Der Weg ins Glück führt steil bergab [Kaiho-Kolumne]

Proömium

Dies ist meine allerletzte Kolumne aus der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern. Eigentlich ist sie ein wenig geschummelt, denn sie sollte gar keine werden. Eigentlich ist dies ein Fragment einer (noch) längeren Geschichte, die ich einer dieser modernen Zeitschriften für junge urbane Eltern mit Bart anbieten wollte. Kurz nachdem ich überoptimistisch mit dem Schreiben angefangen hatte, merkte ich allerdings, dass ich genau wegen des im folgenden geschilderten Einschnitts in die Lebensumstände gar keine Zeit hatte zum Schreiben und Verfeinern und Polieren und dann alles noch mal. Drum habe ich einfach das, was ich schon hatte, in diese Abschiedskolumne gepackt, die ich den guten Menschen der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern etwas unüberlegt versprochen hatte.

Ich habe versucht, den im Text besungenen Hügel fotografisch festzuhalten, bin ihm aber nicht gerecht geworden. Weil trotzdem ein Bild an dieser Stelle schön wäre, füge ich eines des Stundenhotels ein, das die Skyline meines Wohnviertels geschmackvoll dominiert. Im Text findet dieses Bild allerdings keinen Widerhall. Nach der Fotografie geht ohne weitere Umschweife die eigentliche Kolumne los.

Seit Anfang März lebe ich in Tokio, der Heimatstadt meiner Frau, meiner obersten Wohlfühlstadt seit bald 20 Jahren. Die Stadt, an die meine 19 Monate alte Tochter Hana irgendwann Kindheitserinnerungen haben wird, hoffentlich angenehme.

In der Woche vor Ostern wache ich in drei Nächten hintereinander deutlich vor Morgengrauen auf und bin hellwach. Mir ist schwindelig, mein Magen hat sich verknotet, in meinen Beinen zetert ein diffuser Fluchtreflex, doch meine Knie sind für Flucht zu wackelig. Einschlafen kann ich nicht mehr.

Erdbeben sind nicht schuld, denn die potenziellen Erdbebengebiete sind weit weg. Ich bin für eine Woche wieder in München, um mit meiner alten Heimat letzte Formalitäten auszuhandeln.

Bevor ich temporär nach München zurückkehrte, hatte ich bereits die Befürchtung, mir könnte mulmig werden. Dass ich plötzlich doch die Richtigkeit meiner Entscheidung anzweifeln würde, auf Biergarten und Leberkäse nicht würde verzichten wollen. Meine tatsächliche Mulmigkeit allerdings, so merke ich, hat nichts mit dem Konflikt zwischen alter und neuer Heimat zu tun. München kommt mir schon nach kurzer Abwesenheit gespenstisch leer, leise und langsam vor.

Der Gedanke an unsere Wohnung in Japan kann es ebenfalls nicht sein, was mich mit Schrecken und Schlaflosigkeit erfüllt. Die drei Zimmer sind überraschend menschenwürdig geschnitten. Und obwohl man aus den Fenstern erwartungsgemäß nicht viel mehr sieht als die Dächer und Außenwände der Häuser nebenan, konnte die junge Hana gleich bei unserer ersten Besichtigung der Aussicht etwas abgewinnen. Sie streckte den Zeigefinger in Richtung Fenster und rief aufgeregt: „Piep-piep!“

Hin und wieder machen wir uns Sorgen, dass Hana ein wenig ist wie der kleine Junge aus dem Film The Sixth Sense. Sie deutet häufig auf Dinge, die wir nicht sehen können, und behauptet steif und fest, sie wären sehr wohl dort. Bei genauerer Überprüfung stellt man fest, dass da wirklich ein „Wau-wau!“ ist, in 200 Metern Entfernung, wenn man ganz genau hinsieht. Beim Piep-piep-Zwischenfall in unserer Tokioter Wohnung allerdings war ich schon drauf und dran sie zu maßregeln: „In diesem Moloch von einer Stadt gibt es keine Piep-piep! Hier piepen zwar Ampeln, Kühlschränke und Badewannen, aber sicherlich keine Vögelein.“ Doch als ich mich zu ihr herunterbeugte und aus ihrer Perspektive durchs Wohnzimmerfenster schaute, sah ich, dass dort tatsächlich Vöglein flatterten. An einem Baum, der aus dem Dach des Häusleins gegenüber wuchs. Sie zwitscherten, als wollten sie uns in ihrer Nachbarschaft begrüßen.

Sicherlich hatten wir in Deutschland für ungefähr dasselbe Geld deutlich mehr Platz. Doch dass Tokio nicht die paradiesischen Billigmieten von München zu bieten hat, haben wir gewusst und in Kauf genommen. Nicht gewusst hatten wir von dem Hügel, der zwischen unserem Bahnhof und unserem Wohnhaus liegt. Präziser liegt der Bahnhof auf dem Hügel und unser Haus an dessen Fuße. Es geht so steil bergauf beziehungsweise bergab, dass man es sich selbst in sportlicher Topform mehrfach überlegt, ob man nicht einen signifikanten, aber geringfügig weniger steilen Umweg nimmt, oder gleich den Bus. Doch auch den Hügel haben wir in unser Herz geschlossen. Er ist wie ein Symbol für all die Hindernisse, die wir bereits überwunden haben. Und eine Erinnerung daran, dass einige Hindernisse stets aufs Neue überwunden werden müssen.

Gegen unsere Nachbarschaft in Tokio ist München Flachland. Wo ich dort schon wach bin, bevor der Bäcker aufmacht, habe ich wenigsten Muße, ein paar meiner vielen vernachlässigten E-Mails zu lesen. In einer Nachricht erwähnt meine Literaturagentin, dass bald mit Geld von diesem, vielleicht auch von jenem Verlag zu rechnen sei. Mein erster Gedanke: „Ach, wie schön, Geld.“ Mein zweiter: „Oh, wie schrecklich, plötzlich auf dieses Geld angewiesen zu sein.“ Genau das ist nämlich der springende Punkt, der Grund für meine selbstdiagnostizierten Panikattacken. Bisher war ich finanziell nicht auf das gelegentliche Buch und den gelegentlichen Artikel angewiesen. Bisher war die Entlohnung dafür ein willkommenes Zubrot, ein Aufbessern der Urlaubskasse, ein Stern mehr beim nächsten Essen oder der nächsten Übernachtung. Das sieht nun anders aus. Da meine Frau in Japan einer anständigen Arbeit nachgehen wird, muss ich mit meinem ehemaligen Hobby nicht allein das Überleben der Familie sichern. Aber ich muss doch mehr beisteuern, als wir anfangs gedacht hatten. Zu behaupten, der Umzug sei ein bisschen teurer ausgefallen als berechnet, wäre stark untertrieben. Er ist bis jetzt mehr als doppelt so teuer ausgefallen, und die allerletzten Ausgaben sind noch nicht gemacht. Dass ich nun nicht etwa schreiben darf, sondern schreiben muss, ist das, was mich lähmt und am Schreiben sowie am Schlafen hindert. Das zumindest ist mein erster Verdacht.

