Mein Halloween mit Halloween

Die Jüngeren wissen es vielleicht noch nicht: Ich kann Halloween nicht leiden. Weder das kulturell entwurzelte Importfest, diese Horror-Amateurveranstaltung (alternativer Bindestrich: Horroramateur-Veranstaltung), noch die Filmserie, die niemals eine hätte werden dürfen. Also bekomme ich zur Halloween-Zeit immer ganz miese Laune und hervorragende Ideen, diese noch zu steigern. Diesmal: Warum gucke ich mir nicht mal wieder alle Halloween-Filme an? Und falls damit nicht genug Zeit verschwendet sein sollte: Warum schreibe ich nicht meine Gedanken und Gefühle dazu in meinen Blog hinein?

Ganz so schwer wollte ich es mir dann allerdings doch nicht machen und beschloss, mich allein auf die erste Staffel zu konzentrieren (1978 – 1995). Die Rob-Zombie-Filme habe ich stets gemieden und möchte es dabei belassen. Ich nehme Rob Zombie ab, dass er Horrorfan ist. Horrorregisseur ist er nicht. Und die aktuelle Trilogie ist mir zu aktuell, darüber mache ich mir in frühestens dreißig Jahren Gedanken. H20 von 1998 habe ich als „ganz gut“ in Erinnerung, und gute Filme sind hier nicht Sinn der Sache.

Außerdem hatte ich beschlossen, nicht in chronologischer Reihenfolge vorzugehen, sondern in lustbasierter. Los ging es (nerviges Synthie-Gegniedel setzt ein) mit Halloween II: Das Grauen kehrt zurück von 1981, weil ich den Verdacht hatte, diesem Film zeit meines Lebens Unrecht getan zu haben. Das erste und bislang einzige Mal sah in ihn als Teil einer Gruppe betrunkener männlicher Teenager in der VHS-Ära. Es war nicht der erste Film des betreffenden Abends, und ich muss wohl eingeschlafen sein. In jugendlicher Arroganz rechnete ich das stets dem Film an, nicht etwa dem Dosenbier.

Diesmal blieb ich wach. Schönster Moment des Films: Nachdem die Trottel vom Haddonfield PD auf der Jagd nach Michael Myers gerade versehentlich einen unschuldigen minderjährigen Passanten überfahren und in Brand gesteckt haben (damals explodierten amerikanische Polizeiautos ja noch sofort bei Zusammenstößen mit Fußgängern), damit der meschuggene Dr. Loomis ihn nicht abknallen kann, hält sich keiner der Beteiligten lange mit Gewissensbissen, Schuldgefühlen oder Selbstkritik auf. Auch später, als kein Zweifel mehr daran besteht, dass der Falsche verschmort wurde, legen die Männer eine bemerkenswert gelassene „Tja, dumm gelaufen“-Attitüde an den Tag.

Schönster Dialog außerhalb des Films:

Ehefrau: „Oh, ist das Sigourney Weaver?“

Ehemann: „Nein, die andere.“

Ehefrau: „Ach ja, genau.“

Gut, ist vielleicht nicht gerade Shakespeare. Dasselbe lässt sich allerdings auch über die Dialoge in Halloween II sagen. Über die Handlung sowieso. Die einzige Überraschung ist, dass Laurie sich als die Schwester von Michael herausstellt. Darauf baut der gesamte Rest der Serie auf, und damit wäre Halloween II so etwas wie das Das Imperium schlägt zurück unter den Halloween-Filmen.

Ich bin übrigens fest davon überzeugt, dass Das Imperium schlägt zurück von den sogenannten Star-Wars-Fans in der Luft zerrissen würde, käme derselbe Film heute raus. Zu viele unvorhergesehen Wendungen und Enthüllungen. Die massive Amateurkritik an Die letzten Jedi ist schließlich nahezu komplett erfasst mit: „In unsrem Alter möchten wir um Gottes Willen von nichts mehr überrascht werden und nichts erfahren, was über unsere eigenen Spekulationen hinausgeht.“ Aber das nur am Rande; hier soll es ja, wie gesagt, nicht um gute Filme gehen.

Obwohl ich gestehen muss, dass mir Halloween II als aufs Wesentliche reduzierte Vintage-Unterhaltung durchaus gut gefallen hat. Wenig Handlung, wenig Figurenentwicklung, wenige dramaturgische Durchhänger. Danach hatte ich tatsächlich doch ein bisschen gute Laune und Lust bekommen, weiterzumachen. Also nach Teil 2 gleich Teil 4.

War der zweite Film mental und ästhetisch noch fest in den geschmackssicheren 70ern verankert (kulturell lassen sich Dekaden ja nicht nach Kalenderangaben trennen), so ist Halloween IV: Michael Myers kehrt zurück voll und ganz in den 80ern angekommen. Das merkt man schon daran, dass die neue Protagonistin keine Halbstarke ist, sondern ein waschechtes Kind. Die kleine Danielle Harris macht ihre Sache sehr gut. Leider kann ich das von den Großen nicht behaupten. Wer auch immer das Drehbuch geschrieben hat (es nachzuschlagen, wäre zu viel der Ehre), hat sich rein gar nichts einfallen lassen. Die Handlung ist mit dem Filmtitel erschöpfend zusammengefasst. Ein Großteil der Morde findet abseits der Kamera statt. Merke: Was in einer Agatha-Christie-Verfilmung funktioniert, funktioniert nicht zwangsläufig in einem Slasher-Film.

Optisch merkt man dem Film sein Alter beziehungsweise seinen Mangel an Alter daran an, dass sich die Verantwortlichen hier bereits bewusst gewesen sein mussten, dass er im Kino nicht viel reißen würde. Mit vielen Nahaufnahmen und Halbtotalen und einer Farbdramaturgie ohne Eier in der Hose ergibt sich Halloween IV den Anforderungen des Heimkinomarktes. Dass die Fernseher mal größer, breiter und hochauflösender würden, konnte damals noch keiner ahnen. Selbst wenn, hätte es wohl keinen Unterschied gemacht, denn dieser Film war bestimmt nicht für die Ewigkeit gedacht. Dass er dennoch überdauert hat, ist ein Irrtum der Geschichte.

Gott sei Dank hatte ich nun wieder schlechte Laune, also gleich weiter mit Halloween V: Die Rache des Michael Myers. Danielle Harris ist wieder die Wucht in Tüten, und der Film ist um einiges dynamischer erzählt als sein Vorgänger, aber in meinem Zustand konnte man mir gar nichts rechtmachen. Viel zu hektisch und hysterisch das Ganze. Was soll das denn um diese Uhrzeit? Die Leute wollen schlafen!

Also mittendrin umgeschaltet zu Halloween III, dem einzigen Film der Serie, den ich noch nie zuvor gesehen hatte, und der einzige Film der Serie, der kein Film der Serie ist, sondern nur so heißt. Über ihn wurde damals nach dem ersten Schock so ausdauernd und beharrlich behauptet, dass er total unterbewertet sei, dass er heute total überbewertet ist. Mich erinnerte er ein wenig an die Fernsehserie Evil, nur ohne das sympathische Ermittlertrio. Und ohne all die anderen Qualitäten.

Bald hatte ich etwas viel Besseres gefunden, als Halloween III zu gucken: So lange immer wieder stupide die Aktualisieren-Schaltfläche des Browsers zu bedienen, bis die nächste Staffel von Evil endlich auftauchte.

Also erst mal zwei Folgen Evil, dann weiter mit Halloween III. Das ging mir alles viel zu langsam. Also zurück zu Halloween V. War leider immer noch nicht besser geworden. In seinen schlimmsten Momenten, und das sind nicht wenige, wirkt dieser Halloween-Film wie ein Freitag-der-13.-Film. Ich weiß, das klingt gemein, aber es ist wahr.

Der eine Film langweilte mich, der andere nervte. Und nachdem ich wegen Kurzurlaub eine zweitägige Halloween-Zwangspause einlegen musste …

… sah ich die Lösung meines Problems klar vor meinen Augen: Einfach aufgeben! Niemand zwang mich!

