammengeschnittene Dokumentation aus alten Filmaufnahmen von den Tonaufnahmen der All-Star-Benefiz-Single. Die Aufnahmen waren wohl lange Zeit verschollen (das scheint bei der BBC öfter vorzukommen), und ihr Wiederauftauchen ist vermutlich eine pophistorische Sensation. Aber muss man sich das in Spielfilmlänge ansehen? Man weiß ja eh, wie es ausgeht.

Wo ich allerdings schon mal eine stabile Verbindung zur BBC hatte, was auf unserer kleinen, entlegenen Insel keine Selbstverständlichkeit ist, schaute ich auch noch in das Death in Paradise Christmas Special 2023 hinein. 2023! Das klingt ja wie Science-Fiction! Bei Death in Paradise bin ich ca. 2014 steckengeblieben, als Ben Miller zum letzten Mal die Rolle des steifen, weißen, britischen Polizeibeamten spielte, der auf einer fiktiven Karibikinsel mit nicht-steifen, nicht-weißen, quasi-britischen Kolleginnen und Kollegen einen hochkomplexen Mordfall nach dem anderen aufklären muss. Ich habe wirklich versucht, offen für die Nachfolger zu sein, doch es hat mit keinem geklappt. Für solch einschneidende Veränderungen ist einfach kein Platz im Cosy-Crime-Genre.

So nahm sich dieses Christmas Special zunächst erwartungsgemäß furchtbar aus. Wer waren all diese Leute? Warum war jetzt nicht nur die Hauptfigur so steif, sondern auch die gesamte schauspielerische Ensembleleistung und die Inszenierung? Als hätten die letzten zwei bis drei Jahrzehnte tatsächlich guten Fernsehens nie stattgefunden. Ich glaubte nicht, länger als zehn Minuten am Ball bleiben zu können. Allerdings war meine Frau inzwischen neben mir auf dem Sofa eingeschlafen, und vor dem Fernseher zu schlafen heißt dem Fernseher zu vertrauen. Ich wollte ihren Schlaf nicht stören und ihr Vertrauen nicht missbrauchen, indem ich zu etwas Aufregenderem umschaltete.

Gott sei Dank. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an dieses seltsame 2023-Zukunftsszenario. Vielleicht war das, was ich zunächst für ungelenk gespielt und inszeniert gehalten hatte, einfach nur ungewohnt. Vielleicht war der neue Typ gar nicht so übel. Jedenfalls flutschte das irgendwann alles einigermaßen, und zum Schluss wurde der Mörder dingfest gemacht, wegen irgendwas mit einer Flasche, und Patsy Kensit, die Lindsay Lohan meiner Generation, war auch dabei, in einer altersgerechten Rolle (BBC, bitte einmal bei Lindsay Lohan anrufen). Das Death in Paradise Christmas Special 2023 ist klassisches Fernsehen in dem Sinne, dass man nebenher gerne noch andere Sachen macht, wie das handschriftliche Erstverfassen dieses Blogeintrags, und sich hinterher selbst nicht böse ist, wenn man nicht restlos alles mitbekommen hat.

Ich habe übrigens tiefenpsychologisch analysiert, warum ich entgegen meinen sonstigen, sehr veränderungstoleranten Sehgewohnheiten so an Ben Miller hänge, wenn es um Death in Paradise geht. Er verließ die Serie nach der zweiten Staffel, weil er lieber bei seinem neugeborenen Kind in England bleiben wollte, als in der Karibik Krimis zu drehen. Ich entdeckte die Serie, als ich selbst gerade Vater wurde. Sie bot nicht nur die Art von unkompliziertem Eskapismus, die man in dieser Lebensphase gut vertragen kann, sondern ich konnte mich auch gerade durch seinen Weggang mit dem Hauptdarsteller genauso gut identifizieren wie mit der Rolle, die er spielte. Dagegen können die Zweit-, Dritt-, Viert- und die kommende Fünftbesatzung schwerlich anspielen.

Bevor es zu sentimental wird (das können wir an Weihnachten natürlich nicht gebrauchen), mache ich an dieser Stelle erst mal Schluss. Lesen Sie im zweiten, vermutlich wirklich allerallerletzten Teil meiner Weihnachtsfilm- und Weihnachtsfernsehbetrachtungen: Violent Night, Black Doves, Carry-On und wenn ich ganz viel Mut aufbringen kann Nutcrackers sowie ausführliches allgemeines Abschlussgemecker über den Zustand der Welt (also das Weihnachtsprogramm von Streamern und anderen Fernsehsendern).