Zu meiner Überraschung multiplizieren sich meine Ängste nicht, als ich wieder in Tokio lande und nun wirklich nicht mehr zurückkann. Nicht mehr zurück in die alte Wohnung, nicht mehr zurück in den alten Job, nicht mehr zurück in das alte Leben. Tatsächlich bin ich geradezu von Euphorie erfüllt, als ich mit meinem Rollgepäck den Hügel vom Bahnhof in mein neues Leben hinunterstolpere. Um zu begreifen, dass ich wirklich da bin, wo ich immer sein wollte, musste ich erst einmal dort ankommen. Was mir Angst bereitet hatte, war die Vorstellung davon. Die Realität scheint zu ertragen zu sein.

Wieder wache ich am nächsten Morgen zu einer Zeit auf, die eigentlich eher Nacht ist. Diesmal jedoch ist es nicht die Existenzangst, diesmal ist es der Tatendrang. Während Frau und Kind sich noch auf dem Futon rekeln, setze ich mich an den umgestülpten Umzugskarton, der vorerst mein Schreibtisch ist, und schreibe. Ohne Furcht und voller Zuversicht.

Und vor dem Fenster geht die Sonne auf, und die Vöglein sagen: „Piep-piep!“ Und bald wird auch Hana aufstehen, „Piep-piep!“ oder „Wau-wau!“ rufen und auf etwas deuten, was ich noch nicht sehen kann, was aber da sein wird.

Japan sucht die Superskandalnudel [Kaiho-Kolumne]

Meine allervorletzte Kolumne aus der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern jetzt hier in Zweitverwertung, mit exklusivem Premium-Bonus-Content.

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Auf einer meiner ersten Reisen nach Japan dachte ich einmal, ich hätte SMAP gesehen. Ich hatte damals allerdings fast keine Kenntnis der Sprache und nur lückenhafte Kenntnis der Eckpfeiler der Gegenwartskultur des Landes. Soll heißen: Ich verstand nichts und wusste eigentlich gar nicht, wer oder was SMAP ist. Es ist schon interessant, welche Schlüsse sich das Gehirn manchmal zusammenreimt, wenn es sich ausschließlich auf visuelle Informationen verlassen muss. Die Situation war folgende: In einem mittelkleinen Plattenladen in Tokio trat eine Band vor ein paar höflich klatschenden Zufallszuhörern auf. Hinter ihnen hing ein Werbeplakat, auf dem irgendwas mit „SMAP!“ stand, und das wohl ein neues Album einer Popgruppe dieses Namens annoncierte. Also dachte ich mir, während ich mir die Band ansah: Das sind also SMAP. Falls die mal groß rauskommen, kann ich mich damit brüsten, dass ich sie bei einem ihrer ersten, bescheidenen Gigs in einem der unauffälligeren Läden der Stadt gesehen habe.

Ich habe mich dann fortan tatsächlich damit gebrüstet. Denn dass SMAP es geschafft haben, war mir irgendwann vage bewusst geworden. Man hat mir die Geschichte mal mehr, mal weniger abgenommen; je nachdem, wie sehr ich bei der Wahrheitstreue ins Detail gegangen bin.

Selbstverständlich war das alles ein riesengroßes Missverständnis meinerseits, wie ich später einsehen musste. Das Plakat hing nur zufällig dort, es war halt ein Plattenladen, und hatte nichts mit dem gerade im Laden auftretenden Akt zu tun. Wie der hieß, weiß ich bis heute nicht. Falls sie groß rausgekommen sind, habe ich es nicht mitbekommen, oder sie nicht wiedererkannt. SMAP, so weiß ich inzwischen, waren schon damals die ganzheitliche Personifizierung der japanischen Unterhaltungsindustrie und hätten bestimmt kein intimes Ladenkonzert geben können, ohne eine Massenpanik auszulösen. Als Boyband waren sie gestartet, als Herrenband sind sie noch immer dick im Geschäft. Doch die Musik ist nebensächlich angesichts der Koch-, Quiz-, Talk- und Mischmasch-Shows, die die SMAPs gemeinsam oder getrennt voneinander im Fernsehen moderieren, ganz zu schweigen von ihren mannigfaltigen Auftritten in Kinofilmen, Fernsehserien und Werbekampagnen.

SMAP waren zuletzt mehr noch als sonst in den Nachrichten aller Medien präsent, als herauskam, dass sich einige von ihnen von ihrem langjährigen Management trennten. Eine Teiltrennung vom Management schien nicht praktikabel für die Band als Ganzes, so machten schnell Gerüchte um eine komplette SMAP-Zerschlagung die Runde. Einige Leitmedien berichteten darüber in den Hauptnachrichten. Andere Leitmedien fragten kritisch, ob so was in die Hauptnachrichten gehöre. Schweigen mochte niemand. Premierminister Abe äußerte den Wunsch, SMAP mögen zum Wohle der Nation zusammenbleiben. Die Bandmitglieder sagten schließlich zu allgemeiner Erleichterung: „Wir schaffen das!“

Als das nationale Klatschgewitter über SMAP hereinbrach, war ich hocherfreut. Nicht, dass ich ihnen etwas Böses wünsche. Ich bin aus dem Alter raus, in dem man sich an negativer Energie berauscht. Als Fernsehpersönlichkeiten finde ich die Smappys nicht unangenehm, mit ihrer Musik bin ich nach wie vor nicht vertraut. Wahrscheinlich gefiele sie mir nicht, aber damit können vermutlich beide Parteien leben. Der Grund, warum ich die negative Aufmerksamkeit für SMAP begrüßte, war der, dass sie zumindest für einen Moment die negative Aufmerksamkeit von TV-Talent Becky abzog. Die quirlige britisch-japanische Unterhaltungskünstlerin war nämlich gerade arg in die Boulevard-Schusslinie geraten, aufgrund von Dingen, die sich eventuell in einem Hotelzimmer mit einem verheirateten Mann zugetragen haben. Becky war mir stets wichtig, und sie ist es noch mehr, seit meine deutsch-japanische Tochter Hana auf der Welt ist. Der Umzug unserer Familie nach Tokio steht unmittelbar bevor, und mein geheimer Plan war es immer gewesen, Hana an die japanische Unterhaltungsindustrie zu verkaufen oder zumindest auszuleihen, falls es mal wirtschaftlich eng wird. Bitte verraten Sie es nicht meiner Frau, es soll eine Überraschung werden. Becky schien mir da immer ein gutes Vorbild. Sie scheint aufrichtigen Spaß an den Nichtigkeiten zu haben, die sie tut, und trotzdem ein ganz aufgewecktes, vernünftiges Persönchen zu sein. Sollte dieser Skandal ihr nachhaltig schaden, stehen meine Argumente auf unsicherem Grund.

