Wie mir Diego Maradona half, ein besserer Autor zu werden

Klingt vielleicht komisch, aber ich habe mal in offiziellem Auftrag ein Konzept für einen TV-Mehrteiler über das Leben von Diego Maradona erarbeitet. Auftraggeber war ein Sportsender, der sein Kompetenzgebiet um fiktionale Formate erweitern wollte, damit in den kalten und ereignisarmen Monaten nicht immer die Abonnenten weglaufen. Ich hatte damals wie heute kein Interesse an Herrenfußball und wusste über Maradona nur: erst Fußball, dann dick.

Selbstverständlich nahm ich den Auftrag an, denn die allerwichtigste Regel beim Schreiben lautet: Sag immer ja. Bedingungslose Verfügbarkeit ist die halbe Miete, nahezu buchstäblich.

Ich las mich durch Maradonas Leben und hatte bald ein differenzierteres Bild des Menschen, der mir vorher kaum mehr als eine tragische Witzfigur gewesen war. Dennoch: Seinem sportlichen und menschlichen Werdegang einen positiven Dreh abzugewinnen, wie es der Wunsch des Auftraggebers war, ohne allzu dreist lügen zu müssen (wie es ebenfalls dem Wunsch des Auftraggebers entsprach), war eine Herausforderung. Ebenso in seinem Leben und seiner Karriere Höhe- und Tiefpunkte zu identifizieren, die sich für eine episodische Erzählweise anboten. (Ich bin ganz entschieden nicht der einfältig-modernen Auffassung, dass Fernsehserien nichts anderes seien als überlange Filme mit kurzen Unterbrechungen).

Für ein paar sehr intensive Tage und Nächte (so etwas muss ja am besten immer schon vorgestern fertig sein) war ich Maradona. Ich war noch nie zuvor Maradona gewesen, und dieses Arbeiten außerhalb aller meiner Wohlfühlbereiche war belebend, beängstigend und bereichernd.

Die Serie ist natürlich – wie die meisten Serien – nicht zustande gekommen, doch der Sender war recht angetan und gab mir gleich den nächsten Auftrag. Dieselbe Chose mit einem Boxer, über den ich nicht viel mehr wusste als: erst boxen, dann beißen. Da war der positive Dreh noch ein wenig schwieriger zu finden, und ich wuchs noch ein bisschen mehr als Autor und Sportexperte. (Außerdem war es eine gute Gelegenheit, endlich meine Boxfilmwissenslücken zu schließen, und ich muss sagen: Ich verstehe nicht, was die Leute an Creed finden. „Armer Bubi boxt sich hoch“ ist eine Geschichte. „Reicher Bubi boxt sich runter“ ist keine. Zumindest keine, bei der ich mir auf den Knien vor dem Bildschirm alle Fingernägel abkaue.)

Ungefähr zur gleichen Zeit arbeitete ich an einem größeren Projekt, von dem ich dachte, dass es mehr auf meiner Wellenlänge läge: eine Manga-Verfilmung über Killer-Cyborgs aus der Zukunft. Ganz meine Welt, meinte ich, schreibe ich mit links im Schlaf. Das Ergebnis kam allerdings nicht so gut an. Irgendwie flach, schleppend, unfokussiert, fand man. Es soll sogar gemurmelt worden sein, man könne sich gar nicht vorstellen, dass das dieselbe Type hingeschludert hatte, von der auch diese brillante Maradona-Geschichte war.

Merke: Manchmal findet man seine Talente in genau den Ecken, in denen man ohne Überwindung gar nicht nachgeschaut hätte.

Und so war mein erster Gedanke, als ich heute Morgen vom Tode Maradonas erfuhr: Ach, schade. Mein zweiter war natürlich, ob man nicht jetzt noch einmal über diese Serie verhandeln sollte. Das Leben geht schließlich weiter.

Servus, mach’s guad, und vielen Dank für den Steckerlfisch

Ich ziehe bald um, die Sentimentalität setzt bereits ein. Zwischen Überseekisten, Exportdokumentation und Inventarlisten bleibt derweil kaum Gelegenheit für ausgiebige Introspektion. Vielleicht schreibe ich mal ein Buch über München, wenn ich in Tokio bin, ging umgekehrt schließlich auch. Heute möchte ich im Schnelldurchlauf schon mal rekapitulieren, was eigentlich in den letzten rund 18 Jahren so passiert ist.

Als sich in Bremen 1998 zum ersten Mal jemand am Telefon mit „Grüß Gott!“ bei mir meldete, hielt ich das für einen Scherzanruf. Ich kannte diesen Ausdruck nur aus Heimatfilmen und wusste wirklich nicht, dass er noch irgendwo im aktiven Gebrauch war. Außerdem hielt ich Bayern insgesamt für rechtsradikal (CSU) und München für die Hauptstadt der Rechtsradikalen (dass die bayrische Landeshauptstadt die sicherste Sozi-Hochburg der Republik ist, weiß außerhalb Bayerns leider so gut wie niemand, zu mächtig ist die finstere Reputation des Umlandes). Trotzdem hatte ich mich dort für einen Job beworben, weil ich an der Uni die Übersicht verloren hatte und nicht glaubte, dass ich da noch mal hingehen würde. Und weil ich meinte, ich könnte mich an einem fernen Ort ganz neu erfinden (Spoiler: das ging nicht, das geht nie. Es liegt nicht in der Natur des Menschen, sich selbst jemals neu zu erfinden.) Die Grüß-Gott-Stimme am Telefon teilte mir mit, man habe meine Bewerbung erhalten und würde mich gerne zum Vorstellungsgespräch einladen.

Das Vorstellungsgespräch war die reinste Katastrophe. Es ging um eine Redakteursstelle bei einer Illustrierten für Computerspiele. Ich besaß erst seit ungefähr einem Jahr einen Computer, und die einzigen Spiele, die ich kannte, waren Duke Nukem 3D und Sam & Max. Die fand ich immerhin so toll, dass ich die Zukunft der Unterhaltung, der Kunst und des Erzählens im Bereich der Computer- und Videospiele sah, womit ich ja auch recht hatte. Ich log faustdick, was meine Qualifikationen anging, und die meisten Lügen flogen noch während des Gesprächs auf.

Noch überraschter als vom ersten Grüß-Gott-Anruf war ich vom zweiten, der mir mitteilte, dass ich den Job hätte, so ich ihn wollte. Ich habe zwar keine Ahnung von der Materie, aber man wolle mal jemanden mit einem „journalistischen Background“ ausprobieren.

Klassische Computerspiele-Illustrierte haben allerdings keinen Bedarf für Journalismus. Die haben nur Bedarf für Buchhalter, die Formulare mit Testergebnissen ausfüllen. Ich kündigte noch vor Ablauf der Probezeit. Eine Panikreaktion, weil ich die Schande einer Kündigung durch den Arbeitgeber entgehen wollte. Rückblickend betrachtet war meine Anstellung wohl nicht so gefährdet, wie ich damals angenommen hatte, meine Arbeit war eigentlich anständig. Die richtige Entscheidung war es dennoch, denn ich war todunglücklich. Wo man einem Chefredakteur wirklich den Begriff ‚Pornomusik‘ erklären muss, und er es dann immer noch nicht versteht, kann man sein lyrisches Federkleid nicht allzu schillernd spreizen.

