Wundertüten gibt es immer wieder

Letztes Jahr (gucken Sie hier) spazierte ich am dritten von eigentlich nur zwei Verkaufstagen in die internationale Kinokuniya-Buchhandlung in Shinjuku und hatte noch freie Auswahl zwischen mehreren Variationen der beliebten Neujahrswundertüten, in denen japanische Händler traditionsgemäß zum Jahresauftakt Überraschungssonderangebote zu Schleuderpreisen raushauen. Mein Anfängerglück nicht als solches erkennend, meinte ich, die Gerüchte um die Begehrtheit dieser Tüten seien stark übertrieben.

Also ahnte ich nichts Böses, als ich in diesem Jahr am Nachmittag des Erstverkaufstages mit betonter Lässigkeit ins Geschäft schlenderte. Diesmal wollte ich mehr als eine Tüte. Zwar habe ich von den Büchern aus der von vor einem Jahr bislang nur eines gelesen, aber darauf kommt es ja nun wirklich nicht an. Leider wird nur ein Beutel pro Nase ausgegeben. Deshalb hatte ich meiner Frau 2020 Yen zugesteckt und sie instruiert, sich ganz normal zu verhalten. Im Nullkommanichts würden wir den Laden mit zwei sogenannten Lucky Bags verlassen haben, und niemand müsse je erfahren, dass beide für mich bestimmt sind.

Doch, Schockschwerenot, auf dem Wundertütentisch standen nur noch die Ausverkauft-Schilder. Auf Anfrage versicherte man uns, dass es am nächsten Tag eine weitere Chance gäbe, wir uns allerdings gefälligst recht früh, also vor Ladenöffnung, vor dem Haupteingang im Erdgeschoss einfinden sollten, so uns die Sache wichtig wäre. Abkürzungen über andere Zugänge seien nicht erlaubt.

Wir fügten uns. Als wir um zehn vor zehn ankamen, warteten bereits ungefähr 20 andere auf ihr Glück.

Zuerst war alles sehr zivilisiert, wir Büchermenschen sind schließlich sanft und großmütig. Wir gönnen allen alles. Als sich aber nach dem Einlass die Fahrstuhltür schloss und einige Ansteher untransportiert zurückblieben, machte sich eine gewisse Unruhe breit. Auch bei mir, denn ich war ein Betroffener. Als ein Ordner den Tipp gab, dass es über die Rolltreppe schneller gehen könnte, rannten wir los. Mein Frau flehte mich an, ohne sie voranzupreschen, sie sorge sich um das Wohl des Kindes in unserer Begleitung. Doch ich zerrte beide mit. Entweder wir teilten den Triumph, oder wir gingen gemeinsam leer aus.

Fünf Stockwerke Möbelhaus rauschten an uns vorbei, was schon ein wenig wehmütig machte. Das war alles mal Buchladen, dachte ich. Die jungen Leute wissen’s gar nicht mehr. Inzwischen ist nur noch das internationale Stockwerk übriggeblieben. Das ist ja auch die Hauptsache. Aber trotzdem.

Schluss mit dem sentimentalen Gewäsch; wir konnten unsere Schnäppchen abgreifen. Ich eine Tüte ‚Literature‘, meine Frau eine Tüte ‚Japanese Literature‘ und meine Tochter eine Tüte ‚Children’s & YA‘. Perfekt durchdacht, ich weiß. „Die ist schwer!“, beklagte sich Hana auf dem Weg zur Kasse. Ich versicherte ihr, dass sie in ungefähr zehn Jahren an den Büchern in ihrer Tüte viel Freude haben würde. Solche Argumente sind Musik in den Ohren Fünfjähriger.

Als wir nach unserer Transaktion das Geschäft verließen, war nur noch ein einziger Beutel am Platz, aus der Kategorie ‚Self-Help‘. Ich hätte die unentschlossene Kundschaft gerne pfiffig aufgefordert: “Please, help yourself!“ Aber ich war zu schüchtern.

Kommen wir nun zur Auswertung.

Die größte Überraschung an der Überraschungstüte für Kinder und Jugendliche ist, dass lediglich ein Kinderbuch dabei ist, und auch das ist eher eins für ältere Vertreter der Gattung als wir eines daheim haben. In erster Linie war die Anschaffung eh für mich gedacht, nicht zuletzt aus Gründen der Marktanalyse.