Leider kochte die Becky-Sache wieder hoch, nachdem der SMAP-Krach abgeklungen war. Jetzt setze ich alle meine Hoffnungen in die Baseball-Legende Kazuhiro Kiyohara, die letztens wegen Drogenbesitzes verhaftet wurde. Entsprechende Gerüchte hatte es um den Mann immer gegeben, man hatte ihn schon früher mit Yakuza beim Golfspielen erwischt, und er hatte einst in einer SMAP-Talkshow gestanden, tätowiert zu sein, was in Japan im Grunde genommen ein Blanko-Schuldgeständnis für alles Mögliche ist.

Also, liebe Geier, stürzt euch auf Kiyohara, wenn ihr euch unbedingt stürzen müsst. Lasst Becky in Ruhe. Wir brauchen sie noch. Ich brauche sie noch.

Nachtrag aus der Gegenwart

In einem zweistündigen Event-Interview im Fernsehen wurde die Causa Becky inzwischen weitgehend beigelegt. Selbstverständlich in einer SMAP-Talkshow, und selbstverständlich ging es in ca. 90 von 120 Minuten in erster Linie darum, was vor dem Interview von den Beteiligten gegessen wurde, wo die Zutaten geerntet und wie sie zubereitet wurden. Konsens in der Bevölkerung ist, dass Becky sich ordentlich genug geschlagen hat, um ihr mehr oder weniger zu vergeben.

Kazuhiro Kiyohara ist mit vier Jahren auf Bewährung davongekommen.

Nagoya, mon amour fou [Kaiho-Kolumne]

In der (gerade noch so) aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Japan sucht die Superskandalnudel zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung.

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Neulich ist mir aufgefallen: Ich war schon lange nicht mehr in Nagoya. Als Spötter könnte man nun fragen: Warum auch? Nagoya hat den Ruf, das Hannover Japans zu sein. Etwas provinziell, etwas eigenschaftslos, ein Ort für Dienstreisen ohne Verlängerung. Dieser Wahrnehmung möchte ich zugleich beipflichten und ihr widersprechen. Nagoya ist tatsächlich so etwas wie das japanische Hannover. Allerdings hängt schon bei Hannover die allgemeine Wahrnehmung schief. Hannover ist schön, gemessen an seiner Größe überraschend urban, und von der subkulturellen Agilität könnte sich München gleich ein paar Scheiben abschneiden und wäre immer noch weit hinterher. Mein letzter Besuch Hannovers bestand aus Spaziergehen mit meinen Eltern. Mein vorletzter bestand aus dem Besuchen eines Punk-Konzerts mit einem PKW voller aufgekratzter betrunkener Jugendlicher. Für beides und vieles dazwischen bietet Hannover die ideale Kulisse.

Ich weiß nicht viel über die Underground-Szene Nagoyas, doch ich war von Anfang an angetan von der Unkompliziertheit und Urbanität der Stadt. Dieser Anfang war 2005, als in Nagoya die Weltausstellung Expo stattfand (fünf Jahre nach Hannover, drolligerweise). Genau die wollte ich mir anschauen, weil ich gerade in der ungefähren Gegend war und Gutes darüber gehört hatte (im Gegensatz zu Deutschland hört man in Japan manchmal Gutes über Großveranstaltungen). Meine Abfahrt nach Nagoya hatte sich jedoch verzögert, wodurch mir kaum genügend Zeit für eine ganze Weltausstellung geblieben wäre, wenn ich am selben Tag wieder abreisen wollte. Deshalb entschloss ich mich, die Expo sausen zu lassen und einfach planlos durch die Stadt zu laufen. Eine Stadt, die mir auf Anhieb gut gefiel und zum Weiterlaufen einlud. Danach gefiel sie mir so gut, dass ich beschloss, sie zur Basis meiner nächsten Japan-Reisen zu machen, denn ich war Tokio ein wenig überdrüssig geworden (unser Verhältnis ist inzwischen gekittet und unsere Liebe stark wie nie). Nagoya war mir die perfekte Alternative. In Osaka verlaufe ich mich immer. Sapporo und Fukuoka sind ein bisschen weit weg von allem. Gegen Kobe ist nichts einzuwenden, es hat mich aber nicht ganz mit dem gleichen warmen Bauchgefühl empfangen wie Nagoya. Und Kyoto … Kyoto ist natürlich schön. Es ist verboten, etwas anderes zu sagen. Wäre es nicht verboten, könnte man zugeben, dass Kyoto nur in seinen schönen Ecken schön ist. Wunderschön. Dazwischen ist die Stadt aber recht unattraktiv, was gerade an den strengen Bauvorschriften liegt, die verhindern sollen, dass Kyoto hässlich wird. Hässlichkeit kann ja ein Vorteil sein, eine eigene Form der Attraktivität. Kein Schwein hat irgendwelche Vorschriften erlassen, die Tokio vor der Hässlichkeit bewahren sollten. Das Resultat ist ein ganz wunderbares Monstrum. Kyoto hingegen ist außerhalb seiner ausgewiesenen Schönheitsgegenden recht fad. Nicht hübsch, nicht hässlich. Da kann man auch gleich in Nagoya bleiben, wo es eher so aussieht, wie es in einer japanischen Großstadt aussehen sollte.

Wie genau bin ich neulich dazu gekommen, seit längerem mal wieder an Nagoya zu denken? Für eine meiner Online-Präsenzen stellte ich einen Adventskalender mit Japan-Fotos zusammen, und dabei stieß ich auch auf Zeugnisse meiner Nagoya-Phase. Sofort überkam mich wieder die alte Liebe. Und doch stellte ich am Ende fest, dass ich kein einziges Nagoya-Foto für den Kalender ausgewählt hatte. So sehr ich diese Phase genossen habe, so wenig habe ich es geschafft, meine Liebe in überzeugende Beweisfotos zu verwandeln.