Eine neue Arbeitsstelle ist freilich stets schnell gefunden. Ich log und schleimte mich in eine PR-Agentur, selbstredend mit schlechtem Gewissen. Zum journalistischen Selbstverständnis gehört es, PR als die dunkle Seite der Macht zu sehen. Ich bekam den Job, weil die Agentur jemanden mit einer „flotten Schreibe“ suchte.

PR-Agenturen haben allerdings keinen Bedarf für „flotte Schreibe“. Die, die ausdrücklich danach suchen, sind die, die am wenigsten Ahnung davon oder Verwendung dafür haben. Eines Tages fragte einer der Agentur-Kunden meine Chefin in vollem Ernst und echter Verzweiflung, ob der Neuenkirchen „vielleicht geisteskrank“ sei, nachdem ich eine seiner Pressemitteilungen mal ohne Mehrkosten etwas „flotter geschrieben“ hatte.

Lange durfte ich dann nicht mehr bleiben. Dennoch erachte ich es bis heute als einen meiner größten beruflichen Triumphe, dass der Schwindel erst neun Monate und zwei Gehaltserhöhungen später aufgeflogen ist.

Falls wer meint, tiefer als PR-Agentur könne man nicht sinken: zwischenzeitlich habe ich noch schwarz bei einer namhaften Werbeagentur gearbeitet. Ich schrieb Rundfunkreklame für eine Möbelhauskette. Es ging um ein Geheimagentenpaar auf der Suche nach überirdischen Angeboten. Die Spots wurden produziert, aber nie gesendet.

Nächster Stopp: eine Verlagsneugründung, dort insbesondere ein sogenanntes Lifestyle-Magazin mit Schwerpunkt Unterhaltungselektronik. Unterhaltungselektronik ist nicht gerade das majestätischste Steckenpferd in meinem Stall, ist allerdings ein Thema, das man sich als geübter Blender schnell aneignen kann. Wegen „flotter Schreibe“ durfte ich in gewissen Bereichen des Heftes machen, was ich wollte, also war ich verhältnismäßig glücklich. Eigentlich bin ich ja ein genügsamer Typ.

Leider sind Menschen, denen die Wahl der richtigen Unterhaltungselektronikkomponenten extrem wichtig ist, in der Regel genau die Menschen, die extrem wenig lesen. Nach 1 ½ Jahren war das Magazin am Ende, ein halbes Jahr später der ganze Verlag. Lag vielleicht auch daran, dass der Verlag relativ wenig Skrupel hatte, wenn es um die Erstattung von Reisekosten ging. Eine Zeit lang war meines ein herrliches Leben im Klischee, ein Leben zwischen Deutschland, Marokko, Spanien, Italien, Großbritannien und Japan. Besonders Japan hatte es mir angetan. Sogar so sehr, dass ich eines Tages bei Edeka im Olympia Einkaufszentrum knapp zwei Euro locker machte und mir das Buch Gebrauchsanweisung für Japan von Gerhard Dambmann vom Grabbeltisch kaufte und mir vornahm: ‚Wenn ich einmal groß bin, möchte ich auch so ein Buch schreiben.‘

Nach der Abwicklung des Verlages ging ungefähr die gesamte Belegschaft zu Amazon. Amazon war mir als Unternehmen schon immer sympathisch. Auf einer Party anlässlich der Angebotserweiterung um Video- und Computerspiele, zu der ich einmal als Pressevertreter eingeladen war, gab es leckeres Dosenbier und gelbe Amazon-Badehandtücher als Geschenk. Meines hat extrem lange gehalten und war stets sehr flauschig. Also hatte ich mich gleich dreifach dort beworben: als Redakteur für Bücher, als Redakteur für Videokassetten und notfalls als Redakteur für Unterhaltungselektronik. Letzteres bin ich dann erst mal geworden, wohl wegen beruflicher Vorbelastung.

Meine knapp 15 Jahre bei Amazon brachen endlich den Fluch meiner Reputation als beruflich flatterhaft, die mir mein dreifacher Wechsel in nicht mal drei Jahren eingebracht hatte (dabei war nur der erste Wechsel komplett auf meinem eigenen Mist gewachsen). Ich würde die Amazon-Ära folgendermaßen bilanzieren: 7 magere Jahre, 7 fette Jahre, und eines, in dem ich schon nicht mehr so richtig da war (würde ich auch in der Kategorie ‚fett‘ sehen). Insgesamt keine schlechte Bilanz für ein Arbeitsverhältnis, finde ich. Arbeit ist schließlich Arbeit, und Ponyhof ist Ponyhof, und wenn man nicht gerade auf einem Ponyhof arbeitet, sind das zwei sehr unterschiedliche Dinge. Diesen Umstand habe ich nie als skandalös empfunden.

Selbstverständlich besteht das Leben nur zu einem Bruchteil aus Arbeit, der Rest ist Ponyhof. Das Büro meines frühen Lifestyle-Jobs war passenderweise in der Nähe von Straßenstrich und Kunstpark Ost. Letztere Nähe nutzten die Kollegen und ich recht ungehemmt. Zum Trinken, aber mitunter sogar zum Tanzen. Der Kunstpark war sozusagen unser Ponyhof. Hier feierte ich angstfrei meinen 30. Geburtstag unter Kollegen, die mir Freunde geworden waren, darunter auch CSU wählende Bayern. Einer von ihnen ließ zu vorgerückter Stunde gerne mal die Fäuste sprechen. Vor allem dann, wenn jemand sich anschickte, den Ausländern in unserer Gruppe blöd zu kommen. Sein Wahlverhalten heiße ich trotzdem nicht gut, das kann man auch anders lösen.

Später wurde der Kunstpark umbenannt in Kultfabrik und wurde genauso schrecklich wie dieser Name. Man ging dann nur noch notgedrungen und widerwillig zu unverzichtbaren Konzerten hin und danach schnell wieder weg. Als das Areal im letzten Jahr komplett geschlossen wurde, war es einem schon gänzlich egal. Bei meinem letzten Besuch wurde ich auf dem (kurzen) Weg vom Ostbahnhof zur Kultfabrik dreimal von unterschiedlichen Händlern angesprochen, ob ich gerne Drogen kaufen würde. Nein, wollte ich nicht, will ich nie. (Kleine Randnotiz für besorgte Bürger: Kein Grund zur Besorgnis; die fliegenden Händler waren allesamt weiße Milchgesichter in teurer Marken-Ghetto-Garderobe). Der Zweck meines Besuches war ein Konzert von Peter Murphy gewesen, ihm ging es an dem Abend auch nicht so gut. Hatte sich vielleicht auf dem Weg was andrehen lassen.

Zweimal musste ich in München eine Wohnung suchen, beide Male war es ein Kinderspiel. Ich kenne die epischen Horrorgeschichten anderer Wohnungssuchender und komme nicht umhin, ihnen eine Mitschuld zu geben. Sie scheinen an ihren eigenen Ansprüchen zu scheitern. Offenbar besteht jeder auf ein geräumiges Apartment im Glockenbachviertel oder in Schwabing oder sonst wo direkt über der eigenen Stammszenekneipe, selbstverständlich Altbau mit Parkettboden, und selbstverständlich technisch und hygienisch auf dem neuesten Stand und bitteschön bezahlbar vom Praktikumsgehalt. Ich hingegen habe rund 18 Jahre in Moosach gut und günstig gewohnt. Zuerst mit Teppichboden, bin ich auch nicht dran gestorben. Einer meiner Vermieter war besser als der andere, in Ordnung waren beide. Ich habe nie eine Wohnungsbesichtigung erlebt, bei der mehr Interessenten als meine Frau und ich anwesend waren. Ich habe es nicht als Zumutung empfunden, ein paar Stationen mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren zu müssen, wenn ich etwas mehr Aufregung haben wollte, als Moosach zugegebenermaßen zu bieten hat. Tatsächlich glaubte ich, dass die Distanzüberwindung im Begriff ‚Ausgehen‘ mitschwingt (für viele ist das aber wohl nur ein Synonym für ‚vor die Türschwelle treten‘).