So kam es, dass ich nach der Heimkehr sofort alle Halloween-Filme aus meiner Liste löschte, die danach weitaus verführerischer aussah. Ich würde Teil 3 und 5 nicht mehr zu Ende sehen, und mit Teil 6, dessen Existenz ich im Vorfeld völlig vergessen oder verdrängt hatte, ebenso wenig anfangen wie mit dem ersten, den ich bisher in keinem Lebensalter mehr als „ganz okay“ zu finden gelernt habe (oh, was habe ich es versucht).

So fühle ich mich nun wieder frei. Der Fluch des Michael Myers ist nahezu buchstäblich von mir genommen. Genauso wie „die Rückkehr“ und „die Rache“. Ich kann mich nun wieder angenehmeren Projekten widmen, beispielsweise meinen geplanten Subspecies– und Maniac Cop-Retrospektiven. Und ich kann mich auf erfreulichere Feiertage freuen.

Tarako Shampoo

Das da oben wäre ein guter Titel für eine schrullige kleine Independent-Film-Dramedy, finde ich. Eine Story wird sich schon ergeben. Vielleicht etwas über irgendeinen Mann, der sich in irgendeiner Krise befindet (Midlife? Quarterlife?) und eines Tages eine herrlich verrückte junge Frau mit kurzen Haaren kennenlernt (U-Bahn? Schnellimbiss?), die sein Leben ganz schön auf den Kopf stellt (aus der Bahn wirft? durcheinanderwirbelt?). Zum Schluss ist die Frau wieder weg, weil man Paradiesvögel nicht in Käfige sperren kann, und der Mann ein kleines bisschen wehmütig. Aber die Krise immerhin ist vorbei, und er kann die Welt mit neuen Augen sehen. Sundance Publikumspreis.

Aber genug von Tarako Shampoo, reden wir über Weihnachtsfilme. Sie schauen ja hoffentlich auch seit mindestens vier Wochen nichts anderes. Sollten Sie noch nicht angefangen haben, wird es höchste Eisenbahn. Mit diesem kurzen, unvollständigen Ausschnitt aus meiner diesjährigen Weihnachtsfilmkonsumhistorie möchte ich teils anregen, teils warnen.

Unsere Saison begann mit einem kleinen Familienstreit. Meine Frau und ich waren uneins, welcher Film missratener wäre: Last Christmas (basierend auf den Werken George Michaels) oder The Family Stone (basierend auf einem Drehbuch von Außerirdischen, die noch nie einem Erdenmenschen begegnet sind). Ausnahmsweise musste meine Frau meiner Argumentation schließlich zustimmen: Beide Filme sind Schmarrn, aber Last Christmas ist zumindest aufrichtiger Schmarrn, der nicht vorgibt, irgendetwas anderes zu sein. The Family Stone hingegen versucht sich am großen amerikanischen Familiendrama, kommt jedoch nur bei Figuren an, die einander und vor allem den Zuschauern gehörig auf die Nerven fallen. Ungeachtet der offensichtlich hohen Ambitionen wird das Ganze als volksnahe Komödie verkauft, deshalb fällt zweimal jemand hin.

Last Christmas hat zunächst nur peripher etwas mit den Liedern von George Michael zu tun. Wird einer unsanft aus dem Schlafe geweckt, läuft halt … Sie wissen schon. Bis man am Schluss voller Freude über so viel Mut zum Schmalz feststellt, dass der Titelsong bereits einen RIESEN-SPOILER (!!!) enthält: „Last Christmas, I gave you my HEART…“ Ein Hoch auf die wortwörtliche Interpretation! Der ganze Filme quasi eine Nachricht von Sam äh Tom! The Sixth Sense! Fight Club! Und alles als romantische Weihnachtskomödie! Aber ich möchte nicht zu viel verraten.

Alle Jahre wieder schmeißt uns Netflix gefühlt ein paar hundert lieblos und dilettantisch runtergekurbelte Weihnachtsfilme unter den Baum und lässt uns hoffnungsvoll nach dem einen qualitativen Ausreißer suchen. Single All The Way war er es schon mal nicht. Der Titel-Single lebt wegen Beruf und Lebensstil in San Francisco. Als er zum Weihnachtsfest in die kleinstädtische Heimat fährt, nimmt er aus Gründen, die ich bereits wieder vergessen habe, seinen Mitbewohner und besten Freund mit. Im Kleinstadtidyll müssen die beiden freilich – ganz langsam und gegen innere Widerstände – einsehen, dass es vielleicht etwas noch Besseres als Freundschaft zwischen ihnen geben könnte.

Es ist schwierig, etwas Gemeines über einen Film zu sagen, der so gut gemeint ist, und in dem alle Menschen so nett zueinander sind. Also werde ich das auch nicht tun, schon gar nicht so kurz vor Weihnachten.

In The Happiest Season ist im Vergleich zu Jingle All The Way einiges umgekehrt: In die Kleinstadt reisen zwei junge Frauen statt Männer, sie sind bereits ein Paar, statt grenzenloser Offenheit gibt es Geheimnisse über Geheimnisse, und alle Beziehungen sind so konfliktbeladen, dass man meinen könnte, diese Menschen wären bei anderen Menschen besser aufgehoben. Trotzdem habe ich mir das über weite Strecken gerne angesehen. Vielleicht wegen der nerdigen Schwester, die an ihrem Fantasy-Romanepos arbeitet, oder Daniel Levi, der hier glücklicherweise dieselbe Rolle spielt wie in Schitt’s Creek, nur unter anderem Namen (man kann mir nichts vormachen). Man muss den Film schon für eine sehr angestrengt vorbereitete Pointe lieben, bei der sich eines der Mädchen in einem Wandschrank versteckt, nur damit die Dame des Hauses bei Entdeckung fragen kann: „What are you doing in the closet?“ (Tsching-bum.)

Der sehenswerte Netflix-Überraschungsweihnachtsfilm in diesem Jahr heißt leider Love Hard, er ist für Menschen mit Niveau und Anstand also besonders leicht zu übersehen, klingt der Titel doch nach einer dieser Spritz- und Gröl-Komödien für ungezogene Kinder. Es handelt sich dabei um eine Verquickung von Love Actually und Die Hard. Darauf bin ich allerdings auch erst einige Zeit nach Filmende gekommen. Als Titel also nicht ideal. Zumal die ewige Menschheitsfrage, welcher der beiden dabei vermischten Filme der beste Weihnachtsfilm aller Zeiten wäre, in Love Hard zwar durchaus verhandelt wird, aber kaum eine derart zentrale Rolle spielt, dass man gleich den ganzen Film danach benennen müsste. (Welchen deutschen Titel hat Love Hard eigentlich erhalten? Liebe langsam?)

Von Inhaltsangaben halte ich noch weniger als von hypersensibler Spoiler-Hysterie, also sehen Sie selbst:

Zum Schluss kriegen die beiden sich übrigens. Wunderschöne Szene, die dann tatsächlich Schlüsselszenen aus Love Actually und Die Hard verquickt. Hätte man trotzdem anders nennen können.

Dieses Jahr habe ich selbst einmal den Direktvergleich Die Hard vs. Love Actually gemacht. Dabei ist herausgekommen, dass beide herausragende Vertreter ihrer Gattungen sind, ich Die Hard aber schon dermaßen auswendig kenne, dass ich mir nicht mehr einreden kann, der Spaß daran sei ungetrübt. Einmal pro Jahr Love Actually sollte derweil nicht zu viel verlangt sein. Und bitte laut mitsingen.

Überhaupt: Wer glaubt, Die Hard sei ein Weihnachtsfilm, der glaubt auch, Coco-Cola hätte den Weihnachtsmann erfunden. Beides typische Klugscheißer-Meinungen und allenfalls Fakten der alternativen Sorte. Echte Fakten: Nicht jeder Film, der an Weihnachten spielt, ist ein Weihnachtsfilm, und den Weihnachtsmann gibt es bereits seit 1821 in Rot und Dick und mit Rentieren. Coca-Cola gibt es erst seit 1886 und den Coco-Cola-Weihnachtsmann erst seit 1931. Yippie Yah Yei, Schweinebacke.