Eine Stadt ist eben mehr als ihre Sehenswürdigkeiten, mehr als der Glanz ihrer Oberfläche, oder die Abwesenheit oberflächlichen Glanzes. Manchmal ist ihr ganz besonderer Reiz schwer abbildbar, bezifferbar, beschreibbar. Manchmal ist es eben das Gefühl, das einen dort überkommt, das Je ne sais quoi. Das Gefühl, nach Hause zu kommen, obwohl man nie dort gelebt hat. Und so stimmt es: Nagoya ist das Hannover Japans. In anderen Worten: Die wohl unterschätzteste Stadt des Landes. Und sie wird es bleiben, denn sie ist etwas für den besonderen Geschmack. Man hat ihn, oder man hat ihn nicht. Man versteht es, oder man wird es nie verstehen.

Bring mich zum Kopf von Godzilla [Kaiho-Kolumne]

In der aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Nagoya, mon amour fou zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung.

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Es ist eine Unsitte unter Bewohnern und Besuchern gewisser Städte bei jeder Begegnung mit vermeintlich Exzentrischem der Welt lauthals zu verkünden: „Nur in New York!“ Beziehungsweise: „Nur in Berlin!“ Oder eben: „Nur in [Städtenamen selbst einsetzen]!“ Meistens sind die so geadelten Phänomene keineswegs sonderlich ortsgebunden, und der „Nur in XY!“-Rufer beschreibt weniger die Exzentrizität der gemeinten Stadt als vielmehr die Begrenztheit seines eigenen Horizontes. Ich bemühe mich also, nicht jedes Mal „Nur in Tokio!“ zu krakeelen, wenn ebendort eine bemerkenswerte Person, ein bemerkenswertes Ereignis oder ein bemerkenswertes Nudelgericht meinen Weg kreuzt.

Bei meinem letzten Besuch sah ich allerdings ein Hinweisschild an einem Gebäude, das man so wahrscheinlich tatsächlich „nur in Tokio!“ finden wird (und dass man schon zu lange dort ist, merkt man daran, dass man es zunächst kein bisschen seltsam findet):

1. Stock: Läden und Restaurants, 8. Stock: Café Bon Jour und Godzilla-Kopf

Ich muss zugeben, dass ich nicht gänzlich zufällig an dem Schild vorbeigekommen bin. Ich hatte es zwar nicht explizit gesucht, aber doch das, was es annoncierte: den Godzilla-Kopf. Der wurde vor nicht allzu langer Zeit auf dem Vordach eines Hotels in Kabukicho installiert, in Lebensgröße über das Vergnügungsviertel wachend, wenn nicht über die gesamte Stadt.

War meine Vorfreude groß, so wich sie zunächst einer milden Enttäuschung, als ich die Skulptur das erste Mal mit eigenen Augen sah. Es ist wie bei vielen Berühmtheiten, die man nur aus den Medien kennt. Sieht man sie auf der Straße, denkt man: Ich hatte ihn mir irgendwie größer vorgestellt. Dabei ist es tatsächlich so, wie die japanische Tagespresse es angekündigt hatte: Man muss Godzilla nicht lange suchen, wenn man sich Kabukicho nähert. Er ist schwer zu übersehen auf der Vordachterrasse des Gracery-Hotels. Und trotzdem ist der erste Anblick unspektakulär. Im ohnehin bunten, reklameüberfrachteten Straßenbild könnte der Saurier nichts weiter als eine weitere Werbefigur sein. Der Eindruck bestärkte sich noch dadurch, dass Sony gerade zum Zeitpunkt meines Besuches eine Werbebanderole unter dem Viech angebracht hatte, die ein neues Godzilla-Videospiel ankündigte. Einerseits: Wenn nicht hier, wo dann? Andererseits verlieh die Werbung dem Kunstwerk etwas Flüchtiges und Vulgäres. Heute Godzilla, morgen Naruto, übermorgen Kleenex. Dabei sollte Godzilla doch hier sein, um zu bleiben.

Die Enttäuschung wich zum Glück wieder einer erhabenen Freude, als ich dem besagten Schild in den achten Stock gefolgt und ganz nah bei Godzilla war. Aus unmittelbarer Nähe ist er so imposant wie gewünscht, gegen ihn sieht der Rest der Stadt klein aus. Sein Kopf ragt aus dem Dach, als hätte er es gesprengt. Er krallt sich an dessen Rand mit fürchterlichen und wunderbaren Klauen. Am Sockel erinnern Reliefs an seine schönsten Filmmomente.

Als ich vollends zufrieden wieder gehen möchte, pfeift mich der uniformierte Godzilla-Aufpasser zurück. Habe ich etwas falsch gemacht? Steuere ich den falschen Ausgang an? Nein, der ernste Herr bedeutet mir, eine verborgene Stelle am hinteren Teil der Skulptur anzufassen. Das tue ich, und daraufhin röhrt aus Godzillas Maul das charakteristische Godzilla-Röhren. Das Pärchen, das genau dort gerade steht, bekommt einen riesen Schrecken. Der Aufpasser und ich lachen verschwörerisch. Bald lachen wir alle, denn Godzilla ist unser Freund, und das macht uns alle zu Freunden.

Godzilla ist endlich ein originäres Wahrzeichen für Tokio. Denn wollen wir mal ehrlich sein: der Tokyo Tower ist charmant in seiner stählernen Archaik, aber letztlich nur vom Eiffelturm abgekupfert. Die Rainbow Bridge ist doch sehr kalifornisch. Der Skytree etwas zu streberhaft in seinen Ausmaßen und Anmaßungen, außerdem architektonisch so beliebig gefallsüchtig, dass er genauso gut in Schanghai oder Dubai stehen könnte. Godzilla ist ein stimmiges Symbol für Tokio: ein liebenswertes und etwas unförmiges Monster, von keiner Krise kleinzukriegen. Eine überdimensionierte Schöpfung, die sich immer wieder neu erfindet. Godzillas Symbolgehalt geht dabei über die Hauptstadt hinaus. Sein erster Filmauftritt ist längst als Klassiker kanonisiert, und trotzdem ist er nach wie vor aktiver Teil der Popkultur. Wer könnte also besser dieses Neben- und Miteinander von Tradition und Moderne vertreten, das Japan so gebetsmühlenhaft nachgesagt wird? Darüber hinaus ist die atomar verstrahlte Echse ein treffliches Energie- und Umwelt-Mahnmal in Post-Fukushima-Zeiten. Möge ihr Röhren noch lange aus Kabukicho heraus in die Welt tönen.

Ichi, ni – g’suffa [Kaiho-Kolumne]

In der aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Panama Geisha und das harte Brot des Heimwehs zu lesen. Dabei handelt es sich um eine etwas kürzere Version eines Textes, der im Internet bereits hier zu finden ist. Drum wird er in diesem Blog nicht noch mal erscheinen, bei Drittverwertung ziehe ich die Grenze. Hier allerdings gibt es nun die vorletzte Kolumne für alle Welt in Zweitverwertung.