Meine Zeit in München war nicht zuletzt eine Zeit stetiger Gesundung. Das mag mehr an der Zeit und der zunehmendem Alterseinsicht liegen als am Ort, im Bewusstsein wächst es trotzdem zusammen. Während ich eines Silvesters alleine zu Hause saß, so wie ich es gerne tat, und den Film Elementarteilchen schaute, sagte ich mir: ‚Wie wäre es, wenn ich mir nach dieser fast leeren Zigarettenschachtel nie wieder eine neue kaufe?‘ Und so kam es, dass ich mich bezüglich Elementarteilchen in erster Linie daran erinnere, dass ich während des Schauens meine letzte Zigarette geraucht habe. Ob ich sie rauchte wie Houellebecq, weiß ich nicht mehr.

Zu illegalen Drogen hatte ich in Bremen stets ein Verhältnis wie zu Toffifee: Ich habe mal ein oder zwei genommen, wenn welche auf dem Tisch standen; ich wäre aber nie auf die Idee gekommen, mir selbst welche zu kaufen (der Fachterminus ist wohl ‚Schnorrer‘). Da in München nie jemand welche auf meinen Tisch gestellt hat (Drogen, nicht Toffifee), durchlebte ich den unspektakulärsten kalten Entzug aller Zeiten.

Mein Alkoholkonsum, das muss ich eingestehen, blieb lange Zeit auf einem hohen Niveau, das bei aufgekratzten Teenagern vielleicht niedlich ist, bei Volljährigen allerdings eher traurig und beunruhigend. Ich war überrascht, wie einfach die Lösung war: Sport. Als aufgekratzter Teenager hatte ich stets gehässig über all die gut gemeinten Gesundheitskampagnen gekichert, die sogenannten ‚Kids‘ weismachen wollten, dass Sport viel mehr Böcke mache als Drogen, Alter. Das Problem dieser Kampagnen, so weiß ich inzwischen, ist nicht, dass die Aussage nicht stimmt. Das Problem ist, dass die Kids das nicht glauben. Könnt ihr aber, Kids.

Natürlich trinke ich weiterhin Alkohol, ich bin ja nicht blöd. Allerdings inzwischen auf familienfreundlichen Niveau.

Das war nun also in sehr groben Zügen Episode 2: München. Und so vieles wurde noch nicht mal angerissen. Etwa wie ich einmal Gefangener einer religiösen Sekte war. Oder wie ich eine Bande mallorquinischer Poker-Betrüger verklagte. Und die Familienwerdung scheint mir auch nicht ganz unerheblich.

War diese Episode besser oder schwächer als Episode 1: Bremen? Schwer zu sagen, sie war halt anders. Vielleicht ein kleines bisschen erwachsener, also mit mehr Längen. Jetzt freue ich mich auf jeden Fall auf Episode 3: Tokio.
(Die Bilder dieses Beitrags stammen übrigens von der verehrungswürdigen Quasi-Ko-Autorin meines nächsten Buches Matjes mit Wasabi.)

Fußball-Krimi: Deutschland gegen Argentinien jetzt wieder 0:0

Gestern nach Redaktionsschluss ist noch was passiert, was ich für meinen WM-Report nicht mehr berücksichtigen konnte, Sie wissen schon. Im Fußballjargon nennt man es wohl harakiri.

Ich sage es gleich: ich habe den sogenannten Gaucho-Tanz nicht gesehen und habe nicht vor das nachzuholen, ich bin eh total im Rückstand mit Internetvideos (hab noch nicht mal das gesehen, wo sich die ganzen Leute küssen). Ich muss also mit Hörensagen arbeiten, was mir für einen glasklaren, messerscharfen Durchblick vollkommen ausreicht. Gehört habe ich, dass das Ganze wohl auf einem traditionellen Fanritual basiert, das immer durchgeführt wird, wenn einer gewinnt und einer verliert, mit angepassten Variablen. Tradition ist freilich kein Freifahrtschein für jeden Mist. Diesen speziellen Mist finde ich generell albern aber vertretbar, in diesem speziellen Fall allerdings ein wenig unglücklich (vollwertige Empörung spare ich mir lieber für Raketeneinschläge und Lebensmittelskandale auf). Denn selbstverständlich sehen Sieger nicht so aus wie jemand, der sich über Verlierer lustig macht. Bei solchen Gesten macht es durchaus einen Unterschied, von wem und in welchem Rahmen sie kommen. Genauso stimmt es, dass ein Gaucho-Tanz kein Hitlergruß ist, noch nicht mal im Ansatz.

Die Erklärungs- und Beschwichtigungsversuche der Anhänger, die sich ihre Freude am Fußball nicht nehmen lassen mögen, kann ich gut verstehen, denn sie erinnern mich an mich, wenn Morrissey oder Michel Houellebecq mal wieder den Mund aufmachen. Schon während sie Luft holen, formuliert man ein stilles Stoßgebet: Bitte, bitte … nichts über Hühnerhaltung, Massenmord, Sextourismus oder den Islam. Aber es kommt, wie es immer kommt, und hinterher sagt man: Aber … aber … sie singen doch so engelsgleich (Morrissey) und schreiben so schöne Bücher (beide). Und diese Rechtfertigungen sind gar nicht ganz so halt- und hilflos, wie sie klingen. Manche Menschen können sich halt in unterschiedlichen Foren und Formen unterschiedlich gut ausdrücken. Mir ist in meinem persönlichen Umfeld kein leidenschaftlicher Mensch bekannt, der sich beim Vertreten seiner Ansichten nicht schon einmal im Ton vergriffen hätte. Selbstverständlich hat Morrissey prinzipiell recht damit, dass Tierleben gewürdigt und geschützt gehören. Selbstverständlich hat Houllebecq ganz allgemein recht damit, dass Religion auch Nachteile und Prostitution auch Vorteile hat. Was habe ich schon Witze über Japaner gemacht. Was hat meine Frau schon Witze über Deutsche gemacht. Gottlob war das Fernsehen nie dabei. Wenn gar nichts anderes hilft, kann man auch mal Kunst von Künstler trennen: Er ist zwar ein Arsch, aber ich freue mich schon aufs nächste Lied/Buch/Spiel; das kann er wie kein zweiter. Darüber hinaus ist stets zu bedenken: Es gibt nichts Langweiligeres, als sich nur mit Menschen zu befassen und zu umgeben, die alles genau so sehen, formulieren und machen wie man selbst. Das macht träge und einfältig.

Jetzt spielen also Schweini, Poldi und wie sie alle heißen in derselben Liga wie Morrissey und Michel Houellebecq? Weltmeister der kulturellen Kommunikation? Wollte ich das damit sagen? Keine Ahnung, aber was ich auf jeden Fall sagen muss: Meine Fresse, was waren die Argentinier für schlechte Verlierer! Im Grunde ist ihnen jeder Spott von jedem zu gönnen. Die haben mit der Unsportlichkeit angefangen. So, wie Messi bei der Siegerehrung geguckt hat, guckt man einfach nicht bei einer Siegerehrung. So sehen keine traurigen Verlierer aus, so sehen bockige Kleinkinder aus.