Das Stachelschwein meines Nachbarn meiner Träume

„Ich habe gehört, du wärst gestürzt und dein Gesicht sei vollkommen entstellt!“ So und ähnlich tönte es mir entgegen, als ich unlängst in Bremen sommerte. Das kommt davon, wenn man hier mal was bloggt und da mal so Andeutungen über seinen Gesundheitszustand macht (nicht gut, aber auch nicht überaus besorgniserregend). Hierzu stelle ich fest: Die Verletzungen meines Sturzes sind längst auskuriert, und die Blessuren abgesehen von einer Verfärbung des rechten Knies und einer klitzekleinen Narbe über dem rechten kleinen Finger verblasst. Ich hatte sogar zaghaft bereits wieder ein paar Dauerläufe unternommen, bevor mich die nächste Unglücksverkettung ereilte, auf die ich nun nicht näher eingehen möchte. Nicht aus Diskretionsgründen, sondern weil es mich mittlerweile selbst langweilt. Nur eins: Mein Gesicht war nie in Mitleidenschaft gezogen; das sah schon immer so aus (Sie wissen schon, frei nach den alten Meistern: Maske-welche-Maske).

Sehen wir die positive Seite: Tabletten. Ich nehme am Tag 14 bis 15 ½ davon und bin überzeugt, dass mindestens eine dafür verantwortlich ist, dass ich in letzter Zeit nahezu verlässlich jede Nacht recht intensiv träume. Und das habe ich auch verdient, denn ich finde selten vor sieben Uhr morgens Schlaf (die ‚Nacht‘ im vorangegangenen Satz ist also relativ). Das wiederum liegt nicht an Krankheit oder Medikamenten, sondern an meiner Tochter, die diesmal der Jetlag voll erwischt hat. Vor 5:30 fällt ihr kein Auge zu, deshalb bleiben wir gemeinsam auf und gucken alternierend School Meals Time und The Caped Crusader, denn Gefälligkeiten sind keine Einbahnstraße.

Ich selbst hätte keine Schwierigkeiten, zu üblichen Spießerzeiten einzuschlafen, aber wenn Hana endlich müde wird, bin ich wieder hellwach, und es dauerte eine Weile, bis ich ins Reich der intensiven Träume entschwinden darf. Davon möchte ich heute gerne erzählen. Denn was ist mir geblieben, außer meinen Träumen? Wir sind nun zurück aus dem wohltemperierten Europa mit seiner herrlichen Knipp-Cuisine und seinen reuelosen Outdoor-Verlustierungen. Zurück in dem Land, in dem man bis Oktober nicht das Haus verlassen sollte und mit Appetit nur kalte Nudeln und halb gefrorenen Wackelpudding essen kann.

Letzte Nacht träumte ich, mein Nachbar hätte ein Stachelschwein. Allerdings nicht lange, denn eines Tages verschwand er und ließ das Tier auf meiner Türschwelle zurück. Zuerst war ich gar nicht begeistert, aber dann ging es: Ich nahm das Stachelschwein überall mit hin, und es wurde ein großer Erfolg in meinem sozialen Umfeld. Mit so einem Stachelschwein ist man einfach überall gern gesehen.

Wann und wo genau mein Traum spielte, ist, wie es oft in der Natur der Träume liegt, nicht klar auszumachen. Ich war jedenfalls eine jüngere Version meiner selbst, ungebunden und mit vollem Haar (also eher eine völlig fiktive Version meiner selbst). Ich „ging“ noch regelmäßig zur „Arbeit“ (irgendwas mit Online) und hatte es romantisch auf eine neue Kollegin „abgesehen“, die meinem Absehen äußerst wohlwollend gegenüberstand (definitiv eine fiktive Version meiner selbst). Jeden Morgen holten mein Stachelschwein und ich sie mit dem Fahrrad von dem Bauernhof ab, auf dem sie lebte (ich und Fahrrad! lächerlich!), um gemeinsam ins Büro zu radeln. Wir fuhren auf Fahrradwegen, also wahrscheinlich nicht in Japan. Andererseits dachte ich im Traum einmal, ich würde gern mal wieder eine richtig leckere Tiefkühl-Pizza essen, aber „hier“ gäbe es ja nicht so gute. Also vielleicht doch Japan.