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Seit sich einmal während der Oktoberfestsaison auf dem Münchner Hauptbahnhof ein blümeranter Rolltreppenbenutzer von oben auf mich herab übergeben hat, gehe ich nur noch in Ausnahmesituationen aufs Oktoberfest. Zugegebenermaßen bin ich vorher auch nur in Ausnahmesituationen aufs Oktoberfest gegangen. Die Musik entspricht nicht meinen Neigungen, vor Karussells habe ich auch von außen Angst und Bier trinke ich lieber in gemütlicher Runde als in ungemütlicher Reihe. Aber seit dem Bahnhofrolltreppenereignis habe ich wenigstens eine launige Anekdote als Bonusbegründung, warum ich der alljährlichen Narretei in den meisten Jahren fernbleibe.

Dieses Jahr ist allerdings nicht wie die meisten Jahre. In diesem Jahr war ich bereits zweimal auf dem Oktoberfest. Nun gehe ich davon aus, dass diese Kolumne im Juli erscheint, geschrieben wurde sie jedenfalls im Juni. Da darf man sich als kritischer Leser rechtens fragen: Dieses Jahr schon zweimal auf dem Oktoberfest – wie macht er das bloß?

Ganz einfach, ich habe nicht die ganze Wahrheit gesagt: ich war nicht zweimal auf dem Oktoberfest, ich war zweimal auf einem Oktoberfest. Noch genauer gesagt war ich jeweils einmal auf zwei verschiedenen Oktoberfesten. Zuerst auf dem im Hibiya Park, dann auf dem im Komazawa Park.

In Japan gibt es rund 30 verschiedene Oktoberfeste, die meisten davon sinnvoll in den verlässlich warmen Monaten platziert. Da kann es schon mal zu Ballungen kommen, weshalb ich innerhalb weniger Wochen zweimal in derselben Stadt, Tokio, an unterschiedlichen Orten in den Genuss kommen konnte. Der Genuss mag ein fragwürdiger sein, denn selbstredend zeigt sich die deutsche Küche hier nicht immer von ihrer appetitlichsten Seite, und ich befürchte auch nicht immer von ihrer authentischsten. Ich könnte schwören, bei meiner Currywurst war Bockwurst unter dem Curry. Anständiges Essen mag freilich eh nicht die allerhöchste Priorität bei einem Oktoberfestbummel haben. Beim Bier geht es authentischer zu, zumindest authentisch deutscher, nicht unbedingt authentisch bayrischer. Ich weiß nicht, wie viele Maß Kölsch auf dem Münchner Oktoberfest erfolgreich verkauft werden. Auch das Markenreinheitsgebot sieht man nicht so eng. Als ich an der ausdrücklichen Beck’s-Bude für eine Begleitung ein alkoholfreies Bier bestelle, bekomme ich tatsächlich ein alkoholfreies Radler von Paulaner. Daraufhin erkläre ich meiner japanischen Gesellschaft, dass das in Deutschland auf keinen Fall möglich wäre. Dass die Brauereien dort wie verfeindete Yakuza-Clans seien, die jeden Wirt einen Kopf kürzer machen, der trotz Treueschwur das Bier eines anderen ausschenkt.

Es stellt sich heraus, dass meinen japanischen Bekannten das relativ egal ist. Sie freuen sich an gutem Bier, fragen nicht woher, mampfen fröhlich Currybockwurst und ringen sich ein paar Komplimente dazu ab („Interessant!“), schaukeln zu „Ro-sa-mundäää!“ und lassen sich pünktlich alle 30 Minuten von der japanischen Zeremonienmeisterin im Dirndl animieren: „Mina-san – guten Tag!!!“ Deren hauptsächliches Anliegen ist es selbstverständlich, auf die Verkaufsstände mit Oktoberfestandenkenartikeln hinzuweisen.

Wer auf den japanischen Oktoberfesten ein Weilchen nüchtern bleibt (allzu betrunken wird man angesichts der Preise eh nicht), wird schnell ein unheimliches Déjà-vu-Erlebnis haben: immer die gleichen Buden, die gleiche Musik, die gleiche bayrische Showband mit Originaloktoberfestgütesiegel (jetzt weiß man wenigstens, was diese Band den Rest des Jahres macht). Und wenn man ganz genau hinsieht: dasselbe Personal in den Buden, dasselbe Posterdesign, dasselbe Programmheft. Es gelingt mir ohne Weiteres, einen übriggebliebenen 100-Yen-Coupon vom Hibiya Park im Komazawa Park einzulösen. Ja, im Grunde sind diese vermeintlich verschiedenen Oktoberfeste doch ein einziges. Sie sind eine Marke, die Starbucks-Version von German Gemütlichkeit. Haben die Buams und Madels ihre Zelte in Komazawa abgebaut, ziehen sie weiter zur nächsten japanischen Grünfläche (Nara, geschlussfolgert anhand des Tourneeplans auf der Homepage der Band Die Kirchdorfer).

Ich hatte nie ein gesteigertes Bedürfnis, mit dem Zirkus davonzulaufen. Doch vielleicht laufe ich eines Tages mit dem Oktoberfest davon. Ich lasse mich in 100-Yen-Coupons bezahlen und ernähre mich von Bockwurst und alkoholfreiem Radler, wenn ich genügend Coupons gesammelt habe. Ich habe keine Gewissensbisse, den Japanern ein einseitiges Bild vom Deutschen an sich zu vermitteln. Die sollen sich lieber an den freundlichen Bierbankschunkler halten, als an den deutschen Supermarktkassierer oder Busfahrer.

Mit dem Beagle-Bus ins Natto-Land [Kaiho-Kolumne]

In der aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Ichi, ni – g‘suffa zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung.