Trotzdem zeigt die deutsche Mannschaft keine Größe, wenn sie genauso kleinkindisch kontert. Ich hätte einen Vorschlag zur Güte: Wir haben uns ja nun schon alle genug gefreut, das kann uns keiner mehr nehmen. Erklären wir doch einfach das Finale für ungültig und Holland zum Weltmeister. Oder (besser) Costa Rica. Argentinien und Deutschland schicken wir ohne Abendessen auf ihre Zimmer, wo sie mal über die ganze Sache nachdenken können. Zur Aufheiterung spricht das Wort zum Donnerstag Onkel Mo, hier mit Tante Pam:

Du bist hier nicht in Kreuzberg, Uschi: Weltmeisterschaft im Harakiri

Jetzt ist sie wieder vorbei, die Zeit, in der die Hälfte meiner Facebook-Freunde in heller Aufregung Sportergebnisse postet, und die andere Hälfte blasierte „War was?“-Kommentare. In aller Freundschaft: Ich finde das erste unnötig, und das zweite unnötig und kindisch. So eine WM ist keine Ganz-oder-gar-nicht-Geschichte, kein Die-oder-wir, kein Proleten-gegen-Schöngeister, es besteht keine absolute Bekenntnisnotwendigkeit. Nichtsdestotrotz bekenne ich mich heute: Ich bin die Art von Fußballgucker, auf die gewohnheitsmäßige Fußballgucker herabsehen. Ich gucke nur zu Großereignissen, es muss schon WM sein, ersatzweise auch mal die der Herren, und auch dann erst, wenn es spannend wird. Und das ist auch gut so. Stolz bin ich darauf freilich nicht, denn stolz kann man nur auf etwas sein, was einen große persönliche Anstrengungen gekostet hat. Zum Beispiel: ein Fußballspiel mit den eigenen Füßen zu gewinnen, oder nach spektakulären Fluchten und langem Spießrutenlaufen die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten. Einfach nur ein gewonnenes Fußballspiel im Fernsehen gesehen zu haben oder zufällig irgendwo geboren worden zu sein wäre als Ursache für Stolz ein wenig befremdlich.

Selbstverständlich stören mich die grölenden, bemalten Dooffans, die bereits vor der Halbzeitpause zu besoffen von Heimatgefühl und sonst was sind, um noch etwas vom Spiel mitzubekommen (in diesem Zusammenhang ist es schon sehr passend, dass man unter dem deutschen Begriff public viewing im Englischen das öffentliche Aufbahren von Leichen versteht). Gottseidank gibt es davon in meinem Haushalt keine. Mehr noch als diese kaum noch lebenden Toten stören mich allerdings zunehmend die ständigen Flunschzieher, die ihre Fußball-Ablehnung ausstellen wie eine elitenbildende Zierde. Also so Typen wie mich vor 2011, dem Jahr der letzten echten WM und meiner Epiphanie. Typen, die sich tatsächlich darüber beschweren, dass alle vier Jahre nachts mal einer hupt. Dabei sind einige dieser Typen noch in dem Alter, in dem es eigentlich ihre Pflicht wäre, selbst ab und an für nächtliche Ruhestörung zu sorgen. Kommen die Menschen inzwischen schon als „Runter-von-meinem-Rasen!“-Greise auf die Welt?

Meine Frau ist Ausländerin und schwanger. Das ist in diesem Zusammenhang deshalb erwähnenswert, weil erstens Zugereiste beim Themenkomplex Deutschland ja meist fanatischer sind als Alteingesessene, und zweitens weil es ihr wichtig war, dass unsere Tochter in einem historischen Jahr geboren wird. In anderen Worten: bei Deutschland-Spielen war auf dem Sofa eine Stimmung, dass ich Angst hatte, vorzeitige Wehen könnten jederzeit einsetzen.

Die Frage nach mannschaftlicher Loyalität sehe ich entspannter als sie. Man muss nicht zwangsläufig für das Land jubeln, in dem man Steuern zahlt und Rente bezieht. Man darf aber. Es hängt ganz von der Erzählung ab, denn die ist das schöne an sportlichen Großereignissen. Es handelt sich im Grunde um Helden- und Schurken-Epen mit allem Drum und Dran, nur dass anders als in der literarischen Epik die dramatischen Höhepunkte, überraschenden Wendungen, Sympathien und Antipathien nicht festgeschrieben sind, sondern sich während des Erzählens ergeben. Deshalb fände ich es Unsinn, von vornherein für eine bestimmte Mannschaft Partei zu ergreifen. Protagonisten müssen sich erst herausschälen. Mein Lieblingssieger wäre diesmal Costa Rica gewesen. Aber als das nicht mehr ging, hatte ich keine Probleme damit, den deutschen Spielern meine Gunst zu vermachen, die waren mir auch ganz sympathisch.

Die Qualität der Erzählung ist auch der Grund, warum ich mich nicht für das Klein-klein der lokalen und regionalen Vereinsmeierei interessiere. Wenn die WM ein Epos ist, dann ist Dingsbums-Liga (keine Ahnung, was es da alles gibt und wie das heißt) eine Daily Soap. Dafür fehlen mir Ausdauer und Geduld. Außerdem finde ich Lokalpatriotismus noch bekloppter als Nationalpatriotismus. Ich habe da schlimme Erinnerungen an 2010, als ich in Tokio ein Konzert eines skandinavischen Akustik-Pop-Duos besuchte, und eine Frau im Publikum immer die ruhigen Stellen abwartete, um sinnlos in den dunklen Saal zu brüllen: „KREUZBERG!!! KREUZBERG!!!“ Ich habe das Gesicht der Dame (ich benutze den Begriff euphemistisch) nicht gesehen, doch ich bin mir sicher: Es war die hässliche Fratze des Lokalpatriotismus.

Weil mir gerade kein guter Übergang zum Rest des Textes einfällt, zeige ich in der Halbzeitpause eine Plastiknachbildung eines brasilianischen Fußballspielers unter einem originell verpackten Stück Weichkäse. Ist nicht böse gemeint.

Das zaghafte Erwachen meines Interesses am Fußball unter bestimmten Bedingungen geht leider auch einher mit einigen Enttäuschungen, vor allem im journalistischen Bereich. Das erinnert mich an die Zeit, als mein Interesse an Mode (etwas weniger zaghaft) erwachte. Man muss nur genauer hinsehen, und man erkennt selbst als Laie beim Fußball wie beim Modedesign unendlich viele Spielarten und Facetten von Spielarten. Als Freund des geschriebenen Wortes juckt es einem sofort in den Fingern, etwas darüber zu schreiben. Doch als Mensch mit Erfahrung widmet man sich erst mal der Lektüre derer, die darüber schon länger und vermeintlich berufen schreiben. Da findet sich dann die nächste Parallele zwischen Mode und Fußball: der Journalismus ist auf beiden Feldern ein Graus. Schnarchlangweilig, verliebt in Plattitüden und fasziniert von Nebensächlichkeiten, entweder zu fachidiotisch oder zu allgemeinidiotisch, buchhalterisch ergebnisorientiert. Unter ähnlichen Problemen, dem schnöden Beschreiben von Technik anstatt des Erschreibens von Bedeutung, leidet übrigens auch – immer noch, obwohl ich es schon so oft gesagt habe – der Journalismus über Computer- und Videospiele. So wird das nichts mit dem Ernstgenommenwerden.