Ebenfalls kein Weihnachtsfilm ist The Advent Calendar, wie sich herausstellt. Gefunden habe ich ihn beim auf Horror spezialisierten Streaming-Dienst Shudder, also hatte ich schon so einen Verdacht. Über Shudder dachte ich immer: Die haben nur zwei Sorten von Filmen: Solche, die ich bereits unzählige Male gesehen habe, und solche, die ich kein einziges Mal sehen möchte. Über normalerweise gut unterrichtete Quellen (Kommentare in Horrorfan-Facebook-Gruppen) war mir derweil zu Ohren gekommen, dass es dort doch zwei oder drei Titel gäbe, für die ich mich schon lange interessierte, wenngleich nicht genug, um sie mir für viel Geld als Hardcopy aus Übersee kommen zu lassen. Man weiß ja, wie das läuft mit diesen Streaming-Diensten: Man denkt sich: Die paar interessanten Filme reiß ich in der Gratiswoche runter, danach sehen die mich nie wieder. Dann allerdings findet man ein paar interessante Filme mehr und entscheidet: Gut, einen Monat kann ich das ruhig bezahlen, aber dann bin ich raus aus der Sache. Und schließlich findet man: Auf ein Abo mehr oder weniger kommt’s jetzt auch nicht mehr an, und Hulu macht’s bestimmt eh nicht mehr lange.

The Advent Calendar ist jedenfalls ein französischer Horrorfilm über einen bösen deutschen Adventkalender. Als Maso-Deutscher liebte ich ihn bereits, bevor ich ihn gesehen hatte. Danach allerdings nicht mehr ganz so sehr. Man erwartet von französischen Horrorfilmen ja entgegen allzu vieler Belege immer, dass sie irgendwie substanzieller, existenzieller, zumindest aber transgressiver als der Bubblegum-Horror amerikanischer Machart daherkämen. The Advent Calendar ist leider so konventionell, dass ich fest damit gerechnet hatte, dass aus dem letzten Türchen Freddy Krueger springen und irgendwas Lustiges sagen würde. Die einzige Überraschung war, dass das nicht passierte.

Gleich zwei Weihnachten-Origin-Storys gibt es auf Netflix: Klaus und A Boy Called Christmas (in christlich geprägten Kulturgegenden noch nicht auf Netflix, wie ich hörte). Klaus geriert sich so lange in banalem Klamauk und ausgemachter Tristesse, dass es mir, als es dann doch weihnachtlicher wurde, auch egal war. Bei A Boy Called Christmas haben wir den umgekehrten Fall: Erst ganz sympathisch, dann nur noch Rambazamba. Gut, ist halt für junge Leute; die mögen wahrscheinlich Rambazamba. Ab einem gewissen Alter ist hier die eigene Meinung genauso irrelevant wie bei Superhelden-Filmen oder Erdbeergummis.

Apropos Erdbeergummis: Die Marvel-Weihnachtsserie Hawkeye ist wirklich ganz herzallerliebst. Ich bin allerdings im Internet auf Wortmeldungen Minderjähriger gestoßen, die das Gegenteil behaupten. Vermutlich haben die recht.

Auch kein Film im strengen Sinne, aber zu drollig, um hier unerwähnt zu bleiben: Trolls Holiday. Ich habe meine Tochter zwingen müssen, sich dieses Special mit mir anzusehen (sie studiert dieser Tage lieber Minecraft- und Animal-Crossing-Vlogs, um ihr Spiel zu perfektionieren), und wir haben es beide nicht bereut. Seit die Muppets müde geworden sind, haben die Menschen die Trolls, um die Generationen vor dem Fernseher zu versammeln.

Überraschende Wendung zum Schluss: Ich habe Shudder doch gekündigt. Noch vor Ablauf der Gratiswoche. Eiskalt, als hätten wir eine weiße Weihnacht. Denn mehr Filme heißt ja nicht automatisch mehr Zeit, um sie zu sehen. Und gerade an diesen Tagen wollen wir unsere Zeit natürlich mit unseren Lieben verbringen. Vor dem Fernseher, mit Weihnachtsfilmen. Echten Weihnachtsfilmen. Ein gesegnetes Fest allerseits.

Die Ballade von Botox-Baldi

Wie jeder erwachsene Mensch aus Fleisch und Blut habe ich mir die eine oder andere sentimentale Brücke in meine Kindheit und Jugend bewahrt, allerdings nicht unbedingt in meine allerfrüheste Kindheit. Bussi Bär im limitierten Sammelschuber oder Rappelkiste in der Blu-ray-Steelbox wird man in meinem Haushalt nicht finden. Daher wundert es mich selbst, dass ich bis heute an Baldi-Hund festhalte, meinem ersten Stofftier. Irgendwie ist er immer mitgekommen. Nicht mit ins Büro oder in die Kneipe, aber er hat jeden Umzug mitgemacht. Schon lange schläft er nicht mehr bei mir im Bett, keine Sorge. Das würde er auch gar nicht mehr aushalten. Denn Baldi ist alt geworden:

Baldi heißt so, weil ich als Kind das W nicht gescheit aussprechen konnte. Das Problem habe ich zwar inzwischen in den Griff bekommen, möchte das Tier aber dennoch nicht umbenennen. Einen Waldi-Hund kann schließlich jeder haben.

Zuletzt stand Baldi eingequetscht zwischen zwei Aktenordnern (okay, ungeordneten Aktenbehältern) auf meiner Schreibkommode, weil er ohne Hilfe nicht mehr stehen konnte. Er erinnerte mich dabei ein bisschen an diese japanischen Bäume, die schon längst tot umgefallen wären, würden japanische Baumliebhaber ihnen nicht ständig neue Krücken unters Geäst stellen.

Ich sagte einmal meiner Frau, dass ich diese Krückengeschichte für Schummelei halte, man solle doch die Bäume einfach in Würde sterben lassen. Daraufhin sagte sie, es sei doch nett, dass man sich so rührend um die alten Bäume kümmerte. Diese Einstellung übernahm ich fürs erste. Nach einer Weile allerdings hatte ich wieder bei jedem Vorbeiflanieren an Krückenbäumen dieses Flüstern im Kopf: „Erlöse mich! Nimm einfach die Krücken weg und lass mich gehen!“ (Gehen ohne Krücken ist natürlich ein schiefes Bild in diesem Zusammenhang, aber ist ja nur Internet.)

Gut dass ich meine Frau erwähnt habe, denn die brauchen wir jetzt. Beim obligatorischen Durchblättern alter Familienfotos stieß sie einmal einen spitzen Schrei aus und rief: „Baldi war mal… weiß!“

Ich sagte: „Frau, du redest Unsinn!“ Gleich darauf entschuldigte ich mich, weil sie keinen Unsinn redete. Leider kann ich das Foto gerade nicht wiederfinden, vermutlich ist es in einem ungeordneten Aktenbehälter, doch es existiert. Ich hatte das freundliche Grau stets als seine Originalfärbung wahrgenommen, schließlich war die Ergrauung ein schleichender Prozess gewesen.

Nun hatte meine Frau sich in den Kopf gesetzt, den Original-Baldi rekonstruieren zu lassen. Es gäbe da eine wunderliche Alte, sagte sie, die lebe zurückgezogen in den Bergen, und sie kreiere Kunst aus ausgestopften Tieren. Außerdem mache sie veraltete Stofftiere in einem dreimonatigen Prozess wieder wie neu, für nur 30.000 Yen.

Ich stieß einen spitzen Schrei aus und rief mit der Stimme meiner Mutter: „30.000 Yen? Das sind ja fast 500 Mark! Wie viele fabrikneue Baldis könnten wir dafür kaufen?!“

Meine Frau sprach die Antwort aus, die ich längst kannte: „Aber die wären nicht Baldi.“

Also schickten wir ihn in die Bergklinik. Vorher dokumentierte ich noch die Altersspuren:

Die Künstlerin bot uns an, nach Eintreffen des Tieres eine Einschätzung abzugeben, ob es in unserem Fall schneller und günstiger gehen könnte. Die Antwort kam schnell: Nein, das ginge ganz sicher nicht.

Wir durften ihn in den drei Monaten nicht besuchen. Oft malte ich mir aus, wie er nun dalag, allein auf einem Seziertisch in einer dunklen Berghütte, aufgeschnitten und ausgespreizt, die Felllappen mit Haken und Ketten in Position gehalten, wie eine sadomasochistische Fantasie aus einem Hellraiser-Film für Stofftiere.