Wir (die Kollegin und ich) einigten uns auf ein sogenanntes „Date“, also ein außerberufliches Abendtreffen mit Speisen und Getränken und unverfrorenem Blickkontakt. Gerade an jenem Tag wurde das Stachelschwein krank. Ich brachte es zum Tierarzt, der mir schwere Vorwürfe machte ob der Verwahrlosung des Tieres. Ich wies die Vorwürfe entschieden zurück: Ich hatte das Schwein erst seit kurzem und mich im Rahmen meiner Möglichkeiten exzellent und liebevoll darum gekümmert. Die Verwahrlosung musste auf den Vorbesitzer zurückgehen. Der Arzt zog sich mit dem Stachelschwein in den OP zurück, und ich wartete. Währenddessen kam immer wieder anderes medizinisches Personal auf mich zu, um mir ebenfalls Vorwürfe ob der Stachelschweinverwahrlosung zu machen, was mich so langsam fuchsteufelswild machte.

Es wurde immer später, und ich musste bald zu meinem Date aufbrechen, idealerweise natürlich mit Stachelschwein. Ich war mir zwar sicher, dass meine Kollegin mich auch ohne ganz gut fand, aber ich wollte das Tier nicht allein lassen, einfach so. Es war schließlich schon einmal einfach so allein gelassen worden.

Wie es ausging? Kennen Sie etwa keine Träume? Wenn es zu kompliziert oder interessant wird, geben die einfach auf. Deshalb eignen sie sich auch so gut wie nie als Vorlagen für literarische Arbeiten. Alles muss man selbst machen. Oder KI.

Ich wachte auf, morgens gegen 14 Uhr, und fand meine Tochter neben mir (am Wochenende ist immer Familienschlafen). Ich erzählte ihr: „Ich habe geträumt, ich hätte ein Stachelschwein.“ Ich dachte, das würde sie höchst erfreuen, denn sie liebt Stachelschweine.

Sie lächelte nur matt und nickte knapp. Als wollte sie sagen: „Normal.“

Darf man noch den Titel von R. Kellys größtem Hit zitieren, wenn man sich ganz spektakulär auf die Schnauze gelegt hat und es einfach total passen würde?

Ich habe hier eine klassische Gute-Nachricht/schlechte-Nachricht-Konstellation:

Gute Nachricht: Ich laufe inzwischen wieder recht regelmäßig. Mein Arzt hat mich quasi herausgefordert. Er liegt mir doch recht häufig mit meinem Gewicht in den Ohren und will wissen, was ich dagegen tue. Ich sage dann immer: „Ich laufe jetzt wieder.“ Eine Zeit lang war das nur so dahingesagt; ein unverbindlicher, hinterlistig im Präsens formulierter Zukunftsplan.

Er sagte dann immer so dahin: „Es ist sehr schwer, durch sportliche Aktivität Gewicht zu verlieren. Am besten ist es, die Ernährung umzustellen.“

Ich dann natürlich, innerlich: „Pustekuchen! Ich werde doch nicht auf meine zwei bis drei vermutlich käselosen Faserkäse-Riegel nach Mitternacht verzichten! Für irgendetwas muss es sich doch lohnen, zu leben!“

Und so fing ich tatsächlich wieder mit dem Laufen an, um meinem Arzt unter die Nase zu reiben, zum Wirken welcher Wunder der menschliche Körper im Stande ist, wenn ihm nur ein entschlossener Geist innewohnt.

Schlechte Nachricht: Letzten Donnerstag bin ich dabei hingefallen. Nein, das klingt so negativ. Ich bin hingeflogen, nahezu buchstäblich, obwohl nicht allzu lang, denn wir Menschen können nicht fliegen, das ist keine Glaubensfrage. Während ich so mit beiden Füßen und dem Rest des Körpers in der Luft war, und sich meine Zeitwahrnehmung dehnte, als mir bewusst wurde, dass ich nicht auf den Fußsohlen aufkommen würde, klang Morrissey aus meinen Ohrstöpseln, aber im Kopf hatte ich R. Kelly. Ich dachte noch: Eine Gesellschaft fragwürdiger als die andere. Und dann schlug ich vollfrontal auf das harte Pflaster der Großstadt (na gut, eines beschaulichen Vororts, dennoch genauso hart), die Extremitäten von mir gestreckt wie in einer Cartoon-Version menschlichen Hinfallens.

Ich hatte ein Unebenheit auf der Straße übersehen. Beziehungsweise eben nicht auf der Straße, sondern auf dem Fußweg, den ich normalerweise gar nicht benutze, wenn ich laufe. Nur in dieser dunklen Nacht hatte ich mir gedacht: Heute mal auf Nummer Sicher laufen.