Ach, es gibt bestimmt Ausnahmen, wunderschöne Fußballdichtung, es gibt die gelungenen Einzelfälle ja auch in der Berichterstattung über Mode und Spiele. Aber die beim Sport jetzt auch noch zu suchen ist mir zu mühselig, die Uhr tickt. Dann lese ich lieber nicht, sondern schaue nur. Da hat man dann den Kommentar des Kommentators, des undankbarsten Berufes des Landes, gleich nach Kanzlerin und Politesse, saisonabhängig auch mal davor. Wie jeder andere Zuschauer und -hörer denke ich mir manchmal (eigentlich ziemlich oft): Das krieg ich auch noch hin. Und ich habe nun wirklich keine Ahnung von Fußball. Diesmal habe ich etwas genauer hingehört und muss relativieren: Das kriege ich auch noch hin, wenn man mir ein paar Wochen Zeit gibt, mich in das Thema einzulesen und die Namen auf den Rücken auswendig zu lernen. Allerdings müsste ich dann ja genau den Journalismus lesen, den ich eben nicht lesen möchte. Es ist ein Teufelskreis, vermutlich werde ich doch kein Sportreporter mehr.

Ich möchte diesem Berufsstand gar keine allzu großen Vorwürfe machen, 90 Minuten oder länger geistreich, eloquent und kompetent zu improvisieren ist nicht leicht, da muss man vom Sofa aus nicht jeden verbalen Fehlpass auf die Goldwaage legen. Außer man hat Spaß daran. Meiner Frau und mir ist aufgefallen, dass in den Kommentaren überraschend häufig der Begriff harakiri fiel. Meine Frau sah mich bei diesem Schlüsselreiz jedes Mal fragend an, auf dass ich ihr erkläre, was damit gemeint sei. Ich weiß aber nicht, was das in der Fußballsprache bedeutet. In der japanischen Sprache bedeutet es ‚Bauch aufschneiden‘, in der deutschen Sprache wird es bisweilen synonym mit dem Begriff für rituellen Selbstmord, eigentlich seppuku, verwendet, wobei ich nicht so kleinlich sein möchte wie der gemeine Japanischgenaunehmer. Der Fußballkommentator hat immer dann von harakiri gesprochen, wenn irgendjemand eine spielerische Dummheit begangen hatte. Was genau das mit Bauchaufschneiden oder Selbstmord zu tun hat, selbst auf einer symbolischen Ebene, erschließt sich mir auch nach längerem Brüten nicht, da hinterher weder jemand tot (konkrete Bedeutung) noch das Spiel verloren (übertragene Bedeutung) war. Bei einer Situation hatte ich das Gefühl, der Kommentator meinte nicht harakiri, sondern kamikaze. Vielleicht ist einfach irgendein japanischer Begriff gut genug. Dann heißt es bald: Messi leistete sich einen echten sashimi, aber Neuer voll so mitsubishi.

Der heißt Neuer, oder? Ich glaube, ich habe während der WM immer Neuner gesagt, und höflicherweise hat mich niemand korrigiert. Ich kannte ihn vorher nicht, und jetzt eigentlich auch nicht. Ich weiß nur, dass er gut gehalten hat, und dass die japanische Presse orakelt, er sei schwul, weil er so gut aussieht. Möglicherweise orakelt das die hiesige Presse ebenfalls, ich müsste halt mal reinlesen.

Apropos Neuer: Hier ein Bild vom Alten, das ich 2004 in Tokio geschossen habe.

Jetzt geht’s los: Mein erstes Mal im Fußballstadion

Die Schlagzeile muss gleich einmal relativiert werden. Richtiger müsste es heißen: Mein erstes Mal freiwillig im Fußballstadion. Noch richtiger: Mein erstes Mal freiwillig im Fußballstadion ohne Bruce Springsteen. Und los geht schon mal gar nichts, ich muss gleich ins Bett.

Gestern aber war ich tatsächlich zum ersten Mal aus freien Stück, als Initiator und Kartenbesorger sogar, in einem Fußballstadion wegen eines Fußballspiels. Zu sagen, dass mich im Fußball nur Frauenfußball interessiert, wäre etwas übertrieben. Mich interessiert im Fußball nur japanischer Frauenfußball. Gestern gastierte die japanische Nationalmannschaft der Frauen in der Allianz Arena bei München, wo sie unhöflich von der anderen Mannschaft geschlagen wurde.

Folgendes habe ich herausgefunden:

So sieht es in einem Fußballstadion von innen aus:

Das Spiel war im Vorfeld in die Kritik geraten, weil man davon ausging, dass man mit die Weiber allein keine ganze Allianz Arena vollmachen könne, es waren aber europarekordviele gekommen, wurde durchgegeben. Vor dem Spiel haben Nachwuchsspielerinnen etwas Hübsches mit Fahnen gemacht (oder sind das Flaggen? Bitte googeln Sie den Unterschied und tun Sie so, als hätten Sie es schon immer gewusst).

Es gibt möglicherweise Regeln, wo welche Fans sitzen. Wahrscheinlich kennt diese Regeln jeder, nur ich nicht. Der zu uns gehörige Fanblock war zwar von uns aus sehr gut zu sehen, weil genau gegenüber, aber doch ach so weit entfernt, dass man ihn selbst mit Superzoom nur matschig erkennen konnte.

In der Pause hat jemand namens Stefanie etwas gewonnen, ich habe das nicht richtig mitbekommen, jedenfalls: Herzlichen Glückwunsch, Stefanie! (Abb. fehlt)

Ansonsten die Erkenntnis, dass es vermutlich ohne kalten Dauernieselregen noch mehr Spaß macht. Mir war nicht mal nach Bier trinken, aber wir hatten die übliche Fußballverpflegung, Kaffee und Kirschkuchen, eh selbst mitgebracht. In der zweiten Hälfte knabberte ich lieber Aspirin als Pommes, der Nieselregen rann so langsam in mein Gehirn (doch, Mama, ich hatte meine Mütze auf).

Abgesehen davon und vom Spielausgang überraschend wenig Grund zur Beschwerde. Das Publikum war teils so, teils aber auch so. Der etwas anstrengende junge Herr neben mir schien wirklich zu glauben, die Spielerinnen auf dem Feld könnten seine sehr detaillierten Spielanalysen und Taktiktipps tatsächlich hören und sofort umsetzen. Die goldige ältere Dame neben meiner Frau hingegen gratulierte ihr zweimal persönlich und tätschelte viermal tröstend ihren Oberarm.

Letzte Erkenntnis: Wir sind immer noch Weltmeisterinnen, und ihr nicht.

Meine schönsten Tokyo-Marathon-Momente 2013

… wie dieser Typ (gestreift) seine Tuba nicht nur 42,195 Kilometer im Laufschritt getragen, sondern auch noch mit den Motivationskapellen am Wegesrand gejamt hat. Und mich (ich selbst ohne Tuba) trotzdem jedes Mal wieder überholte.

… wie ich mit meiner Modeentscheidung den Vegesacker Jungen in ein Land brachte, in dem lokale Maskottchen willkommen sind wie in keinem zweiten.

… wie ich es bis zum Ende geschafft und damit bewiesen habe (in erster Linie mir selbst), dass das erste Mal kein reines Glück gewesen war. Dass ich trotz (subjektiv) besseren Laufens eine (objektiv) schlechtere Zeit gelaufen sein soll, werde ich eventuell anfechten. Ich erwäge rechtliche Laufschritte bis nach Karlsruhe. Oder ich glaube einfach das, was sich dieses Jahr alle einreden: Es war der starke Gegenwind.