Als Baldi zurückkam, erfuhren wir zuerst, was die Künstlerin am liebsten bei der Arbeit trank, offenbar in größeren Mengen.

Dann sahen wir ihn, und er sah uns.

Er sah uns sogar aus neuen Augen. Die alten hatte die Künstlerin separat mitgeliefert (unten auf der Abbildung unten).

Er ist heller und fülliger geworden. Das Fell ist nicht einfach nur mit Perwoll gewaschen. Es ist neu.

Im Schnauzenbereich ist er noch ein bisschen kahl, wie früher. Ich bin überzeugt, dass die Künstlerin dort bewusst ausgespart hat, um Baldis tatsächliches Alter zu würdigen. Sie hat es geschafft, seine Seele zu bewahren, obwohl sie wohl so ziemlich alles außer dem Halsband ersetzt hat. Jetzt kann ich ihn endlich wieder bedenkenlos mit ins Bett nehmen.

Das war also die Ballade von Botox-Baldi. Streng betrachtet handelt es sich nicht um eine Ballade, doch als Mensch aus Fleisch und Blut kann ich einfach keiner naheliegenden Alliteration aus dem Weg gehen. Könnte ich malen, hätte ich eher ein Bild gemalt. So wie meine Tochter es unaufgefordert getan hat: Baldi im Kreis der Familie, inklusive seiner alten Augen.

Mein Orientierungsjahr 2016: Abschließender Geschäftsbericht

Das Jahr 2016 scheint vor allem dafür bekannt, dass in seinem Verlauf, zumindest nach Augenmaß, überdurchschnittlich viele Personen des öffentlichen Lebens gestorben sind, die einem etwas bedeuten, so man in eine gewisse Altersspanne fällt. Abseits dieser Altersspanne wurde dieser Umstand mit weniger Wut, Trauer und Betroffenheit aufgenommen. In der Zeit (glaube ich) oder einer ihrer Ablegerpublikationen (könnte sein) erschien seinerzeit ein vieldiskutierter (meistens zurecht verlachter) Artikel eines Nachwuchsjournalisten, dessen Grundtenor war: Meine Freunde und ich kennen diesen Prince gar nicht, er kann also kaum so wichtig gewesen sein wie Justin Bieber oder Maximo Park. Jenseits des anderen Endes der Altersspanne wird, beispielsweise, „dieser Prince“ auch für, beispielsweise, meine Eltern kaum mehr gewesen sein als eine vage Erinnerung aus meinem Kinderzimmer. Vielleicht verwechselten sie ihn sogar mit „diesem Adam Ant“.

Offenen Auges müsste man zugeben, dass es 2016 durchaus wichtigere Nachrichten gab als tote Prominente, so sehr der eine oder andere Verlust tatsächlich schmerzte. Hat man allerdings gerade im fortgeschrittenen Alter einen Überseeumzug gestemmt, hat man zunächst gänzlich andere Prioritäten als die Sondierung der internationalen Nachrichtenlage. Da geht es um die Grundbedürfnisse des Menschen, die essenziellen Fragen, wie zum Beispiel: Werde ich ein Nudelrestaurant in meiner Nähe finden, in dem ich von nun an fast jeden Tag essen werde, und zwar fast jeden Tag dasselbe?

Ich habe meines gefunden, es sieht so aus:

Dort esse ich fast jeden Tag Mazesoba. Hier im Urzustand:

Dann so: maze, maze, maze.

Und dann essen, und dann war es wie immer gut.

Die Nudeln müssen mit Geld bezahlt werden. Nur ist das mit dem Geld so eine Sache, und zwar eine ungerechte. Mein Plan war es, das Nudelgeld mit dem Schreiben von Büchern und Zeitungs- beziehungsweise Zeitschriftenartikeln zu verdienen. Grob gerechnet bekommt man für drei oder vier Artikel in einigermaßen großen Publikationen (ein paar Tage Arbeit) so viel Geld wie für ein Buch in einem relativ kleinen Verlag (ein paar Monate Arbeit). Leider macht aber das Schreiben von Büchern mehr Spaß als das Schreiben von Artikeln (fürs Schreiben im eigenen Blog bekommt man übrigens gar kein Geld, so man keine unseriösen Reklameanzeigen nebenan haben mag). Zum Glück bin ich modern genug, mich eine Weile von meiner Frau aushalten zu lassen. Drum entschloss ich mich, in diesem Jahr rein nach Spaßprinzip zu schreiben. Also erstens Bücher, zweitens einfach so drauf los. Normalerweise misstraue ich Buchideen, bei denen sich nicht zumindest Anfang und Ende innerhalb von fünf Minuten von selbst offenbaren. Aber diesmal wollte ich so schreiben wie früher, als die Welt noch jung und die Zukunft ungeschrieben war und jeder Morgen nach frisch gemähtem Rasen und Aufbruch duftete. Deshalb habe ich nun einiges gänzlich Unerwartetes in der virtuellen Schublade, zum Beispiel:

  • Die ersten Worte einer interdimensionalen, ultrabrutalen, mechaerotischen Weltraumoper (also wahrscheinlich Jugendbuch).
  • Fragmente eines großstädtischen Quatschkopfromans, mit dem ich es in erster Linie auf den Ingeborg-Bachmann-Preis und/oder eine Verfilmung im Stile Woody Allens abgesehen habe.
  • Und natürlich – was soll man in Tokio auch anderes schreiben? – einen High-Concept-Entwurf für eine München-Moosach-Krimireihe.

Vielleicht sollte ich per Publikumsvotum entscheiden lassen, was ich davon ernsthaft weiterverfolge. Sollte es die Weltraumoper werden, müsste ich allerdings herausfinden, wie ich das Gesicht meiner Agentin verletzungsfrei wieder aus ihren Handflächen entfernen kann.

Nicht aufgeführt sind übrigens die zweieinhalb Projekte, bei denen ich vorsichtig optimistisch davon ausgehe, dass sie bald tatsächliche Spruchreife erlangen, ebenso wie die zwei vorläufig ausgereiften Projekte, die bereits hoffnungsfroh ihre Verlagsrunden drehen. Faul war ich also nicht, ich sah nur aus der Ferne so aus.

Sind die Nudelfragen geklärt und summt und brummt die Arbeitsroutine verlässlich vor sich hin, ist es auch im Neuen Leben an der Zeit, sich wieder für das Weltgeschehen zu interessieren. Schon früh hatte ich den Entschluss gefasst, mein Neues Leben solle langsamer und analoger werden – weniger postfaktisches Internet, mehr gedruckte Lügenpresse. Drum abonnierte ich sofort alles, was mir in die Quere kam und neuen Abonnenten einen Gratis-Jutebeutel versprach. Und kam bald mit der Lektüre nicht mehr hinterher.

Nun gibt es nichts Bekloppteres als den Spruch, nichts sei so alt wie die Zeitung von gestern. Wer nach Gesichtspunkten der Tagesaktualität Zeitung liest, bräuchte das wirklich nicht zu tun, da haben die Digitalhektiker ausnahmsweise recht. Qualitätsjournalismus lese ich auch gerne mal ein paar Tage oder eine Woche später. An den Weltereignissen ändert es ja nichts, ob ich sofort von ihnen erfahre oder erst nach allen anderen. Wenig ist mir so zuwider wie die polternde Beschwerde, diese oder jene Medien (im Zweifelsfall das deutsche Fernsehen) berichteten nicht schnell und live genug von den neuesten Gräueltaten. Informationsjunkies sind eben auch nur Junkies, zu beschönigen oder gar zu glorifizieren gibt es an diesem Zustand nichts.

(Wenn ich von mir ausgehe – und von wem sollte ich sonst ausgehen? – , dann glaube ich übrigens, dass die Fernsehnachrichten vor den Tageszeitungen aussterben werden. Zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort sitzen und in eine bestimmte Richtung sehen zu müssen, um in vorgeschriebenen Tempi und starren Formaten informiert werden zu dürfen, erscheint mir schon heute absurd. Doch das nur am Rande.)