Fußwege sind ja hierzulande meist eh nur nett gemeinte, symbolische Streifchen am Straßenrand. Nur leider bei uns nicht. Da gibt es mitten auf der Straße einen begrünten, abgezäunten, zweispurigen, separat asphaltierten Fußweg. Allerdings, wie sich herausstellte, nicht allzu einheitlich asphaltiert.

Es war nichts gebrochen, soweit ich das ohne meinen Arzt beurteilen konnte, aber nahezu der gesamte Körper ein einziger eiternder, blutender, aufgeschürfter blauer Fleck.

Dennoch war ich von dem Wahrscheinlich-nichts-gebrochen-Aspekt so begeistert, dass ich im ersten Moment wie ein traumatisierter Irrer den Gedanken hatte, ich könnte nach einer kurzen Verschnaufpause einfach weiterlaufen.

Ich konnte gerade mal so, tropfend und schmerzend, nach Hause humpeln. Glücklicherweise war ich zum Zeitpunkt des Unfalls noch nicht allzu weit gekommen. Der einzigen Passantin, die zu der späten Stunde, in der ich gewohnheitsmäßig erst Zeit für frivolen Schlendrian wie Sport habe, auf der Straße war, warf ich einen festen Blick zu, der sagen sollte: Keine Sorge, ich bin in Ordnung. Sie blickte etwas belustigt zurück. Das fand ich dann doch unangemessen. Sooo in Ordnung war ich ja nun offensichtlich auch wieder nicht.

Daheim demonstrierte meine Frau ihre prophetischen Fähigkeiten, als sie sagte: „Morgen wird es mehr wehtun.“

Am nächsten Tag konnte ich fast alles machen: Sitzen, liegen, stehen, gehen. Nur die Übergänge zwischen diesen Tätigkeiten waren mit enormen Schmerzen verbunden und konnten somit nur in unwürdigem Zeitlupengewackel vollzogen werden. Am Frühstückstisch sagte ich meiner Tochter: „Für heute schreibe ich mich krank.“

„Wie?“, fragte sie zurück.

„Ich bin ja erwachsen. Ich kann das einfach so machen.“

Offensichtlich fand sie ihre Frage nicht erschöpfend beantwortet. Doch sie ist nun neun Jahre alt, geht also mit weit ausholenden Schritten auf die Pubertät zu, und ist nur noch bedingt an väterlichen Erläuterungen interessiert.

Das Gute an einem offiziellen Krankheitstag ist, dass man ohne schlechtes Gewissen Dinge ein weiteres Mal aufschieben kann, die man schon seit längerem aufschiebt. Saubermachen zum Beispiel (zu viel bücken involviert), oder endlich eine neue Bratpfanne kaufen (Bratpfannenladen zu weit weg). Der Kauf einer neuen Bratpfanne will ohnehin wohlüberlegt sein, den kann man nicht in ein oder zwei Monaten übers Knie brechen. Frauen verstehen das aber manchmal nicht.

Das Beste allerdings an einem offiziellen Krankheitstag ist, dass man endlich mal zum Arbeiten kommt. Zum ersten Mal seit langem habe ich MIT SPASS das tägliche Seitensoll meiner beiden Hauptbuchprojekte geschafft und hatte darüber hinaus noch Zeit für einen sehr reellen Mittagsschlaf, eine besonders haarige X-Com-2-Mission mit Bestnote und ohne personelle Verluste und ein paar weitere zähe Minuten von Killers of the Flower Moon. Außerdem konnten wir endlich einmal wieder unseren Verbandskasten auffüllen, was wir zugegebenermaßen ein wenig haben schleifen lassen, seit das Kind sich für eine intellektuelle Laufbahn entschieden hat und sich nicht mehr ganz so häufig verletzt.

Ich erlaubte mir sogar einen vorsichtigen Spaziergang zum Convenience Store für ein Mittagessen, von dem mein Arzt nichts wissen muss. Dabei kam ich an der Stelle vorbei, an der es passiert war. Ich war ein wenig enttäuscht, dass dort keine Blutflecken mehr zu sehen waren. Aber man kann nicht alles haben. Insgesamt betrachtet kein schlechter Tag.

Mein Fazit: Alles richtig gemacht.

Das Beste aus meinem schrecklichen Lesejahr

Normalerweise veröffentliche ich die Jahresbestenliste meiner Lektüren nur auf meiner Facebook-Seite, und damit hat sich’s. Aber ach, ich hatte ein furchtbares Lesejahr, und ich möchte darüber reden, und auf Facebook fasse ich mich lieber kurz.