Aber letztendlich sind Fortsetzungen ja immer ein wenig enttäuschend (außer Der Pate 2 und Subspecies 2). Was ich im Zusammenhang des überschriebenen Mottos eigentlich sagen wollte:

… wie eine Auswahl der besten Menschen der Welt hinterher im Restaurant Kleine Hütte traditionelle deutsche Spezialitäten wie Brat-Weißwurst (im Bild), Jägerschnitzel, Sauerbraten, überbackene Austern und Kartoffel-Curry-Pizza mit Beck’s Bier, Salvator, Radeberger und Löwenbräu herunterspülte und es entsprechend unterhaltsam war.

Porno-Marathon in Ketten (oder: Schmecke meinen Fruchtriegel der Rache, Vol. 1)

Meine große Bitte fürs neue Jahr an alle, die Texte für die Öffentlichkeit schreiben, ganz egal ob Zeitungskolumnen, Illustriertenartikel, Gedichte, Kochrezepte, Werbesprüche, Drehbücher, Strickmuster, Pressemitteilungen, Liedtexte, Produktbeschreibungen, Gebrauchsanweisungen, Tweets oder offene Briefe: Bitte, bitte, so verführerisch es auch sein sollte, und so umwerfend clever es Ihnen erscheinen mag – halten Sie unbedingt Abstand davon, jetzt jeden Ausdruck, jede Floskel, jede Schlag- und Titelzeile mit ‚Unchained‘ zu beenden. Wir haben dieses Elend schon mit ‚Reloaded‘ und ‚Quantum‘ durchgemacht. Wir haben es zwar überlebt, aber nur knapp. Bitte nicht Hanni und Nanni Unchained, Knaller-Angebote Unchained, Pommes mit Mayo Unchained. Es ist nicht clever. Jeder andere hatte die Idee auch schon. Vielen Dank für Ihr Verständnis.

Meine große Frage ans neue Jahr: Warum haben es all die Pornografen plötzlich auf mich abgesehen? Ich habe die Kommentarfunktion dieses Blogs abgeschaltet, damit ich nicht ständig reinschauen und aufräumen muss. Allerdings habe ich die Trackback-Funktion angelassen, weil ich nicht weiß, was das ist, und es harmlos klingt. Es sind in den vergangenen Jahren nur wenige Trackback-Anfragen reingekommen, die ich alle abgelehnt habe. Die meisten waren grober Unfug, das Nachvollziehbarste war noch die Anfrage einer Seite mit Feuerwehr-News zu diesem Beitrag (jetzt kommt wahrscheinlich wieder eine, weil ich ‚Feuerwehr‘ gesagt habe). In den letzten Tagen jedoch wimmelt mein Briefkasten vor höflichen Trackback-Bewerbungen, überwiegend zu folgenden Themen: nude teens…, hardcore sex…, naked girls…, aber auch special occassion for anal…. Wussten Sie, dass es sowas im Internet gibt?!

Ich zitiere das hier so ausführlich, weil ich mir davon optimale Suchmaschinenoptimierung und die Anlockung hochwertiger neuer Leser verspreche. Solche, wie die TV-Redakteurin, die mich unlängst zum Thema ‚Frauen, die Männer in Uniform lieben‘ einladen wollte – wohlgemerkt in der Annahme, ich sei so eine (Liebe Shakira …).

Betroffen ist von der Porno-Attacke nur ein Artikel, und zwar dieser. Warum? Weil das Wort ‚Banane‘ darin vorkommt? Oder wegen ‚Pipifax‘? Umkleideraum? Fruchtriegel?

Zum Thema jenes Artikels fällt mir ein, dass ich dieses Jahr zu meinem Erschrecken schon wieder dabei bin. Wir sehen uns dann dort.

Beim Thema ‚Unchained‘ fällt mir ein, dass ich gerade inneren Frieden mit Quentin Tarantino geschlossen habe. Das freut Tarantino bestimmt sehr, denn er hat manche Träne in sein Kissen kullern lassen, weil ausgerechnet ich ihn nicht recht lieben mochte, ich konnte es spüren. Dabei hatte ich Reservoir Dogs seinerzeit sehrwohl geliebt, ich war im anfälligen Alter und hatte das passende Geschlecht. Bei Pulp Fiction musste ich schon ein bisschen lügen (nicht lieben war gesellschaftlich nicht akzeptabel). Nach dem sterbenslangweiligen (euphemistisch: sehr erwachsenen) Jackie Brown und dem albernen Kill Bill 1 plusterte ich mich auf und schwor mit der Bockigkeit des enttäuschten Liebhabers: Von hier an kommt mir kein weiterer Film von diesem Tarantino vor die Augen! Das war leichter, als gedacht. Ich ging fort und schaute nie wieder zurück, denn dieser Tarantino bedeutete mir nichts mehr, gar nichts, wirklich nicht, keinerlei Interesse, schnief.

Letztens jedoch kam es zur Entplusterung. Nach einem heißen Bad, einer Massage und einem Schluck Schnaps folgte die Einsicht: Herrje, man muss doch nicht aus jedem Kleinscheiß gleich ein radikales Politikum machen! Weil mir der Trailer zu Django Unchained gegen alle Widerstände gut gefallen hatte, beschloss ich, es noch einmal mit Kill Bill zu versuchen.

Mit meiner neuen, altersweisen ‚Ist-doch-nur-ein-Film‘-Einstellung konnte ich hinterher ohne schlechtes Gewissen zugeben: Hat gar nicht wehgetan, sondern gut unterhalten. Auf eine doofe Art zwar, aber wir sind doch alle ab und zu mal ein bisschen doof.

Das Doofe bleibt derweil das, was am Phänomen Tarantino ein wenig bedenklich ist. Er selbst kann nichts dafür, doch handeln seine Verehrer seine Filme, als handele es sich um hohe Kunst mit Anspruch und Tiefgang. Da muss man klipp und klar sagen: Nein! Tarantinos Filme sind nicht gehaltvoller als die von Michael Bay. Sie betüdeln ein anderes Publikum, aber nicht unbedingt ein besseres. Tarantino mag sich bei Filmen bedienen, die mehr als nur Oberfläche zu bieten haben. Seine eigenen Filme allerdings übernehmen nur die Oberfläche. Kill Bill wurde hauptsächlich von den japanischen Rache-Dramen Sasori und Lady Snowblood inspiriert, das zeugt von gutem Geschmack. Nun verhandeln diese Filme durchaus große Themen wie den Zusammenhang von Chauvinismus und Nationalismus, oder die Balance zwischen politischer Offenheit und politischem Opportunismus. Das, und lesbische Leidenschaft hinter Gittern. Das einzige Thema von Kill Bill hingegen ist: Ey, guck mal die Alte mit dem Samurai-Schwert!

Soll man ruhig gucken, die Alte. Aber wer danach nicht weiterguckt, bleibt doof.

Schöner hätte ich es übrigens gefunden, wenn man den deutschen Titel von Lady Snowblood direkt vom Originaltitel Shurayuki hime übersetzt hätte: Schneemetzelchen.

