Stu Levy macht einen Film, und wir alle machen mit!

Im März war Stuart Levy in Japan, um seinen amerikanischen Manga-Verlag Tokyopop ordentlich abzuwickeln (die deutsche Filiale steht noch, keine Bange). Schlimm genug, aber während seines Aufenthalts kam es bekanntlich zu einer weitaus größeren Katastrophe. Da er inzwischen keinen Job mehr hatte, zu dem er umgehend zurückkehren musste, blieb er im Land, half aufräumen und leierte einige originelle Hilfsprojekte an. Nun arbeitet er an einer Filmdokumentation über den Wiederaufbau der Tohoku-Region. In dieses und viele seiner anderen Projekte hat er beträchtliche Teile seines eigenen Ersparten gesteckt. Für die Fertigstellung des Films wird das Geld allerdings knapp, deshalb stecken jetzt Sie und ich unser Erspartes hinein. Über Kickstarter spenden wir alle 5 bis 10.000 Dollar für die Finanzierung des Films und bekommen je nach Höhe der Spende ein paar warme Worte in einem Internet-Video, eine Nennung im Abspann des Films, jede Menge Sachpreise oder den Titel des Ausführenden Produzenten. Es sind nur noch wenige Tage Zeit, und das Ziel von 20.000 Dollar ist noch nicht erreicht. Hätte ich auch früher mit ankommen können, aber Sie kennen mich ja.


Falls Ihnen der Titel des Films nicht geheuer ist: Sie müssen nicht beten, nur zahlen. Vielen Dank schon mal an dieser Stelle, wir sehen uns im Abspann.

Habemus Noda

Falls es zwischen Eurokrise und Alm untergegangen sein sollte: Yoshihiko Noda ist so gut wie der neue Premierminister Japans, es fehlen nur noch ein paar Formalitäten.

Hier kurz zusammengefasst, was man über ihn weiß inklusive Bewertung, damit Sie sich keine eigene Meinung bilden müssen, sondern einfach meine übernehmen können (Gratis-Service):

  • Noda beschreibt sich selbst als recht farblose Type. Das geht in Ordnung, er soll ja ein Land anführen, keine Visual-Kei-Band. Notfalls kann er sich ein paar Modetipps bei seinem Vorvorgänger Yukio Hatoyama holen.
  • Noda befürwortet Steuererhöhungen, um den Wiederaufbau der Katastrophengebiete zu finanzieren. Das ist vernünftig.
  • Noda kommt zur Überraschung vieler nicht aus dem Stall des Schurkenpolitikers Ichiro Ozawa, dessen Mitgliedschaft in der regierenden DPJ zwar momentan wegen eines noch nicht fertig verhandelten Finanzskandals zwangsausgesetzt ist, der sich aber trotzdem weiterhin aufführt, als würde er und nur er allein die Geschicke des Landes lenken. Dieser Denkzettel ist erfreulich.
  • Noda unterstützt mehr oder weniger Naoto Kans Atomausstiegspläne. Das ist mehr oder weniger gut. Mehr wäre besser.
  • Noda findet nicht, dass die japanischen Kriegsverbrecher im Zweiten Weltkriegs echte Kriegsverbrecher waren, wie er kürzlich auf Anfrage noch einmal bestätigte. Das ist nun gar nicht gut.

Aber wir müssen uns ja eh nicht lange mit ihm befassen. Die nächsten regulären Wahlen sind im September nächsten Jahres, dann bekommt Japan seinen achten Premierminister in acht Jahren.

Jubiläum: Der 100. Eintrag! (Wiederholung)

Wider besseren Instinkt las ich die Woche ein Interview mit dem hauptberuflichen Schallplattenindustrieerklärer Tim Brenner, in dem Ohrenschlackernmachendes zu erfahren war. Zum Beispiel, dass die Schallplattenindustrie die digitale Revolution verschlafen habe, und dass das Album als Format überholt wäre, denn es sei überhaupt nur aus technischen Notwendigkeiten heraus entstanden (mehr als eine Dreiviertelstunde ging halt nicht drauf) und keineswegs aus künstlerischer Erwägung. Also weg damit.