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Zwei der Initiationsriten, mit denen Außenstehenden die höheren Weihen der japanischen Lebensweise erfahren, sind Bus fahren und Natto essen. Möglichst nicht beides auf einmal, das wäre unschicklich. Schon beides für sich ist mit gewissen Unsicherheiten verbunden. Netz- und Fahrpläne sowie das Bezahlsystem von Buslinien sind weniger selbsterklärend als die Äquivalenzen im Schienenverkehr, das kann schon abschrecken. Und wie kann man einer Abschreckung am effektivsten entgegenwirken? Mit unwiderstehlicher Niedlichkeit! Mir nahm ein Beagle die Angst vorm Bus. Es handelte sich um das gezeichnete Maskottchen der lokalen Buslinie im Tokioter Bezirk Bunkyo, in dem ich eine Zeit lang wohnte. Der Bus wurde freilich Beagle-Bus bzw. Biguru-Basu genannt. Der freundliche Hund verschönte die Haltestellen und die blauen Sitzpolster der Fahrzeuge, auf denen er in verschiedenen Posen, bei verschiedenen Aktivitäten und in unterschiedlichen Gemütsverfassungen abgebildet war. Mal hatte er eine kleine Beagle-Freundin dabei, mal weinte er ganz alleine dicke Tränen. Vielleicht hatte ihn seine kleine Freundin da gerade verlassen. Es war bestimmt nur vorübergehend. Mir jedenfalls gab der Beagle Sicherheit: mit einem so süßen Hund an meiner Seite kann ich mich gar nicht verfahren. Und falls doch, wird es schon nicht so schlimm sein. Stattdessen wird ein kleines Abenteuer draus, mit klassischer Besetzung – ein Junge und sein Hund.

Maskottchen machen eben einiges leichter, auch im lukullischen Bereich. An einer Baustellenfassade in Schwabing las ich unlängst ein von Narrenhänden hinterlassenes Graffito: „NO NATO!“ Da ich gedanklich immer ein bisschen in Japan bin, hatte ich mich zuerst verlesen und meinte, dort stünde: „NO NATTO!“ Ich dachte: „Ach, ich bin auch kein großer Freund der fermentierten Sojabohnen, aber man kann sich dran gewöhnen. Kein Grund, seine Abneigung auf Öffentliches zu schmieren.“ Tatsächlich verlief meine erste Verköstigung der klebrigen Spezialität, die in Japan eine von ca. 2 Millionen Nationalspeisen ist und als ungemein (und unrealistisch) gesund gilt, genauso, wie Japaner es sich wünschen: ich keuchte und ächzte, ich konnte mein Tellerchen nicht aufessen; dabei bin ich wirklich kein komischer Esser. Solche Reaktionen freuen die Einheimischen, denn sie sehen sich und ihre Nationalgerichte gerne als etwas ganz Besonderes, so wie alle anderen Menschen auf der Erde auch. Nach weiteren Begegnungen mit Natto machte ich meinen Frieden damit, obwohl ich weiterhin der Auffassung bin, dass die, die behaupten, Natto regelrecht zu mögen, schlichtweg lügen.

Die Akklimatisierung meines Gaumens brauchte ein paar Jahre, so lange können japanische Natto-Produzenten jedoch nicht warten. Es gibt eine Natto-Krise. Die Konsumenten brechen weg, weil die Reiskonsumenten wegbrechen (nur mit Reis ist das Zeug nämlich genießbar, wobei ‚genießbar‘ zu viel gesagt ist). Deshalb ist man bemüht, ins Ausland zu expandieren. Insbesondere Frankreich hat man im Visier, denn in Frankreich gelten schon andere verdorbene Lebensmittel als Delikatesse (so wird es nicht wörtlich ausgedrückt, aber sinngemäß). Für die Eroberung des deutschen Markt hätte ich gleich einen Tipp: Da der Deutschen Reis das Brot ist, könnte man die Bohnen mit Billigschokolade vergären und als Brotaufstrich Nattella ins Regal bringen.

Um den Erfolg im Ausland zu befeuern, hat man sich zwei Strategien überlegt. Die eine ist eine neue Rezeptur, die Natto weniger klebrig macht. (Wer mal vom Natto genascht hat, mag einwenden, dass die Klebrigkeit eigentlich nicht das grundlegendste Problem von Natto ist.) Die zweite Strategie ist natürlich: ein Maskottchen. Glücklicherweise gab es bereits eines, das den Natto-Kreuzzug bereitwillig auf sich genommen hat. Nebaaru-kun, ein unförmiges Häufchen aus der Präfektur Ibaraki, macht gerne Natto-affine Wortspiele (neba heißt klebrig) und ist gerade drauf und dran, weit über Ibaraki hinaus ein Star der Maskottchen-Szene zu werden.

Dennoch war Neebaru-kun vermutlich noch niemals in New York. Sein ärgster Konkurrent unter den aufstrebenden Lokal-Maskottchen Funassyi, ein birnenförmiger Repräsentant der Stadt Funabashi, schon. Er ist die vierte japanische Persönlichkeit, die als Foto ins Empire State Building gehängt wurde, nach dem Kronprinzen, dem Botschafter und Yoko Ono. Aber die meiste Zeit wird Funassyi zukünftig wohl in Funassyiland verbringen, einem eigenen Laden in einem beliebten Einkaufszentrum nahe Tokio.

Die Fans von Funassyi und Neebaru-kun sind nicht gut auf das jeweils andere Maskottchen zu sprechen, in der Maskottchen-Szene geht es alles andere als kuschelig zu. Ihr Star ist zweifelsohne der große dicke Bär Kumamon, der 2011 zum beliebtesten Lokal-Maskottchen Japans gewählt wurde und seitdem allgegenwärtig ist. Möglicherweise möchte man aber gar nicht in der ersten Reihe stehen, wo das Rampenlicht am hellsten und unerbittlichsten strahlt. Jüngst bekam Kumamon Ärger, weil er es trotz gegenteiliger Versprechungen nicht geschafft hatte abzuspecken. Gemeinsam mit Ikuo Kabashima, dem Gouverneur der Präfektur Kumamoto, für die Kumamon wirbt, wurde im Oktober 2014 eine Diät begonnen. Der Gouverneur ging fortan zu Fuß ins Büro und verlor tatsächlich knapp 5 Kilo. Kumamon hingegen wurde beim heimlichen Verspeisen von Valentinstagschokolade erwischt und nahm kein bisschen ab. Das hatte Konsequenzen: Er wurde vom Verkaufsleiter zum Verkaufsleiter-Assistenten heruntergestuft. Vielleicht sollte er es mal mit Natto probieren.

Gebratene Ente unter anonymen Genitalien [Kaiho-Kolumne]

In der aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Mit dem Beagle-Bus ins Natto-Land zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung.

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Über Weihnachten letzten Jahres war Megumi Igarashi auf Bewährung draußen. Zuvor war sie zweimal in relativ kurzen Abständen verhaftet worden. Die Taten, die ihr zur Last gelegt werden, bestreitet sie nicht. Sie bestreitet lediglich, dass es sich bei diesen Taten um Verbrechen handelt.

Sie wollte doch nur ein Kajak. Sie wollte es noch nicht mal stehlen, sondern es selbst bauen. Auch das kostet Geld, deshalb startete sie eine Crowdfunding-Aktion, sie sammelte also Projektspenden im Austausch gegen kleine Geschenke und Gefälligkeiten. Eine dieser Gefälligkeiten hatte durchaus mit ihrem Intimbereich zu tun, war aber weniger intim, als man glauben könnte: War die Spende groß genug, schickte sie dem Spender Koordinaten ihres Geschlechtsteils, zur Reproduktion über einen 3D-Drucker.