Heute rechne ich es Tarantinos Filmen hoch an, dass sie ihren Inspirationsquellen neue Aufmerksamkeit verschaffen. Immerhin macht er inzwischen selbst keinen Hehl aus seiner Arbeitsweise; das war bei Reservoir Dogs noch anders. Seinerzeit mussten findige Enthüllungsjournalisten von alleine drauf kommen, dass Prämisse und Figuren von Ringo Lams City on Fire abgekupfert waren. Kill Bill ist gut, die Sasori- und Schneemetzelchen-Filme sind besser. Ob es die heute ohne Tarantino-Unterstützung in liebevoll restaurierten, erschwinglichen Fassungen für zu Hause gäbe, ist stark zu bezweifeln.

Viele Spinner Asien-Experten rümpfen gerne ihr hohes Näschen, wenn ihnen sog. Orientalismus unterkommt, also die westliche Verkitschung von Asiatischem, zum Beispiel die Welt der Suzie Wong und deutschen China-Restaurants mit ihren roten Lampions und goldenen Drachen. Ich aber sage: Ein Hoch auf den Orientalismus! Suzie Wong ist nicht der schlechteste Roman, und deutsche China-Restaurants sind ganz prima (wenn nur das Essen nicht wäre)! Seit ich als Drei-Käse-Hoch zum ersten Mal in einem rot-goldenen China-Restaurant an irgendeiner norddeutschen Landstraße gastierte, wusste ich, dass ich das besser fand als Leberwurst mit Sauerkraut – ästhetisch, kulinarisch und mental. Die Authentizität kann man später ausbauen, doch es braucht einen ersten Funken. Das kann Ente süß-sauer mit Lampions genauso wie Kill Bill sein. Zusammenfassend könnte man sagen: Quentin Tarantino ist wie ein deutsches China-Restaurant. Viel Spaß auf der weiteren Entdeckungsreise.

(Diese schöne Ausgabe habe ich übrigens neulich erstanden.)

Tarantino ist bekanntlich nicht der einzige Filmemacher, der sich in Retromanie suhlt. So früh im Jahr wollen wir uns nicht gleich aufregen und so tun, als wäre das der Untergang der Welt, sondern einfach mal zugeben, dass wir uns darin mitunter selbst ganz gerne aalen. Weitaus lieber als die Filme von Tarantino und seinem Mini-Me Eli Roth sind mir seit kurzem die Filme von Ti West. Ich möchte hier nicht von seinen Auftragsarbeiten und Jugendsünden sprechen, sondern nur von seinem Hauptwerk als Autorenfilmer, also The House of the Devil und The Innkeepers. Zwei Schauerfilme in gemütlichem Tempo und nostalgischer Optik, die stärker polarisieren als alle Martyrs, Women und Serbian Films zusammen. Die einen finden diese Filme sterbenslangweilig, die anderen finden, dass den einen schlicht die nötige geistige Reife fehlt. Das ist natürlich überheblich und arrogant. Aber was soll man machen, es ist halt die Wahrheit.

Mich erinnert die Kontroverse um Ti West an einen Schwank aus meiner Jugend, als ich selbst noch kräftiger reifen musste als heute (ganz hört man freilich und hoffentlich nie auf). Wie jeder gesunde junge Mann verbrachte ich viel Zeit mit Freunden auf den Sofas verreister Eltern bei Dosenbier und Gewaltvideos. Einmal hatte ich den Film Die Wiege des Bösen auf Kassette mitgebracht, weil mich die Kinowerbung stark beeindruckt hatte. Damals warben Kinobetreiber noch mit Szenenfotos im Aushang um das Interesse der Zuschauer. Die Wiege des Bösen allerdings warb nur mit dem Hinweis, der Film sei so grausig, DASS MAN KEIN EINZIGES BILD ZEIGEN KÖNNE!!!

Unsere Empörung war groß, als sich der Film als ein einfühlsames Familiendrama über die schwierige Erziehung eines bissigen Mutanten-Babys herausstellte.

Doch nicht alle Halbstarken waren gleichermaßen empört. Einer scherte aus und gestand ganz offen: „Also, ich fand den Film gar nicht sooo schlecht. Der war so … menschlich.“

Inzwischen weiß ich: Einer von uns hatte den anderen etwas voraus, und das war nicht ich. Da hatte jemand das auf den Punkt gebracht, was ich heute an Ti Wests Filmen so schätze: Die sind so … menschlich.

The House of the Devil gefällt mir ein bisschen besser als der neuere The Innkeepers, der die Ruhe noch etwas mehr weg hat (wahrscheinlich muss ich noch ein wenig reifen). Allerdings war bei The House of the Devil das Boooring-Gebrüll der Ewigheutigen bereits ohrenbetäubend. Häufiger Kritikpunkt bei beiden Filmen ist, dass 40 bis 90 Minuten lang so gut wie nichts passiert. Vielleicht ist das eine Frage der Lebenseinstellung. Ich finde es sehr angenehm, wenn mal 40 bis 90 Minuten nichts passiert.

Ti West schießt seine Filme nicht nur in Retro-Optik, sondern auch mit Retro-Dramaturgie. Das macht ihn radikal in einem Umfeld, das schnelle Schocks und schnelle Schnitte und sonst nichts seit Jahren für ultramodern hält. Filme, die durch noch mehr Elend und Eingeweide als der letzte Film waten, werden gern als grenzüberschreitend angehimmelt. Ob da wirklich eine Grenze ist, die man überschreiten könnte, bezweifle ich. West scheint mit seinem Mut zur Reduktion viel grenzüberschreitender, das bestätigen auch die feindseligen Überreaktionen verstörter Zuschauer. Möglicherweise ist die Grenze sehr wohl da, aber wir befinden uns mehrheitlich längst auf der anderen Seite. Ti West überschreitet sie in die entgegengesetzte Richtung. Damit provoziert er mehr als jeder Brüll- und Spritzfilmer. Sicherlich gehört er zur relativ jungen Generation von Regisseuren, die der Liebe wegen und nicht der Einfachheit halber im Horrorgenre arbeiten. Das hat er gemein mit, beispielsweise, Rob Zombie. Trotzdem wirkt er wie der Anti-Rob-Zombie. Denn im Gegensatz zu Herrn Zombie versteht Ti West Horror auch. Manchmal ist Liebe allein nicht genug.

Ach, das ist ja ein schreckliches Schlusswort! Schieben wir schnell hinterher: Aber ohne Liebe geht es schon gar nicht.

Immerhin haben alle überlebt

Ich hatte gestern keine Zeit und Gelegenheit, das Herrenfußballspiel um olympische Bronze zwischen Südkorea und Japan zu sehen, aber ich konnte die ersten 10 Minuten am Ticker verfolgen. Es schien von all dem olympischen Geist beseelt, den man von gerade dieser Begegnung erwarten durfte.

10 Gründe, warum das Leben heute doch weitergeht

Weil die deutsche Gurkentruppe nicht mitspielen durfte, haben die hiesigen Leitmedien so getan, als fände Frauenfußball bei der Olympiade nicht statt (kurze Klugscheißer-Zurechtweisung vom Meister aller Klugscheißer: Das Wort ‚Olympiade‘ bezeichnet sehr wohl und sogar in erster Linie die Olympischen Spiele und keineswegs nur, wie Amateur-Klugscheißer gerne behaupten, den Zeitraum dazwischen. Schlagt’s halt nach.)

Der zivilisierte Teil der Welt hat es aber durchaus mitbekommen. Bis zu 20% Einschaltquote morgens um 4 in Japan, als der klassische Kampf Gut gegen Böse, Astroboy gegen Micky Maus, Mos Burger gegen McDonald’s in eine neue Runde ging.