Wäre ich eine gezeichnete Ente, würde ich sagen: Seufz. Ich müsste vielleicht weniger oder könnte leiser seufzen, würde diese Unwahrheit nicht seit Jahr und Tag landaus, landein von jedem Plappermaul als Wahrheit verkauft werden. Ich habe zwar das Album als solches hier schon einmal als die relevanteste und schönste aller musikalischen Darreichungsformen gepriesen, aber ich tue es gerne noch einmal, weil erstens das Netz das vergesslichste aller Medien ist, zweitens andere ja auch ständig dasselbe sagen (j’accuse, Tim Brenneur!), und drittens mir unlängst erst wieder bewusst geworden ist, wie recht ich habe.

Es sollte bekannt sein, dass die Gründe, aus denen etwas entsteht, und die Gründe, aus denen es fortbesteht, nicht dieselben sein müssen. Das Album mag seine klassische Länge schnöden Kapazitätsproblemen verdanken. Dass es sich aber über Jahrzehnte bewährt hat, liegt daran, dass diese Länge durch einen glücklichen Zufall genau die richtige war und ist. Mit einem Album hat man was in der Hand, und das nicht nur im buchstäblichen Sinne, sondern vor allem im übertragenen. Mit einem Download-Album hat man musikalisch ebenso viel in der Hand wie mit einer Polyvinylchloridplatte. Klein-klein aus dem Analog/Digital-Grabenkrieg soll an dieser Stelle keine Rolle spielen, Musik ist Musik. Rund 10 Songs, mit denen man sich beschäftigen kann und muss. Das tut man auch, und zwar intensiv und gerne, denn 10+X neue Songs eines geschätzten Künstlers auf einmal zu bekommen ist ein Ereignis, für das man mal kurz mit Twittern aufhört. Anders verhält es sich mit einzeln veröffentlichten Songs. Da hört man mal rein und macht nach der Hälfte aus, wenn es nicht auf Anhieb als Meisterwerk erkennbar ist (was machen noch mal die Smashing Pumpkins heute?). Ähnlich bei Darreichungsformen des anderen Extrems. Wer hört sich schon CD-Boxen so intensiv an, wie sie es möglicherweise verdient hätten? Ich habe einen recht genauen Eindruck des ersten Drittels des letzten Dreier-Albums von Joanna Newsom, aber danach verschwimmt alles, und man weiß nicht, ob es Newsoms oder Neuenkirchens Schuld ist. Ich habe außerdem den vagen Verdacht, dass besagtes ein stärkeres Werk hätte werden können, hätte man mit Mut zum Mülleimer aus den hammermäßigsten Krachern der drei Mini-Alben ein einziges Album von moderater Länge gemacht. Aber das ist nur geraten, für eine fundierte Meinung müsste ich erst mal dazu kommen, mir die zweite und dritte Scheibe genauso aufmerksam anzuhören wie die erste.

Wenn nun einer behauptet, wie das die Woche einer in einem Interview getan hat, das Album sei „keine Kunstform“, dann hat der unrecht. Selbstverständlich ist ein anständiges Album hohe Kunst in Inhalt und Form, denn es handelt sich nicht nur um eine Zweckgemeinschaft einzelner Songs, sondern um ein Gesamtwerk, dessen Summe blabla Einzelteile blabla, Sie wissen schon. Das gilt, Gott bewahre, keineswegs nur für ausgesprochene Konzeptalben. Wobei es auch mal an der Zeit wäre, die ständig unreflektiert nachgeplapperte Pauschalkritik an diesem Genre zu überprüfen, und es nicht immer nur an seinen schlimmsten Beispielen zu messen. Im Grunde ist jedes auf dem üblichen Wege entstandene Studioalbum ein Konzeptalbum, denn Auswahl und Reihenfolge der Songs folgt einem dramaturgischen Konzept. Die Songs stehen nicht nur für sich selbst, sondern auch in Beziehung zueinander, und sie repräsentieren die verantwortlichen Künstler in einer bestimmten Phase ihres Lebens und Schaffens. Deshalb sind Hit-Sammlungen und andere Kompilationen meist so unbefriedigend, es fehlt zum einen das dramaturgische Auf und Ab, vor allem aber das einende je ne sais quoi.