Eine niedliche Idee, eigentlich. Fand die japanische Justiz aber nicht. Igarashi wurde wegen der Verbreitung obszönen Materials im Juli zum ersten Mal verhaftet. Erst nach sechs Tagen wurde sie vorübergehend freigelassen, nachdem man zu der Einsicht gekommen war, es bestehe weder Flucht- noch Verdunklungsgefahr. Schließlich steht Igarashis Vagina im Zentrum all ihrer Arbeit (dreimal darf man raten, welche Form sie sich für ihr Kajak wünschte). Da kann man nicht so einfach nach dem alten Spießerspruch verfahren: Ist das Kunst, oder kann das weg?

Im Dezember wurde sie erneut verhaftet, als ihr gutes Stück, beziehungsweise ein Replikat davon, öffentlich ausgestellt wurde. Beziehungsweise relativ öffentlich, in einem Geschäft für Ehehygiene, wie wir Kinder des letzten Jahrtausends sagen. Also an einem Ort, zu dem die jugendliche Unschuld eh keinen Zutritt hat, und wo es kaum Kunden geben dürfte, die das Ausgestellte nicht zumindest auf Abbildungen schon einmal gesehen haben. Fraglich ist in diesem Zusammenhang, wer gepetzt hat. Vermutlich stand das Kunstwerk vor der polizeilichen Entdeckung schon zwei oder drei Monate ohne Zwischenfall im Laden.

Zugegeben: Ich bin normalerweise nicht empfänglich für Künstler, die ihre Geschlechtsteile zu Kunstwerken ausloben und kein anderes Thema kennen. In der Regel ist deren Kunst faul, vorhersehbar, nicht sonderlich weit gedacht. Deshalb hatte ich die Causa Igarashi schnell wieder in die hinteren Winkel meines Unterbewusstseins verbannt. Von dort kam sie aber neulich schlagartig wieder hoch, als ich unter einer riesigen Vagina saß und versuchte, mich aufs Essen zu konzentrieren. Für eine Buchrecherche (ich schiebe gerne jeden Unsinn auf Buchrecherchen) hatte ich mich in das Chinese Café Eight in Roppongi begeben, das dafür bekannt ist, 24 Stunden am Tag gebratene Ente zu servieren und „originell dekoriert“ (Reiseführer) zu sein. Ich hatte eine vielleicht etwas extremere Version des üblichen China-Restaurant-Kitsches mit Rot und Gold und Drachen erwartet. Tatsächlich erwartet mich ein großes weibliches Geschlecht, gestanzt in eine schmiedeeiserne Glocke, in der Mitte des Raumes von der Decke hängend. Keineswegs nur angedeutet, sondern anatomisch ziemlich eindeutig. Genauso wie der ebenfalls von der Decke hängende große, goldene Penisschlegel, der Kurs auf sie genommen hatte.

Warum durfte man hier, ganz öffentlich mit Kind und Kegel, unter riesigen entblößten Geschlechtsteilen gebratene Ente essen, während es erwachsenen Privatmenschen untersagt war, Reproduktionen des Geschlechtsteils von Frau Igarashi anzuschauen oder herzustellen? Liegt es daran, dass die Glocke im Chinarestaurant nur eine anonyme Vagina zeigt, und nicht die einer bestimmbaren Person? Oder schützt ihre unrealistische Größe sie vor der Verfolgung? Ist demnach ein Geschlechtsteil in Originalgröße obszöner als ein riesengroßes? Oder ist das von Frau Igarashi in jeder Größe überdurchschnittlich obszön? Oder liegt es daran, dass speziell in Roppongi eh so einiges rumhängt, und man dort eher mal ein Auge zudrückt?

Selbstverständlich ist ein Geschlechtsteil überhaupt nicht obszön. Nicht die unbeanstandete Glocke ist der Skandal, sondern die Skandalisierung und vor allem die Kriminalisierung von Megumi Igarashi und ihrer Kunst. Man muss kein Fan sein, um zu erkennen, dass ihre Werke verspielt, fröhlich und bisweilen sogar originell sind; keine lärmende und spritzende Pennäler-Provokation, wie bei so vielen anderen Genitalherzeigern im Kunstbetrieb. Und selbst wenn es sich um lärmende und spritzende Pennäler-Provokation handelte, wäre das kein Grund, gleich die Polizei zu rufen. Kunst darf alles, auch doof sein.

So weit ist man allerdings in der japanischen Rechtsprechung noch nicht. Megumi Igarashi ist zwar wieder auf freiem Fuß. Ihr Ziel aber, ihre Vagina vom Gericht für nicht obszöner als andere erklären zu lassen, hat sie nicht erreicht. Sie wurde zu einer knackigen Geldstrafe verdonnert.

Möglicherweise geht sie nun öfter mal im Chinese Café Eight essen, ein eher preiswertes Lokal. Und möglicherweise tun sich dabei ganz neue Möglichkeiten der gastronomisch-künstlerischen Zusammenarbeit auf. Ich hoffe es sehr.

Eine Geschichte zweier Kuchen [Kaiho-Kolumne]

In der aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Gebratene Ente unter anonymen Genitalien zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung. (Ja, ich habe zum Thema Esskastanienpüreegebäck in diesem Blog schon einmal gearbeitet, aber es ist ja auch ein Thema, dass uns alle irgendwann betreffen kann, deshalb lässt es sich gar nicht oft genug beleuchten. Dass sich die Schilderungen gleicher Ereignisse meines Privatlebens von Text zu Text ein wenig unterscheiden, liegt an gelebter künstlerischer Freiheit und Lügenpresse.)

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Will man in Deutschland Japanern begegnen, ist eine der sichersten Anlaufstellen die Baumkuchenbäckerei, die es bestimmt in jedem Ort gibt, der auf der Romantikstrecke der führenden japanischen Tourismusunternehmen steht. Ich bin von Haus aus kein Kuchenexperte, deshalb hatte ich keine größeren Gewissensbisse, dass ich den Baumkuchen allenfalls dem Namen nach kannte, bis ich mit einer Japanerin liiert war. Diese Japanerin wiederum war schwer schockiert von meiner Unkenntnis, hielt sie doch Baumkuchen für so stark mit der deutschen Volksseele verbunden wie Volkswagen und Sauerkraut. Als sie zum ersten Mal die Baumkuchenrepublik Deutschland bereiste, war sie ausgestattet mit einem Reiseführer, der gefüllt war mit Abbildungen von Lebensmitteln, von Weißwurst bis Happy Hippo, mit Kontrollkästchen daneben, nach Verzehr anzukreuzen. Beim Abhaken des Baumkuchens in der entsprechenden Spezialkonditorei fühlte ich mich mehr als Tourist als sie, waren die japanischen Kunden doch stark in der Überzahl.