Dennoch: Wenn Entschleunigung in Überforderung umschlägt, muss eingeschritten werden. Es geht nicht an, dass hier noch ungelesene Zeitungen von vorm Nikolaus liegen. So habe ich gleich meinen ersten Vorsatz fürs Neue Jahr: Mindestens die Hälfte meiner Abonnements wieder abbestellen. (Das wird wohl auch dich betreffen, lieber New Yorker. Es liegt nicht an dir, es liegt an mir. Deine Cartoons sind zwar so überschätzt wie die Interviews im Playboy, aber deine längeren Artikel habe ich stets gern gelesen. Beziehungsweise lesen wollen, wenn ich die Zeit gehabt hätte. Habe ich jedoch nicht. Nicht jede Woche. Wenn du dich zu einem monatlichen oder quartalsweisen Erscheinungsturnus entscheiden könntest, würde ich es mir noch mal überlegen. Was ich eigentlich sagen wollte: Den Abonnenten-Jutebeutel, der mir vertraglich zusteht, möchte ich trotzdem noch haben. Alle anderen Zeitschriften haben mir den Abonnenten-Jutebeutel unaufgefordert zugeschickt. Also bitte zack-zack.)

Für die wirklich wichtigen Nachrichten müssen wir heuer selbstverständlich einen bangen Blick nach Amerika werfen: Rogue One. Oft hörte ich die Einschätzung: Erst gähn, dann geil. Mir ginge es, falls ich mich überhaupt jetzt schon zu derlei extremen Urteilen hinreißen lassen müsste, eher umgekehrt. Eigentlich geht es mir hier aber gar nicht um die Qualität des Films, die kann man bei einem emotional so komplexen Lebensaspekt wie Krieg der Sterne ohnehin frühestens nach vier oder fünf Durchläufen vorläufig abschließend beurteilen, sondern darum: Es scheint, als war 2016 das Jahr, in dem Krieg-der-Sterne-Filme ganz normal geworden sind. Schon weiterhin Eventereignisfilme, auf die man sich flatternden Herzens freut. Doch flattert es nicht mehr gar so stark, dass man vorher nächtelang nicht schlafen kann (anders also als letztes Jahr noch). Seit Disney dankenswerterweise das ganze Unternehmen übernommen hat, ist bekannt, dass es fortan jährlich einen neuen Krieg-der-Sterne-Film geben wird. Wenn nicht Episode-Irgendwas, so doch irgendein Spinoff-Prequel-Oneshot-Standalone-Crossover-Hastenichgesehn-Dingsbums. Ein Film pro Jahr ist noch kein Overkill, hatte ich gedacht, und das ist es auch nicht. Nichtsdestotrotz bemerke ich bereits einen starken Gewöhnungseffekt und hoffe, dass es nicht soweit kommen wird wie bei den Superheldenfilmen, die ich nun immer häufiger auslasse (letzter ausgelassener war der letzte Gruppe-X-Film, nächster wird der nächste Guardians of the Galaxy). Das wäre schade, denn meine Familie gibt mir nur zu Krieg-der-Sterne- und Godzilla-Filmen frei.

Den letzten Godzilla-Film kann ich leider nicht beurteilen, weil ich leichtsinnig vor dem Film ein Bier getrunken hatte und dann im Kino eingeschlafen bin. Das ist jetzt so das Alter, und das wird im nächsten Jahr bestimmt nicht besser.

Bring mich zum Kopf von Godzilla [Kaiho-Kolumne]

In der aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Nagoya, mon amour fou zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung.

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Es ist eine Unsitte unter Bewohnern und Besuchern gewisser Städte bei jeder Begegnung mit vermeintlich Exzentrischem der Welt lauthals zu verkünden: „Nur in New York!“ Beziehungsweise: „Nur in Berlin!“ Oder eben: „Nur in [Städtenamen selbst einsetzen]!“ Meistens sind die so geadelten Phänomene keineswegs sonderlich ortsgebunden, und der „Nur in XY!“-Rufer beschreibt weniger die Exzentrizität der gemeinten Stadt als vielmehr die Begrenztheit seines eigenen Horizontes. Ich bemühe mich also, nicht jedes Mal „Nur in Tokio!“ zu krakeelen, wenn ebendort eine bemerkenswerte Person, ein bemerkenswertes Ereignis oder ein bemerkenswertes Nudelgericht meinen Weg kreuzt.

Bei meinem letzten Besuch sah ich allerdings ein Hinweisschild an einem Gebäude, das man so wahrscheinlich tatsächlich „nur in Tokio!“ finden wird (und dass man schon zu lange dort ist, merkt man daran, dass man es zunächst kein bisschen seltsam findet):

1. Stock: Läden und Restaurants, 8. Stock: Café Bon Jour und Godzilla-Kopf

Ich muss zugeben, dass ich nicht gänzlich zufällig an dem Schild vorbeigekommen bin. Ich hatte es zwar nicht explizit gesucht, aber doch das, was es annoncierte: den Godzilla-Kopf. Der wurde vor nicht allzu langer Zeit auf dem Vordach eines Hotels in Kabukicho installiert, in Lebensgröße über das Vergnügungsviertel wachend, wenn nicht über die gesamte Stadt.

War meine Vorfreude groß, so wich sie zunächst einer milden Enttäuschung, als ich die Skulptur das erste Mal mit eigenen Augen sah. Es ist wie bei vielen Berühmtheiten, die man nur aus den Medien kennt. Sieht man sie auf der Straße, denkt man: Ich hatte ihn mir irgendwie größer vorgestellt. Dabei ist es tatsächlich so, wie die japanische Tagespresse es angekündigt hatte: Man muss Godzilla nicht lange suchen, wenn man sich Kabukicho nähert. Er ist schwer zu übersehen auf der Vordachterrasse des Gracery-Hotels. Und trotzdem ist der erste Anblick unspektakulär. Im ohnehin bunten, reklameüberfrachteten Straßenbild könnte der Saurier nichts weiter als eine weitere Werbefigur sein. Der Eindruck bestärkte sich noch dadurch, dass Sony gerade zum Zeitpunkt meines Besuches eine Werbebanderole unter dem Viech angebracht hatte, die ein neues Godzilla-Videospiel ankündigte. Einerseits: Wenn nicht hier, wo dann? Andererseits verlieh die Werbung dem Kunstwerk etwas Flüchtiges und Vulgäres. Heute Godzilla, morgen Naruto, übermorgen Kleenex. Dabei sollte Godzilla doch hier sein, um zu bleiben.

Die Enttäuschung wich zum Glück wieder einer erhabenen Freude, als ich dem besagten Schild in den achten Stock gefolgt und ganz nah bei Godzilla war. Aus unmittelbarer Nähe ist er so imposant wie gewünscht, gegen ihn sieht der Rest der Stadt klein aus. Sein Kopf ragt aus dem Dach, als hätte er es gesprengt. Er krallt sich an dessen Rand mit fürchterlichen und wunderbaren Klauen. Am Sockel erinnern Reliefs an seine schönsten Filmmomente.

Als ich vollends zufrieden wieder gehen möchte, pfeift mich der uniformierte Godzilla-Aufpasser zurück. Habe ich etwas falsch gemacht? Steuere ich den falschen Ausgang an? Nein, der ernste Herr bedeutet mir, eine verborgene Stelle am hinteren Teil der Skulptur anzufassen. Das tue ich, und daraufhin röhrt aus Godzillas Maul das charakteristische Godzilla-Röhren. Das Pärchen, das genau dort gerade steht, bekommt einen riesen Schrecken. Der Aufpasser und ich lachen verschwörerisch. Bald lachen wir alle, denn Godzilla ist unser Freund, und das macht uns alle zu Freunden.

Godzilla ist endlich ein originäres Wahrzeichen für Tokio. Denn wollen wir mal ehrlich sein: der Tokyo Tower ist charmant in seiner stählernen Archaik, aber letztlich nur vom Eiffelturm abgekupfert. Die Rainbow Bridge ist doch sehr kalifornisch. Der Skytree etwas zu streberhaft in seinen Ausmaßen und Anmaßungen, außerdem architektonisch so beliebig gefallsüchtig, dass er genauso gut in Schanghai oder Dubai stehen könnte. Godzilla ist ein stimmiges Symbol für Tokio: ein liebenswertes und etwas unförmiges Monster, von keiner Krise kleinzukriegen. Eine überdimensionierte Schöpfung, die sich immer wieder neu erfindet. Godzillas Symbolgehalt geht dabei über die Hauptstadt hinaus. Sein erster Filmauftritt ist längst als Klassiker kanonisiert, und trotzdem ist er nach wie vor aktiver Teil der Popkultur. Wer könnte also besser dieses Neben- und Miteinander von Tradition und Moderne vertreten, das Japan so gebetsmühlenhaft nachgesagt wird? Darüber hinaus ist die atomar verstrahlte Echse ein treffliches Energie- und Umwelt-Mahnmal in Post-Fukushima-Zeiten. Möge ihr Röhren noch lange aus Kabukicho heraus in die Welt tönen.