Anstatt hier über den Lesespaß zu spekulieren, der mich zwischen den Deckeln genau dieser Bücher erwartet, möchte ich gerne etwas Allgemeines loswerden, was mir schon lange unter den Nägeln brennt (Blog-style, quasi): Ich verstehe die Attraktivität der Young-Adult-Kategorie für ihre Zielgruppe nicht. Es geht mir nicht um die Qualität der ihr zugeordneten Werke, da sind immer wieder dolle Dinger drunter, sondern um das Label als solches, also die Kategorisierung ‚Young Adult‘ als Marketing-Werkzeug. Bei mir war das so: Als ich ein Kind war, las ich Kinderbücher. Als ich mich dafür zu alt fühlte, griff ich zu Erwachsenenbüchern. Mit Lust und Genuss, oft heimlich. Eine Kompromisslösung hätte mich nicht interessiert. Hätte mir ein Buchvermarkter angeboten: „Ey, Alter, ich hab hier einen Mega-Lese-Hammer speziell für Kids wie dich: etwas für ‚junge Erwachsene‘, zwinker, zwinker!“, dann hätte ich genau um dieses Buch den größten aller denkbaren Bögen gemacht.

Sicherlich, Young-Adult-Titel gab es schon zu meiner Zeit. Sie hießen Jugendbücher, und ich möchte meine Argumentation keineswegs auf die billige Klage reduzieren, dass heute alles englisch heißt (obwohlistdochwahr). Der wesentliche Unterschied ist, dass Jugendbücher damals nicht von Jugendlichen gekauft wurden, sondern von ratlosen Eltern, Onkeln und Tanten. Jugendliche selbst ließen sich nicht vorschreiben, was für sie geschrieben wurde. Die heutigen Young Adults scheinen da beratungsaffiner zu sein. Doch ich möchte ebenfalls nicht das Klagelied anstimmen, die jungen Erwachsenen von heute seien so anders als die alten Kinder von früher. Ist zwar in der Sache richtig, allerdings kaum ein Grund zur Klage, denn anders muss ja nicht schlechter sein. Will nur sagen: Ich steck da nicht drin.

Ein ähnliches Problem habe ich übrigens mit dem japanischen Konzept der ‚Light Novel‘. Als schwerer Leser habe ich da immer Angst, ich würde nicht satt. Doch wenden wir uns der nächsten Tüte zu:

Jeder hat My Absolute Darling und Normal People schon gelesen und auf seine Jahresbestenliste gepackt, nur ich nicht. Ich freue mich, das bald nachzuholen. Lullaby scheint was Wüstes zu sein. Mal gucken, ob mich irgendwann mal eine wüste Stimmung überkommt. Das legt sich ja etwas mit dem Alter. Ich könnte mir vorstellen, dass ich genau dieses Buch gerne als ‚junger Erwachsener‘ gelesen hätte. Und nicht irgendwas mit Glitzercover und dystopischen Paralleluniversen.

All the Birds in the Sky habe ich bereits als E-Buch, doch, ach, es hat mir nicht gefallen. Die Geschichte um einen Zeitmaschinentüftler und eine Hexe war süß, so lange sie noch klein waren. Als sie sich jedoch zu erwachsenen Hipster-Kotzbrocken entwickelt hatten, sah ich keine Veranlassung mehr, weiterzulesen.

Außerdem zwei, die nach Historienschmökern aussehen. Da bleibe ich Snob, ich kann mir nicht helfen. Die werden wohl 1A-fabrikneu bleiben.

Weiter, japanisch (auf Englisch):

Asleep von Banana Yoshimoto habe ich jetzt dreifach. Schon auf Englisch gehabt, dann versehentlich noch mal deutsch gekauft, oder umgekehrt. Macht nichts, manche Bücher kann man ja mehrmals lesen. Den Murakami habe ich bereits in einer unvorteilhaften alten Ausgabe, die für den japanischen Englischunterricht gedacht war. Inzwischen vielleicht was wert. Könnte ich sie nur finden. Lese ich gerne noch mal in schönerer Übersetzung und ansprechenderer Aufmachung. Momentan befinde ich mich allerdings in einer Murakami-Pause von unbestimmter Dauer.

Von Kawabata und Soseki habe ich selbstverständlich bereits einige der Greatest Hits gelesen, allerdings kaum so viele, wie ich manchmal behaupte. Das kann ich nun korrigieren.

Sweet Bean Paste sagt mir nichts. Meine Frau meint, das gäbe es auch als Film. Das muss ja nicht gegen das Buch sprechen.

Von Yasutaka Tsutsui habe ich einige Bücher gelesen, und von The Girl Who Leapt Through Time einige Verfilmung gesehen. Ich habe aber noch nie das Buch The Girl Who Leapt Through Time von Yasutaka Tsutsui gelesen. Da schließt sich ein Kreis. Dann noch ein Buch mit Gedichten, es werden schon nicht alle schlecht sein. Der Neujahrswundertütengewinner 2020: japanische Literatur.

2019 war für mich kein gutes Lesejahr. Vieles begonnen, wenig beendet. Es lag nicht immer an den Büchern, es lag auch manchmal an mir. Dieses Jahr wird besser, das spüre ich. Dieses Jahr sage ich: Bücher sind die neuen Videospiele.