Ja, ich habe mich hernach auch in den Schlaf weinen müssen. Doch heute sieht die Welt schon wieder besser aus. Ich habe mir 10 gute Gründe aus den Rippen geschnitzt, warum wir mit unseren Heldinnen vollkommen zufrieden sein können:

  • 1. Wir sind immer noch Weltmeisterinnen.
  • 2. Silber ist auch nicht schlecht.
  • 3. Bestes Olympia-Ergebnis aller Zeiten für die Mannschaft.
  • 4. Immer noch besser als die japanischen Herren, die frühzeitig und voreilig als das neue große Fräuleinwunder gefeiert wurden.
  • 5. Noch nie hat eine Frauenfußballmannschaft Olympia-Gold nach der Weltmeisterschaft geholt. Ist also halb so wild.
  • 6. Schiri blind: Alle Welt hat gesehen, dass ein Handspiel der Amerikanerinnen nicht geahndet wurde. Und ich persönlich habe mir mehrere ungeahndete Fouls der Amerikanerinnen mit eigenen Augen eingebildet.
  • 7. Niemand mag Gewinner. Die Nadeshiko haben jetzt wieder ein wenig Underdog-Status zurückerobert, deshalb lieben wir sie umso mehr.
  • 8. Achtens hab ich vergessen.
  • 9. Wir sind immer noch Weltmeisterinnen.
  • 10. Wir sind immer noch Weltmeisterinnen. Ätsch.
  • Gebrauchsanweisung für den Tokyo Marathon

    Zu nachtschlafender Zeit steht man auf, isst eine Banane und eine Brötchensüßigkeit, die aus dem Goody Bag des International Friendship Run übrig geblieben ist, begibt sich zum Austragungsort und macht sich Sorgen.

    Vor Ort bewundert man die traditionellen japanischen Marathon-Gewänder.

    Hat man seinen Startblock zeitig erreicht, kann man noch lange genug blöd in der Kälte rumstehen, um sich endlich mal das neue Leonard-Cohen-Album in der gebotenen Ruhe und Konzentration anzuhören und sich so dermaßen zu hydrieren, dass man spätestens nach 10 Kilometern die erste zeitstehlende Pinkelpause wird einlegen müssen.

    Fällt der Startschuss, wird nicht etwa losgerannt. Zumindest nicht, wenn man im vorletzten von 11 Blöcken startet. Im Stop-and-Go-Schneckentempo zuppelt man zunächst zum eigentlichen Start zwischen den städtischen Regierungsgebäuden Shinjukus, während die Uhr bereits unbarmherzig läuft und man all die minutiöse Kilometer/Zeit-Planung, die man sich extra auf einen Spickzettel geschrieben hat, über den Haufen werfen kann.

    Auf dem Weg würdigt man gefälligst alle Sehenswürdigkeiten, z. B. den alten Fernsehturm Tokyo Tower, das bis vor kurzem höchste Bauwerk der Stadt (ca. bei Laufkilometer 12).

    Auf der Prachtmeile Ginza (knapp nach halb) und überhaupt überall freut man sich darüber, dass man nicht alleine ist. Dass am Rande junge Damen mit Hasenaufsteckohren ihre Händchen zum High Five über die Absperrungen recken, und dass Jung und Alt immer ein „Ganbare!“ und „Faito!“ (japanisch aus dem Englischen: Kämpfe!) auf den Lippen haben. Gerne hört man auch, wenn überholende Läufer einen nett anlügen: „You’re looking good!“

    Meine Urskepsis gegenüber sportlicher Betätigung hängt vor allem mit meinem Misstrauen gegen alles Rudelhafte und Gruppenmiefige zusammen. Deshalb ist mir das Laufen angenehm, das kann man alleine mit seinen Gedanken und seiner Musik machen. Pipifax um die 20 Kilometer werde ich auch weiterhin alleine laufen, aber ich muss zugeben: Marathon geht wahrscheinlich nicht ohne warme Worte und Hasenohren.

    Hat man Glück, jubeln einem nicht nur unbekannte Menschen ganz allgemein zu, sondern auch ganz spezifische Menschen ganz persönlich. Die machen dann womöglich auch ganz persönliche Fotos von einem. Hat man mehr Glück als ich, ist das nicht erst an einer Wegmarke, an der das Laufen schon mehr aussieht wie Gehen, obwohl es sich noch wie Laufen anfühlt.

    Kurz vor Kilometer 28 wird das wahrzeichenhafte Kaminarimon-Tor von Schaulustigen und Medienvertretern verstellt.

    Dafür kurz danach ein perfekter Blick auf modernere Wahrzeichen: Den neuen Fernsehturm Tokyo Sky Tree, das seit kurzem höchste Bauwerk der Stadt, und das Hauptquartier der Asahi-Brauerei mit der von Philippe Starck entworfenen Super Dry Hall die oben drauf eine leckere goldene Schaumkrone hat, und nicht was Sie denken. Gold stinkt nicht.

    In den späten 30er Kilometern geht es so langsam (sehr langsam) über ein zurecht berüchtigtes Auf-und-Ab zur Halbinsel Odaiba, erst vor nicht allzu langer Zeit in der Bucht von Tokio auf Müll errichtet und noch sauberer als der Rest der Stadt.

    Man hat dann keine rechte Lust mehr zum Fotografieren, bis das schönste Motiv der Strecke kommt.

    Hinter den Kulissen geht man gefühlt noch mal dieselbe Strecke. Man bekommt eine Banane vom Bananenmann, Wasser von der Wasserfrau, Medaille von der Medaillenperson, Handtuch vom Handtuchmenschen, Orange vom Orangenpersonal, Fruchtriegel vom Fruchtriegelbeauftragten und einiges mehr. Man holt sein Gepäck vom Gepäckwagen und stellt entgeistert fest, dass der Umkleideraum nur eine große Halle ist, in der man machen kann, was man möchte, aber hygienisch und privatsphärisch keine Hilfestellung zu erwarten hat. Selbstverständlich hatte ich alle meine Toilettenartikel und meine gesamte Abendgarderobe von Kopf bis Fuß zum Wechseln mitgebracht, denn ein Gentleman trägt keine Sportkleidung, wenn er nicht gerade einer unmittelbaren sportlichen Betätigung nachgeht (auch keine Sportschuhe, liebe Kinder und Berufskinder). Hätte ich schon mal an so einer Veranstaltung teilgenommen, hätte ich wahrscheinlich gewusst, dass da nicht für 36.000 Teilnehmer Duschen zur Verfügung gestellt werden, sondern gar keine.

    Es war trotzdem schön, wir mussten die Zugheimfahrt nur ein einziges Mal wegen Übelkeit unterbrechen. Ich hatte schon unterbrechungsreichere Heimfahrten nach weniger umfangreichen Trainingsläufen. Und abends bereits war ich wieder keck genug für eine alberne Pose, indisches Essen und das erste Bier ohne Reue seit Monaten. Nicht, dass es in den vergangenen Monaten kein Bier gegeben hätte, aber jedes war mit Reue gewesen.

    Trockene Themen wie Zeiten und Geschwindigkeiten wollen wir mal außen vorlassen, wir sind ja keine Buchhalter. Es genügt die Feststellung, dass ich trotz etlicher Verzögerungen, für die ich so gut wie nichts konnte, nie Gefahr auflief, die (zugegebenermaßen enorm großzügigen) Sperrzeiten zu überschreiten.

    Würde ich es noch mal machen? Ja, aber das nächste Mal nur in einem albernen Kostüm. Aber nageln Sie mich darauf nicht fest. Weder auf das eine, noch auf das andere.