Von den Büchern anderer Leute (und einem eigenen)

Ich bin zwar in letzter Zeit dazu gekommen, ein paar Rezensionen an anderer Stelle zu schreiben. Allerdings bin ich nicht dazu gekommen, an dieser Stelle über jene Rezensionen zu schreiben. Also hier gesammelt:

William Boyd: Solo

Jean-Christophe Grangé: Die Wahrheit des Blutes

Khaled Hosseini: Traumsammler

Marisha Pessl: Die amerikanische Nacht

Falls das alles nichts für Sie ist und Sie sich sagen: „Mensch, ich würde gerne mal wieder einen spannenden Kriminalroman im Tokioter Maid-Café-Milieu lesen!“, dann kommt dieser Schmöker der Sache ziemlich nahe:

Hier können Sie das Buch schon mal showroomen.

Addendum

Ab sofort werden Rezensionen von außerhalb nur noch gezwitschert. Bitte folgen Sie mir. (Übersetzung: Bitte, bitte, bitte!!!)

Wegen heiligem Bimbam: Suede-Konzertkarte abzugeben

Als sich vor ein paar Jahren die Band Suede wieder vertragen hat, hätte ich fast das getan, was ich normalerweise nur für Alte Meister der Schönen Künste tue: ein fremdes Land bereisen (genauer das England), um die Sache mit eigenen Augen zu sehen. Doch kam etwas dazwischen. War nicht schlimm, dachte ich vor ein paar Monaten, denn es kündigte sich ein Konzert in München an, was mit öffentlichen Verkehrsmitteln viel besser zu erreichen ist. Ich habe mir eine Karte kommen lassen und mich auf den 19. November gefreut.

Ich freue mich immer noch auf den 19. November, aber zu Suede kann ich jetzt nicht mehr. Ich musste abwägen zwischen der besten britischen Band der Neunziger und dem seit Jahrzehnten bedeutendsten amerikanischen Gegenwartsautoren. Ich habe mich für Stephen King entschieden. Ausschlaggebend war in erster Linie Sentimentalität. Sentimentalität beflügelt freilich nichts besser als Musik. Suede indes gehört bei aller Hingabe nicht zu den Bands, die mir in meinen formativen Jahren die Tränen getrocknet haben (dafür kamen sie zu spät). Überhaupt habe ich sie richtig erst zu schätzen gelernt, als sie sich schon vorübergehend aufgelöst hatten. Zuvor war mir immerhin wohlwollend aufgefallen, dass sie einmal einen vage Twin-Peaks-haften Videoclip hatten machen lassen, was ich zwar nicht unbedingt originell, aber doch sympathisch fand.

Ein Jahrtausend später holte ich mir ihr Singles-Albums Singles, hörte es mir an, faltete die Hände und betete: Lieber Gott, wenn du jemals alle Lieder von meiner Festplatte löschen solltest, bitte verschone diese!

Eine Band erst nach ihrer hauptsächlichen Schaffensperiode kennenzulernen hat Vorteile. Man kann sich die Oliven (Rosinen mag ich nicht) rauspicken und muss nicht in schmerzhafter Echtzeit all die typischen Verfallserscheinungen mitbekommen, die immer klare Indikatoren für baldige Bandauflösungen sind (Stilwechsel, Umbesetzungen, Bartwuchs). Andererseits verpasst man auch das Gute, den Sturm, den Drang, die Protzpriviliegien, dass man das alles schon kannte, bevor „alle“ es cool fanden.

Wenn die Zeiten vorbei sind, dass man jeden Morgen hinter der Indie-Dorfdisco in einer Bierlache auf hartem Asphalt aufwacht, ein gepiercetes Parka-Girlie mit verquollenen Augen an seiner Seite, verbindet man irgendwie keine guten Geschichten mehr mit Musik. Das Beste, was ich über Suede und mich erzählen könnte: Zu der Musik kann man gut joggen. Das klingt fast so läppisch wie: Zu der Musik kann man gut Auto fahren. Es wäre gelogen, würde ich behaupten, dass ich Menschen, die so etwas sagen, gewohnheitsmäßig die Freundschaft kündige. Tatsächlich funktioniert mein Instinkt so tadellos, dass ich mit ihnen gar nicht erst Freundschaft schließe.

Ein bisschen hinkt der Vergleich zum Glück schon. Zwar mangelt es mir an eigener Erfahrung, doch könnte ich mir vorstellen, dass man sich beim Autofahren konzentrieren muss, auf die Straße achten, dass man ausnahmsweise keinen umbringt, zum Beispiel Jogger. Beim Sport hingegen kann man seinen Gefühlen freien Lauf lassen, auch mal ganz in der Musik aufgehen. Sie ist also beim Sport anders als beim Fahren keine bloße Hintergrundberieselung, sondern kann durchaus als Hauptsache en détail gewürdigt werden. Zumindest, wenn man es richtig macht. Man darf es mit dem Meister aller Sportmotivatoren halten:

Mir fällt gerade ein: Etwas popwürdiger als die Gute-Musik-zum-Joggen-Anekdote ist vielleicht, wie ich einmal die traumhafte Suede-Ballade „Trash“ in einer Karaoke-Kabine in Takadanobaba gesungen habe. Wenn ich mich doch nur noch vernünftig daran erinnern könnte. Was in Karaoke-Kabinen in Takadanobaba passiert, bleibt in Karaoke-Kabinen in Takadanobaba.


(Nachstellung, nicht ich in dem Video)

Es gäbe für mich also keinen wirklich triftigen Grund, bei einem Suede-Konzert Schlüpfer zu werfen. Bei Stephen King hingegen werfe ich gerne Schlüpfer aufs Podium, wenn er am 19. November anlässlich des Krimi-Festivals in München lesen wird. (Ich habe übrigens vor, nächstes Jahr selbst dort zu lesen, auch wenn die Veranstalter noch nichts davon ahnen. Wahrscheinlich nicht im Circus Krone, eher in einem Thai-Sushi-Imbiss mit drei Plätzen. Dafür wird es wahrscheinlich auch unter 29 Euro pro Person kosten.)

Meine erste Begegnung mit Stephen King hat so vieles bewirkt (bei mir), dass ich ganz genau weiß, wo ich anfangen muss. Ich war 14 Jahre alt und der Film Christine kam in die deutschen Kinos. Da ging es um ein Killerauto aus der Hölle, das musste ich sehen.

Ich hatte mich zum Kinobesuch mit einem Jungen aus meiner Bande verabredet, nennen wir ihn Tom. Leider war der Horrorschocker ab 16 Jahre freigegeben. Die Kinokartenverkäuferin fragte uns: „Na, wie alt seid ihr denn?!“

Ich sagte wie aus der Pistole geschossen: „16!“, und blieb die Coolness selbst, bilde ich mir ein.

Tom sagte: „Äh … äh… 16 …?“, und wurde rot wie eine Tomate. Wo er Tomaten noch nicht mal mochte.

Wir haben also Christine an diesem Tag nicht gesehen. Stattdessen habe ich mir den Roman gekauft und danach war nichts mehr, wie es einmal war. Ich hatte nicht für möglich gehalten, dass derlei fesselnd von ganz normalen Menschen in der ganz normalen Welt erzählt werden konnte. Das Horrorauto war mir schnell völlig schnurz. Zuvor hatte ich nur Bücher gelesen, in denen es um Kampfraumschiffkommandeure oder prähistorische Barbaren ging. Stephen King und Stephen King allein führte mich von Jugendbüchern zu Erwachsenenbüchern, von Vergangenheits- und Zukunftsthemen zu Gegenwartsthemen, machte aus meinem unverbindlichen Interesse am Horrorgenre eine leidenschaftliche Liebe.