Ich habe in diesem Jahr so wenige Bücher gelesen wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2000. Ein triftiger Grund ist schwer auszumachen. Es war ein gutes Schreibjahr, im Gegensatz zum annus horribilis 2022, in dem Verlage keine neuen Bücher kauften und Leser keine alten. Das hat sich beides wieder eingerenkt, vielen Dank.

Geschrieben habe ich sehr fleißig, doch gelesen habe ich wie ein blutiger Anfänger. Habe normal viele Bücher gekauft (also zu viele), aber kaum eines beendet. Und wenn doch, dann oft die falschen. Habe stur an Texten festgehalten, die mir bereits nach wenigen Seiten signalisiert hatten, dass sie mich nicht packen werden. Oder habe versucht, weiter durch den trägen Lesesumpf von Wälzern zu waten, in denen schon seit Jahren meine Lesezeichen nahezu unbewegt steckten, was ja meistens seine Gründe hat. Ich würde gerne auch Videospielen und Fernsehserien die Schuld an der mageren Ausbeute 2023 geben, allerdings bin ich bei Videospielen und Fernsehserien ebenfalls nicht recht weitergekommen.

Aber genug von all dieser Negativität. Im nächsten Jahr wird alles besser. Hier kommen die zehn Lektüren, die meinen Glauben aufrecht erhalten haben, in Lesereihenfolge. Mit launigen Kommentaren, doch ohne ausführliche Beschreibungen oder tiefgehende Analysen. So redselig fühle ich mich auch wieder nicht.

Lustige Geschichte: Ich habe dieses Buch aus Versehen gekauft. Ich hatte es mit einem anderen verwechselt. Es hat mir so gut gefallen, dass ich inzwischen ganz vergessen habe, welches ich eigentlich kaufen wollte.

In meinem bislang undiszipliniertesten Lesejahr dieses Jahrtausends habe ich zwei Regeln dieser Liste gebrochen: „Keine Comics“ und „keine Hörbücher“. Streng gesehen ist dies ein Comic. Dagegen habe ich freilich nichts, allerdings folgen Comics gänzlich anderen erzählerischen Gesetzen als reine Prosa, deshalb sollte man da fein trennen. Hier jedoch drücke ich ein Auge zu, weil der Text beinahe auch ohne die Zeichnungen als ein wunderbar warmherziges Showbiz-Memoir funktionieren würde. Schön natürlich, dass die Bilder trotzdem da sind.

Klar bin ich nur durch die ganz vorzügliche Fernsehserie darauf aufmerksam geworden. Nach der Lektüre fand ich die Fernsehserie nach wie vor ganz vorzüglich, aber das Buch noch vorzüglicher. So vorzüglich, dass ich es und seinen Autor in meinem eigenen neuen Buch name-droppe, auf gut Deutsch gesagt. Als ob sie das nötig hätten. Aber Name-Dropping dient ja immer nur den Droppenden, nicht den Gedroppten.

Ich hatte übrigens in meiner Jugend bereits die Billardromane von Tevis gelesen, Haie der Großstadt und Die Farbe des Geldes. Ich hatte damals allerdings nur so getan, als fände ich sie ganz vorzüglich. Vielleicht sollte ich sie vor dem Hintergrund meiner erlangten Altersweisheit noch einmal lesen.

Mir gefiel Cosbys Razorblade Tears (dt.: Die Rache der Väter) seinerzeit so fantastisch, dass ich mich lange nicht getraut habe, etwas anderes von ihm zu lesen. Ich hatte Angst, enttäuscht zu werden. War völlig unbegründet, wie sich herausstellt. Im fortgeschrittenen Alter noch einen neuen Lieblingsautor zu entdecken, das ist schon ein Geschenk. Um zum besinnlichen Jahresausklang mal eine angemessen schleimige Formulierung zu bemühen.

Michael Connelly ist einer dieser sehr produktiven und sehr verlässlichen Kriminalromanautoren, bei denen man eigentlich blind zuschlagen kann. Vielleicht habe ich deshalb in meinem von Unentschlossenheit geprägten Lesejahr gleich viermal zugeschlagen, jedes Mal ohne es zu bereuen. Dieses Buch sticht heraus: Es ist weit mehr als nur vollkommen befriedigende Stangenware. Würde Connelly seltener Bücher veröffentlichen, und wären die wenigeren mehr wie dieses, würde das Feuilleton ihn nicht nur in der Alibi-Krimispalte preisen. Aber ich bin ganz froh, dass er sich nicht nur auf die Meisterwerke konzentriert. Ich brauche produktive und verlässliche Autoren, denen ich blind vertrauen kann, wenn ich als Leser mal nicht weiterweiß.