Das bisher beste Album des laufenden Jahres ist bekanntlich Ninth vom vielversprechenden Nachwuchstalent Peter Murphy. Es ist ein Paradebeispiel für ein gelungenes Album, weil es nicht nur voller guter Songs ist, sondern weil man das erst dadurch merkt, dass es ein Album ist. Da gibt es Lieder, die sofort gefallen, etwa die mopsfidelen Velocity Bird oder Memory Go. Dann die, die man im zweiten Durchgang mitnimmt, zum Beispiel die poetisch-spinnerten I Spit Roses oder Seesaw Sway. Diese Songs hätte man womöglich auch bemerkt und für gut befunden, wenn sie für sich irgendwo rumgeflogen wären. Aber dann gibt es auch so etwas wie das brummige Secret Silk Society, das das erste, zweite, dritte … Mal nach typischem Füllmaterial klingt, bis man seinem dunklen Sog erliegt. Als vorletztes Stück kommt es an genau der richtigen Stelle im Gesamtzusammenhang, man wird dem Sog wieder sanft entrissen vom Rausschmeißer Crème de la Crème, den ich zunächst für zu beschaulich gehalten hatte. Als Kontrast zum Vorgänger und als Abschluss des Albums ist er aber ganz wunderbar. Solche Lieder brauchen Zeit zum Gedeihen, und das geht nur, wenn sie in ein Album gepflanzt sind. Als itunes-Hörproben haben sie keine Chancen.

Selbst wenn man langweilig, also aus Sicht der Wirtschaft und des Marketings, an die Sache herangeht, ist das Album als solches unverzichtbar. Auch wenn es sich nicht mehr so gut verkauft wie zu Zeiten, als das Kino noch zwei Groschen gekostet hat, Fußball Männersache war und der Pfannkuchen wie Pfannkuchen schmeckte, so ist es doch als Aufhänger für mediale Öffentlichkeit und weitere musikalische Aktivitäten nicht zu ersetzen. Welches Leitmedium berichtet schon darüber, wenn jemand einen neuen Song ins Internet stellt? Bei einem ganzen Album sieht das anders aus. Gerne weisen Schallplattenindustrieerklärer darauf hin, dass der große Reibach heute auf der Bühne gemacht wird. Das ist schön, da gehört Musik hin. Aber eine Tournee ohne reichlich neues Material (Sie haben es erraten: Album!) hat etwas Trauriges, da verkommt ein Künstler schnell zur eigenen Cover-Band.

In diesem Sinne: Man sieht sich beim Konzert am 23. 10.

Bitchmove in Schanghai

(Bitte nicht lesen, wenn Sie die Erörterung kleinlichster Fragen der deutschen Sprache und Rechtschreibung nicht für hocherotisch halten.)

Vor meinem nächsten Kontrollbesuch in Japan habe ich eine mehrtägige Zwischenlandung in China eingeplant, zur Vorbereitung wollte ich kürzlich Sachliteratur erstehen. Ich ging also auf den Buchladen und tippte ins Suchfeld: „Shanghai“, und hatte im Nullkommanichts genau das, was ich wollte, in großer Auswahl und vielfacher Ausführung, neu und gebraucht. Soweit nicht ungewöhnlich, Internet halt, ich hatte schon davon gehört.