Ich habe Christine bis heute kein zweites Mal gelesen. Gut möglich, dass es nicht Kings stärkstes Werk ist. Bei der qualitativen Durchnummerierung seiner Bücher, die in letzter Zeit ein besonders beliebter Feuilletonsport zu sein scheint, landet es meist auf den hinteren Plätzen. Man mokiert sich hin und wieder, King habe das Motiv des bösen Autos ein paarmal zu häufig bemüht. Das allerdings ist ein Denkfehler. Das Automobil ist schließlich der offizielle Transporteur des Amerikanischen Traumes, und das Aufzeigen des Alptraumhaften daran ist Stephen Kings Dauerthema, wie es das Dauerthema jedes anderen zeitgenössischen amerikanischen Autoren ist, der was auf sich hält. King hat im Laufe der Jahrzehnte ein paar Gurkenbücher geschrieben, also genau so wie Philip Roth oder John Updike, aber das Wiederverwenden von Motiven muss man ihm nicht vorwerfen, das ist eine zulässige literarische Praxis. Das Spukauto ist moderner und amerikanischer als das Spukhaus, das als Konzept inzwischen doch ein wenig zu 19. Jahrhundert, ein bisschen zu sehr Alte Welt ist.

Das ist mehr Autoverteidigung, als Sie jemals wieder von mir hören werden. Eigentlich geht es darum: Wer also meine Suede-Karte haben möchte, soll sich melden. Die Person mit der rührendsten Geschichte gewinnt. Zuerst wollte ich zur Bedingung machen, dass die Geschichte Suede-Bezug haben muss. Allerdings haben Menschen mit rührenden Suede-Geschichten wahrscheinlich schon eine Karte und ich bin kein Unmensch. Es kann irgendeine Geschichte sein. Nur sputen müssen Sie sich, das alles findet schließlich schon nächste Woche Dienstag statt.

Bonuspunkte gibt es für die Verwendung des Begriffs „Heiliger Bimbam“. Ich lese gerade parallel den Stephen-King-Roman Doctor Sleep und Ben Winters‘ famosen präapokalyptischen Krimi Der letzte Polizist, beide aus journalistischer Sorgfaltspflicht in der deutschen Übersetzung. Ich bin begeistert, dass beide Bücher den schon etwas in Vergessenheit geratenen Kraftausdruck „Heiliger Bimbam“ energisch zum Comeback befeuern. Bitte alle mitmachen. Wir dürfen jetzt nicht nachlassen.

Gut Ring will Weile haben

„Herr Ober, bitte verzeihen Sie diese sinnlose Überschrift, aber ich stehe gerade etwas neben mir. Da ist ein langes schwarzes Haar in meinem Milchmixgetränk …“

„Keine Sorge, mein Herr! Das ist nur von der untoten Hexe, die da gerade aus dem Brunnen gekrochen ist!“

„Ach, wie putzig! Na denn, wohl bekomm’s!“

Japan hat gewählt: Es ist ein Mädchen!

Ganz unkontrovers ist das Wahlergebnis nicht, doch es ist eindeutig: Die 16-jährige Fuka Koshiba wird die Kiki in der Realverfilmung von Kikis kleiner Lieferservice spielen (in der Zeichentrickversion einer der besseren Filme von Hayao Miyazaki).

(Das sind keine Achselhaare, das ist nur ungünstig fotografiert.)

Über die Richtigkeit dieser Entscheidung mögen die Neidhammel und Besserbesetzer noch debattieren, doch der erwählte Regisseur sollte über jeden Zweifel erhaben sein: Wer könnte besser geeignet sein für diese Aufgabe als Takashi Shimizu, der Regisseur von Ju-On: The Grudge und Rabbit Horror 3D? Vergleichen Sie selbst:

Porno-Marathon in Ketten (oder: Schmecke meinen Fruchtriegel der Rache, Vol. 1)

Meine große Bitte fürs neue Jahr an alle, die Texte für die Öffentlichkeit schreiben, ganz egal ob Zeitungskolumnen, Illustriertenartikel, Gedichte, Kochrezepte, Werbesprüche, Drehbücher, Strickmuster, Pressemitteilungen, Liedtexte, Produktbeschreibungen, Gebrauchsanweisungen, Tweets oder offene Briefe: Bitte, bitte, so verführerisch es auch sein sollte, und so umwerfend clever es Ihnen erscheinen mag – halten Sie unbedingt Abstand davon, jetzt jeden Ausdruck, jede Floskel, jede Schlag- und Titelzeile mit ‚Unchained‘ zu beenden. Wir haben dieses Elend schon mit ‚Reloaded‘ und ‚Quantum‘ durchgemacht. Wir haben es zwar überlebt, aber nur knapp. Bitte nicht Hanni und Nanni Unchained, Knaller-Angebote Unchained, Pommes mit Mayo Unchained. Es ist nicht clever. Jeder andere hatte die Idee auch schon. Vielen Dank für Ihr Verständnis.

Meine große Frage ans neue Jahr: Warum haben es all die Pornografen plötzlich auf mich abgesehen? Ich habe die Kommentarfunktion dieses Blogs abgeschaltet, damit ich nicht ständig reinschauen und aufräumen muss. Allerdings habe ich die Trackback-Funktion angelassen, weil ich nicht weiß, was das ist, und es harmlos klingt. Es sind in den vergangenen Jahren nur wenige Trackback-Anfragen reingekommen, die ich alle abgelehnt habe. Die meisten waren grober Unfug, das Nachvollziehbarste war noch die Anfrage einer Seite mit Feuerwehr-News zu diesem Beitrag (jetzt kommt wahrscheinlich wieder eine, weil ich ‚Feuerwehr‘ gesagt habe). In den letzten Tagen jedoch wimmelt mein Briefkasten vor höflichen Trackback-Bewerbungen, überwiegend zu folgenden Themen: nude teens…, hardcore sex…, naked girls…, aber auch special occassion for anal…. Wussten Sie, dass es sowas im Internet gibt?!

Ich zitiere das hier so ausführlich, weil ich mir davon optimale Suchmaschinenoptimierung und die Anlockung hochwertiger neuer Leser verspreche. Solche, wie die TV-Redakteurin, die mich unlängst zum Thema ‚Frauen, die Männer in Uniform lieben‘ einladen wollte – wohlgemerkt in der Annahme, ich sei so eine (Liebe Shakira …).

Betroffen ist von der Porno-Attacke nur ein Artikel, und zwar dieser. Warum? Weil das Wort ‚Banane‘ darin vorkommt? Oder wegen ‚Pipifax‘? Umkleideraum? Fruchtriegel?

Zum Thema jenes Artikels fällt mir ein, dass ich dieses Jahr zu meinem Erschrecken schon wieder dabei bin. Wir sehen uns dann dort.

Beim Thema ‚Unchained‘ fällt mir ein, dass ich gerade inneren Frieden mit Quentin Tarantino geschlossen habe. Das freut Tarantino bestimmt sehr, denn er hat manche Träne in sein Kissen kullern lassen, weil ausgerechnet ich ihn nicht recht lieben mochte, ich konnte es spüren. Dabei hatte ich Reservoir Dogs seinerzeit sehrwohl geliebt, ich war im anfälligen Alter und hatte das passende Geschlecht. Bei Pulp Fiction musste ich schon ein bisschen lügen (nicht lieben war gesellschaftlich nicht akzeptabel). Nach dem sterbenslangweiligen (euphemistisch: sehr erwachsenen) Jackie Brown und dem albernen Kill Bill 1 plusterte ich mich auf und schwor mit der Bockigkeit des enttäuschten Liebhabers: Von hier an kommt mir kein weiterer Film von diesem Tarantino vor die Augen! Das war leichter, als gedacht. Ich ging fort und schaute nie wieder zurück, denn dieser Tarantino bedeutete mir nichts mehr, gar nichts, wirklich nicht, keinerlei Interesse, schnief.

Letztens jedoch kam es zur Entplusterung. Nach einem heißen Bad, einer Massage und einem Schluck Schnaps folgte die Einsicht: Herrje, man muss doch nicht aus jedem Kleinscheiß gleich ein radikales Politikum machen! Weil mir der Trailer zu Django Unchained gegen alle Widerstände gut gefallen hatte, beschloss ich, es noch einmal mit Kill Bill zu versuchen.