Damit wir uns richtig verstehen: Ich bin allzeit bereit, die Lieblingsgenres meiner Kindheit und Jugend (Science-Fiction, Fantasy und Horror, in dieser Phasenreihenfolge) gegen jede Form von literarischem Snobismus zu verteidigen. Nicht mit meinem Leben, ich bin ja nicht blöd, aber mit Argumenten und Beleidigungen. Ebenso ist wahr: Meine Loyalität fußt vor allem auf Nostalgie. Heutzutage finde ich in diesen Bereichen nur noch selten etwas, das mich über mehrere Kapitel hinweg fesseln könnte (in beiläufiger als Bücher zu konsumierenden Darreichungsformen sieht es anders aus). Es liegt nicht an den Genres, es liegt an mir. Mir fehlt der alte Eifer, das Überangebot zu durchfiltern (aus diesem Grund kenne ich auch keine coolen, jungen Indie-Bands mehr, obwohl es bestimmt welche gibt). Wie schön, wenn einem doch mal wieder ein Fang ins Netz geht. Ich bin erst in diesem Jahr mit Fonda Lees Trilogie fertig geworden, weil ich das Ende so lange wie möglich hinauszögern wollte. Und als es dann vorbei war, habe ich die mittlerweile erschienene deutsche Übersetzung als Ausrede genommen, gleich wieder von vorne anzufangen.

Die Jade-Trilogie wird gemeinhin mit klassischen Hongkong-Gangsterfilmen verglichen. Wahrscheinlich stand das mal in irgendeinem Pressetext, und Nachplappern ist ja immer einfacher als eigene Meinung. Ich würde eher sagen, es ist eine Mischung aus Der Pate und Matrix vor dem Hintergrund einer faux-asiatischen Urban-Fantasy-Welt. Wenn das kein geschmeidig runtergehender PR-Slogan ist, weiß ich auch nicht.

Schnell mal nachgezählt: Ich habe bislang 17 Nothombs gelesen, davon haben mir zwei nicht gefallen. Dies ist einer der anderen 15.

Ja, das hat damals jeder und seine Mudder gelesen. Ich war aber gerade in dem Alter, in dem man dezidiert nicht das liest, was seine Mudder liest. Ich war eher in dem Alter, in dem man Bukowski oder Kerouac oder so einen Quatsch liest.

Hatte Mutter wieder mal recht, genau wie bei der Sache mit dem Mützeaufsetzen. Ich verstehe nun auch, warum Süskind danach keinen weiteren Roman geschrieben hat. Bringt ja nichts. (Und auch hier war ich mir nicht zu schade, den Namen in meinem eigenen neuen Buch zu droppen. Dort war er mir allerdings in erster Linie wegen Monaco Franze eingefallen.)

Um ein Haar hätte ich dieses Buch nicht gelesen, weil es im Feuilleton oft so dargestellt wurde, als ginge es hier 600+ Seiten lang um Bäume. Geht es auch, eigentlich. Oberflächlich spielen zum Glück auch Menschen mit. Aber die Bäume sind die, die bleiben. Ein Buch, das tatsächlich meine Sichtweise auf einiges verändert hat. Auf Bäume, sicherlich, aber auch auf alles, was damit zusammenhängt. Also auf alles.

Das letzte Buch der Liste ist ihre zweite Ausnahme, ich habe es nämlich gegen meine Gewohnheit lediglich als Hörbuch gehört. Die Gründe dafür wären hier zu kompliziert zu erklären (okay, Audible-Lockangebot). Obwohl es kein Schreibratgeber ist, hat es mir enorm bei meinen eigenen Schreibarbeiten in diesem Jahr geholfen, ganz einfach weil man merkt, wie ernst Milch seine Arbeit nimmt. Davon kann man sich bei Bedarf eine Scheibe abschneiden, wenn man Gefahr läuft, den Autopiloten anzuwerfen oder sonst wie den bequemeren Weg zu nehmen. Außerdem hervorragend gelesen von Michael Harney, der so anrührend vom Leben gezeichnet und gebrechlich klingt, wie es der Autor wohl inzwischen ist. (Ich habe Harney mal gegoogelt, er sieht eigentlich ganz gesund aus.)