Der Penner, der Doktor und ich (eine Doctor-Who-Weihnachtsgeschichte)

Ich weiß, Penner sagt man nicht mehr, außer unter guten Freunden. Aber diese Geschichte spielt in einem anderen Zeitalter mit anderen Sitten und Gepflogenheiten, da ist es mir rausgerutscht.

Der Anfang der Geschichte allerdings spielt in der Gegenwart, als wäre es eine Zeitreisegeschichte, und damit wären wir auch schon mitten im Thema. Ich hatte bei meinem letzten Blogeintrag über das Weihnachtsfernsehen des Jahres 2023 ein themenrelevantes und zumindest teilweise angesehenes Produkt der Zerstreuungsindustrie zu erwähnen vergessen, nämlich die Doctor Who-Weihnachtsspecials auf Disney+ beziehungsweise BBC, je nachdem, wie prätentiös anglophil man ist. Um es kurz zu machen: Ich konnte auch bei meinem ungefähr 927. Versuch, irgendetwas mit dieser Doctor-Who-Sache anfangen zu können, nichts damit anfangen. Dieser grimassierende Hauptdarsteller, diese absurd aus der Zeit gefallenen Spezialeffekte (dabei sollen sie wg. Disney-Budget sogar besser sein als normal), diese lächerlichen Aliens. Ich entwickelte erstmals sogar eine leichte Antipathie anstatt des weitgehend wertfreien Desinteresses früherer Versuche.

Doch woran mochte das liegen, so tiefenpsychologisch? Ich legte mich auf die Couch und reiste zu einem Punkt in meiner Vergangenheit, zu dem ich schon lange nicht mehr gereist war.

Um die Jahrtausendwende arbeitete ich für die deutsche Dependance eines britischen Verlagshauses, weshalb ich häufig in England ‚Termine‘ hatte. Als ich an einem dieser Termine auf dem Bahnhof des schönen Städtchens Bath ankam, wo der Verlag seinen Hauptsitz hatte, sprach mich ein junger Mann an, den ich aufgrund seines Äußeren für einen Obdachlosen halten musste. Ich weiß nicht mehr, was er eingangs sagte, und ich erinnere mich nicht, was ich darauf entgegnete, doch es war meinem Akzent wohl anzuhören, dass ich nicht aus der Gegend kam. Wir erörterten, wo ich stattdessen herkäme, und er fragte etwas unvermittelt: „Kennst du Doctor Who?“

Ich antwortete wahrheitsgemäß, dass ich es vor allem dem Namen nach kannte. Ich wusste, dass es sich um eine seit Jahrzehnten laufende Science-Fiction-Fernsehserie handelte, in der es irgendwie um Zeitreisen und böse Roboter ging, und dass die Hauptfigur alle paar Staffeln als ein neuer Schauspieler reinkarniert wurde. Ich erzählte ebenso, dass ich die eine oder andere Episode gesehen hätte, aber nie einen liebevollen Bezug dazu hatte herstellen können.

Er sagte, sehr freundlich, ein klein wenig stolz und überhaupt nicht gehässig: „Man muss wohl Brite sein.“

Das ärgerte mich ein bisschen, obwohl nur kindliche Freude und keinerlei Dünkel in seinem Ton war. Ich hielt mich schließlich für so etwas wie einen Briten ehrenhalber. Hatte Mit Schirm, Charme und Melone und Monty Python mit der Muttermilch aufgesogen, mich mit Adam and the Ants auf die Pubertät vorbereitet und sie dank The Smiths und The Cure überlebt. Ich schrieb stur immer ‚ou‘ statt ‚o‘ und ‚re‘ statt ‚er‘, wenn ich schriftlich etwas auf Englisch formulierte. Nie hatte ich mit irgendetwas Britischem Verständnisprobleme gehabt und war in den meisten Situationen des Lebens so verklemmt und verkrampft, wie es den Briten gerne nachgesagt wird. Nur abends, im Pub, kurz vor der Sperrstunde, wurde ich ein bisschen lockerer.

Doch wir hatten keine Gelegenheit, das Thema zu vertiefen. Mein Fahrer war eingetroffen (vielleicht war es auch nur ein Taxi oder ein Linienbus, ich weiß es nicht mehr), und wir verabschiedeten uns freundlich.

Im Fahrzeug (welcher Art es auch gewesen sein mochte) stellte ich irgendwann fest, dass ich mein Mobiltelefon nicht mehr hatte. Auch beim ausführlichen Durchsuchen des Gepäcks im Hotelzimmer fand es sich nicht wieder an. Ich war ziemlich sicher, dass ich es beim Verlassen des Zuges noch gehabt hatte („ziemlich sicher“ ist natürlich kein sehr verlässlicher Freund). Also dachte ich sofort:

Der Penner!

Es hätte mir gleich komisch vorkommen müssen, dass er keine finanziellen Forderungen gestellt hatte, sondern sich anscheinend nur mit einem Wildfremden über Doctor Who unterhalten wollte.

Ein bisschen bewunderte ich ihn. Mir war gar nicht aufgefallen, dass wir uns körperlich nah genug gekommen waren. Doch in erster Linie war ich ziemlich verstimmt, dass er mein Handy geklaut hatte. Es war ein Modell von einem der führenden Hersteller gewesen, wahrscheinlich Siemens.

Aber wie gesagt: Es war eine andere Zeit, damals. Der Verlust eines Mobiltelefons war ein mittleres Ärgernis, jedoch nicht der identitätsgefährdende Super-GAU, der es heute sein kann. Ich rief Mama vom Hotelzimmertelefon aus an, um ihr zu sagen, dass ich sie nicht vom Handy aus anrufen konnte, und dann ging das Leben weiter.

Daran hatte ich wirklich seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht. War dieser Vorfall der Grund, warum ich mit Doctor Who nicht auf einen grünen Zweig kam?

Jetzt, wo ich es wusste, konnte ich den Fluch vielleicht brechen. Also beschloss ich, das erste Weihnachtsspecial, das ich nach ca. der Hälfte abgebrochen hatte, weiterzusehen.

Nee, geht immer noch nicht.