Etwas scheinbar Ungewöhnliches ereignete sich dann aber doch noch wenig später, als ich erneut „Shanghai“ tippte, und zwar in eine Office-Anwendung, beim Verfassen eines launigen Artikels zum Thema (jener später an dieser Stelle, falls er fertig wird und launig bleibt). Das Wort „Shanghai“ wurde stets rot unterkringelt von der zuvorkommenden Software. Ich starrte und stierte, aber konnte den Fehler nicht finden. Sollte die Stadt etwa mit deutschem Schule-Sch geschrieben werden? Das konnte nicht sein, denn die drei deutschsprachigen Reiseführer, die bereits auf dem Weg zu mir waren, und die für mich Mindestvoraussetzung für fünf Übernachtungen sind, hatten es mit anglophilem Shanty-Sh auf dem Umschlag, da war ich mir sicher.

Aber ein Blick in den Duden bestätigt: Schanghai mit Sch ist die empfohlene Schreibweise. Der gedruckte Duden kennt immerhin die Sh-Variante, in der Online-Version hingegen wird sie als eigener Eintrag gar nicht geführt, sondern unter „Schanghai“ mitgelistet und als „englisch“ verunglimpft.

Wissen das die Deutschen? Selbst ich wusste es nicht, und mir wachsen regelmäßig graue Haare (Haare wachsen = reines Wunschdenken), wenn jemand in einem deutschen Text „Tokio“ mit Fantasie-Ypsilon schreibt. Ich nehme solche Sachen sehr genau, ich habe sonst keine Freuden im Leben. Liebend gerne schreibe ich Schanghai gutdeutsch, man muss es mir nur sagen. Und man sollte es so gut wie allen deutschen Reiseliteraturverlagen sagen, denn lediglich ein einziger Reiseführer ist unter der korrekten Schreibweise zu finden (drolligerweise der aus dem Amerikanischen übernommene Wallpaper City Guide). Tippt man „Schanghai“ in den Buchladen, kommt die hilflose Frage: Meinten Sie Shanghai?

Viel Neues über die Muttersprache kann man auch bei Langenscheidts Wahl äh Voting zum Jugendwort des Jahres erfahren. Die meisten nominierten Begriffe sind faule Übernahmen aus dem Englischen, z. B. Bitchmove oder (Epic) Fail. Mir fehlt just der Esprit, diesen Umstand ausführlich zu beklagen, bitte fügen Sie hier Ihr eigenes Lamento über die Überfremdung der deutschen Sprache ein.

Einige deutschdeutsche Ausdrücke sind schon dabei, gar nicht mal alle unschön. An der Authentizität allerdings hege ich – sehr vorsichtige – Zweifel. Es ist ja nun nicht so, dass ich sehr viel direkten Kontakt zu Jugendlichen hätte, aber ganz außen vor fühle ich mich nicht. Als Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel hört man der Jugend schließlich oft genug beim Telefonieren zu. Noch nie habe ich gehört: „Mein Katheterpeter ist voll der Körperklaus, aber trotzdem ziemlich naturschlau, jedenfalls kein Wikiwisser.“ Döner habe ich zum letzten Mal im 20. Jahrhundert gegessen, auch da schon nicht mehr in Gesellschaft ganz blutjunger Menschen. Ob solche heute tatsächlich sagen: „Einmal Karussellfleisch mit scharf!“, weiß ich nicht. Aber ich hoffe es ausdrücklichst!

Einige angeblich brandaktuelle Ausdrücke verwundern doch sehr. Berufsjugendlicher war schon in meiner Jugend das lang etablierte Wort, mit dem mein damaliges Ich so Typen wie mein heutiges Ich beschrieb. Auch die Prolette war keine Unbekannte. Wir echten Jugendlichen fanden damals keineswegs, dass Berufsjugendliche und Proletten rulen, aber jenes Verb benutzten auch wir schon mehr, als für unsere Ausdrucksweise gut war. Rubbeldiekatz hingegen sagten wir bestimmt nicht, das taten nur Berufsjugendliche, die auf Katheterpeter angewiesen waren.

Zum ersten Mal in seiner Geschichte gibt Shakira Kurosawa eine Wahlempfehlung: Bitte wählen Sie Karussellfleisch, alles andere wäre ein Bitchmove.