Mit meiner neuen, altersweisen ‚Ist-doch-nur-ein-Film‘-Einstellung konnte ich hinterher ohne schlechtes Gewissen zugeben: Hat gar nicht wehgetan, sondern gut unterhalten. Auf eine doofe Art zwar, aber wir sind doch alle ab und zu mal ein bisschen doof.

Das Doofe bleibt derweil das, was am Phänomen Tarantino ein wenig bedenklich ist. Er selbst kann nichts dafür, doch handeln seine Verehrer seine Filme, als handele es sich um hohe Kunst mit Anspruch und Tiefgang. Da muss man klipp und klar sagen: Nein! Tarantinos Filme sind nicht gehaltvoller als die von Michael Bay. Sie betüdeln ein anderes Publikum, aber nicht unbedingt ein besseres. Tarantino mag sich bei Filmen bedienen, die mehr als nur Oberfläche zu bieten haben. Seine eigenen Filme allerdings übernehmen nur die Oberfläche. Kill Bill wurde hauptsächlich von den japanischen Rache-Dramen Sasori und Lady Snowblood inspiriert, das zeugt von gutem Geschmack. Nun verhandeln diese Filme durchaus große Themen wie den Zusammenhang von Chauvinismus und Nationalismus, oder die Balance zwischen politischer Offenheit und politischem Opportunismus. Das, und lesbische Leidenschaft hinter Gittern. Das einzige Thema von Kill Bill hingegen ist: Ey, guck mal die Alte mit dem Samurai-Schwert!

Soll man ruhig gucken, die Alte. Aber wer danach nicht weiterguckt, bleibt doof.

Schöner hätte ich es übrigens gefunden, wenn man den deutschen Titel von Lady Snowblood direkt vom Originaltitel Shurayuki hime übersetzt hätte: Schneemetzelchen.

Heute rechne ich es Tarantinos Filmen hoch an, dass sie ihren Inspirationsquellen neue Aufmerksamkeit verschaffen. Immerhin macht er inzwischen selbst keinen Hehl aus seiner Arbeitsweise; das war bei Reservoir Dogs noch anders. Seinerzeit mussten findige Enthüllungsjournalisten von alleine drauf kommen, dass Prämisse und Figuren von Ringo Lams City on Fire abgekupfert waren. Kill Bill ist gut, die Sasori- und Schneemetzelchen-Filme sind besser. Ob es die heute ohne Tarantino-Unterstützung in liebevoll restaurierten, erschwinglichen Fassungen für zu Hause gäbe, ist stark zu bezweifeln.

Viele Spinner Asien-Experten rümpfen gerne ihr hohes Näschen, wenn ihnen sog. Orientalismus unterkommt, also die westliche Verkitschung von Asiatischem, zum Beispiel die Welt der Suzie Wong und deutschen China-Restaurants mit ihren roten Lampions und goldenen Drachen. Ich aber sage: Ein Hoch auf den Orientalismus! Suzie Wong ist nicht der schlechteste Roman, und deutsche China-Restaurants sind ganz prima (wenn nur das Essen nicht wäre)! Seit ich als Drei-Käse-Hoch zum ersten Mal in einem rot-goldenen China-Restaurant an irgendeiner norddeutschen Landstraße gastierte, wusste ich, dass ich das besser fand als Leberwurst mit Sauerkraut – ästhetisch, kulinarisch und mental. Die Authentizität kann man später ausbauen, doch es braucht einen ersten Funken. Das kann Ente süß-sauer mit Lampions genauso wie Kill Bill sein. Zusammenfassend könnte man sagen: Quentin Tarantino ist wie ein deutsches China-Restaurant. Viel Spaß auf der weiteren Entdeckungsreise.

(Diese schöne Ausgabe habe ich übrigens neulich erstanden.)

Tarantino ist bekanntlich nicht der einzige Filmemacher, der sich in Retromanie suhlt. So früh im Jahr wollen wir uns nicht gleich aufregen und so tun, als wäre das der Untergang der Welt, sondern einfach mal zugeben, dass wir uns darin mitunter selbst ganz gerne aalen. Weitaus lieber als die Filme von Tarantino und seinem Mini-Me Eli Roth sind mir seit kurzem die Filme von Ti West. Ich möchte hier nicht von seinen Auftragsarbeiten und Jugendsünden sprechen, sondern nur von seinem Hauptwerk als Autorenfilmer, also The House of the Devil und The Innkeepers. Zwei Schauerfilme in gemütlichem Tempo und nostalgischer Optik, die stärker polarisieren als alle Martyrs, Women und Serbian Films zusammen. Die einen finden diese Filme sterbenslangweilig, die anderen finden, dass den einen schlicht die nötige geistige Reife fehlt. Das ist natürlich überheblich und arrogant. Aber was soll man machen, es ist halt die Wahrheit.

Mich erinnert die Kontroverse um Ti West an einen Schwank aus meiner Jugend, als ich selbst noch kräftiger reifen musste als heute (ganz hört man freilich und hoffentlich nie auf). Wie jeder gesunde junge Mann verbrachte ich viel Zeit mit Freunden auf den Sofas verreister Eltern bei Dosenbier und Gewaltvideos. Einmal hatte ich den Film Die Wiege des Bösen auf Kassette mitgebracht, weil mich die Kinowerbung stark beeindruckt hatte. Damals warben Kinobetreiber noch mit Szenenfotos im Aushang um das Interesse der Zuschauer. Die Wiege des Bösen allerdings warb nur mit dem Hinweis, der Film sei so grausig, DASS MAN KEIN EINZIGES BILD ZEIGEN KÖNNE!!!

Unsere Empörung war groß, als sich der Film als ein einfühlsames Familiendrama über die schwierige Erziehung eines bissigen Mutanten-Babys herausstellte.

Doch nicht alle Halbstarken waren gleichermaßen empört. Einer scherte aus und gestand ganz offen: „Also, ich fand den Film gar nicht sooo schlecht. Der war so … menschlich.“

Inzwischen weiß ich: Einer von uns hatte den anderen etwas voraus, und das war nicht ich. Da hatte jemand das auf den Punkt gebracht, was ich heute an Ti Wests Filmen so schätze: Die sind so … menschlich.

The House of the Devil gefällt mir ein bisschen besser als der neuere The Innkeepers, der die Ruhe noch etwas mehr weg hat (wahrscheinlich muss ich noch ein wenig reifen). Allerdings war bei The House of the Devil das Boooring-Gebrüll der Ewigheutigen bereits ohrenbetäubend. Häufiger Kritikpunkt bei beiden Filmen ist, dass 40 bis 90 Minuten lang so gut wie nichts passiert. Vielleicht ist das eine Frage der Lebenseinstellung. Ich finde es sehr angenehm, wenn mal 40 bis 90 Minuten nichts passiert.

Ti West schießt seine Filme nicht nur in Retro-Optik, sondern auch mit Retro-Dramaturgie. Das macht ihn radikal in einem Umfeld, das schnelle Schocks und schnelle Schnitte und sonst nichts seit Jahren für ultramodern hält. Filme, die durch noch mehr Elend und Eingeweide als der letzte Film waten, werden gern als grenzüberschreitend angehimmelt. Ob da wirklich eine Grenze ist, die man überschreiten könnte, bezweifle ich. West scheint mit seinem Mut zur Reduktion viel grenzüberschreitender, das bestätigen auch die feindseligen Überreaktionen verstörter Zuschauer. Möglicherweise ist die Grenze sehr wohl da, aber wir befinden uns mehrheitlich längst auf der anderen Seite. Ti West überschreitet sie in die entgegengesetzte Richtung. Damit provoziert er mehr als jeder Brüll- und Spritzfilmer. Sicherlich gehört er zur relativ jungen Generation von Regisseuren, die der Liebe wegen und nicht der Einfachheit halber im Horrorgenre arbeiten. Das hat er gemein mit, beispielsweise, Rob Zombie. Trotzdem wirkt er wie der Anti-Rob-Zombie. Denn im Gegensatz zu Herrn Zombie versteht Ti West Horror auch. Manchmal ist Liebe allein nicht genug.

Ach, das ist ja ein schreckliches Schlusswort! Schieben wir schnell hinterher: Aber ohne Liebe geht es schon gar nicht.