Die Beliebtheit des Baumkuchens in Japan ist vermutlich weniger romantisch oder lukullisch begründet, als man annehmen möchte. Durch seine lange Haltbarkeit lässt er sich halt auch ohne Blitzversand in fernere Regionen exportieren und muss dort nach Erhalt nicht sofort blitzverzerrt werden. Inzwischen sind so viele Baumkuchen nach Japan ausgewandert, dass sie dort ihre ganz eigene Kultur entwickelt haben. Es ist eine Kultur, die sich in erster Linie im Untergrund abspielt; nämlich in den Glamour-Gourmet-Untergeschossen großstädtischer Kaufhäuser. Dort lässt sich sehen und kosten, dass die japanischen Baumkuchenbäcker mit dem deutschen Gebäck längst getan haben, was japanische Innovatoren gerne mit Importen tun: nicht einfach nur so gut imitieren, dass es so gut wie gar nicht mehr vom Original zu unterscheiden ist, sondern derart weiterentwickeln, dass das Original kaum noch zu erkennen ist. So sei dem japanischen Baumkuchen-Enthusiasten angeraten, vor dem Deutschlandbesuch die Erwartungen etwas herunterzuschrauben. Hat man hier nur die Wahl zwischen Baumkuchen mit Baumkuchengeschmack als ganzer Stumpf, als in Scheiben geschnittener Stumpf oder als in mundgerechte Happen gehackter Stumpf, so gibt es neben der größeren Formenvielfalt im Fernen Osten auch eine größere Geschmacksvielfalt, zum Beispiel Baumkuchen mit Tomaten- oder Spinatgeschmack. Und selbstverständlich ist das alles übersichtlicher portioniert. Eine einzelne deutsche Baumkuchenportion könnte schließlich einer ganzen japanischen Familie als Tagesproviant dienen.

Meine Unkenntnis in Sachen Baumkuchen war die erste, aber nicht die letzte Backwerk-Irritation zwischen mir und meiner japanischen Liaison, der ich zwischenzeitlich meinerseits das Eheversprechen gegeben und ihrerseits abgerungen habe. Zu späte Zweifel an meiner Heiratsfähigkeit hegte sie, als sich herausstellte, dass ich den Mont-Blanc nicht kannte. Den Berg schon, den Füllfederhalter auch, jedoch nicht den Kuchen. Dabei hatte ich ihn selbst entdeckt, zumindest für mich. Bei einem einsamen Frühstück in einem Tokioter Ketten-Café hatte ich gegen mein Naturell einen Kuchen zum Nachtisch bestellt. Auf den Namen hatte ich nicht geachtet, sondern bloß mit dem Finger auf das Exemplar in der Vitrine gedeutet: „Den da bitte.“ Also mit derselben Kompetenz geordert, mit der ich auch in Deutschland Kuchen bestelle. Dieser bestand im Wesentlichen aus Schlagsahne und aufgetürmten, in etwa bergförmigen Esskastanienpüree und schmeckte mir sehr gut. Rückblickend war dieser Ketten-Café-Mont-Blanc sicherlich nicht der Gipfel unter den Genüssen seiner Art, doch mich hatte er überzeugt. So sehr, dass ich meiner Frau davon erzählte. Da ich den Namen nicht wusste, beschrieb ich das Produkt. Offenbar nicht sehr gut, denn sie kam nicht dahinter, was ich meinte.

Etwas später sah ich den Mont-Blanc wieder, im Untergrund, also in einer dieser großstädtischen Edel-Bäckereien eines Kaufhaus-Kellers. Ich brachte ihn mit nach Hause und übergab ihn mit großem Brimborium meiner Gattin, die sofort aus allen Wolken fiel, weil ich um so einem Allerweltskuchen so ein Theater gemacht hatte: „Das ist ein Mont-Blanc!“, rief sie. „Den kanntest du nicht?!“

„Wie sollte ich den kennen? Ich kenne ja kaum die Namen von deutschen Kuchen …“

„Das IST ein deutscher Kuchen!“

Ich bezweifelte das ganz stark und das Gespräch wurde zu einem fruchtlosen Nein-Doch-Pingpong-Match, dessen Entscheidung vertagt wurde.

Tatsächlich sprachen wir das Thema fast genau ein Jahr lang nicht mehr an. Bis ich an ein Magazin kam, das in Tokio kostenlos an ausländische Touristen verteilt wurde. Darin war ein Artikel mit der Überschrift: Tastes of Tokyo. Dreimal darf man raten, welcher Kuchen dort in Text und Bild gewürdigt wurde. Ich präsentierte das Magazin meiner Frau stolzer, als ich ihr je eine meiner Tokyo-Marathon-Medaillen präsentiert hatte. Hier war der Beweis: der Mont-Blanc ist durch und durch japanisch, eine Kreation Tokios.

Noch genauere Recherche lässt daran allenfalls milde Zweifel aufkommen. Tatsächlich handelt es sich ähnlich wie bei Tempura und Popmusik um eine ausländische Erfindung, die von Japan eingemeindet und perfektioniert wurde. Das Grundrezept lässt sich in ein italienisches Kochbuch von 1475 zurückverfolgen, doch der Mont-Blanc, wie wir (bzw. die Japaner) ihn heute kennen, entstammt der gleichnamigen Konditorei in Jiyugaoka, einem Viertel Meguros. Ein ganz goldiger und sehr beliebter Laden mit Warteliste und Tischbeinen in bodenschonenden Söckchen, wo man die Haus-Kreation noch heute verköstigen kann, selbstverständlich in allen möglichen Geschmacksrichtungen.

Als meine Frau und ich das schließlich taten, war unser Streit längst vergessen. Sie beschäftigte jetzt der Gedanke, warum der Mont-Blanc sich bislang in Deutschland nicht durchsetzen konnte. Inzwischen ist sie bei einer Verschwörungstheorie angelangt, die etwas mit einer unterstellten deutschen Abneigung gegen Esskastanien in Süßspeisen zu tun hat. Ich arbeite derweil meine jüngste reichtumgarantierende Geschäftsidee aus: Baumkuchen mit Mont-Blanc-Geschmack.

Die verschuldeten Idole von Galapagos [Kaiho-Kolumne]

In der aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Eine Geschichte zweier Kuchen zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung.

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Erfinden Japaner etwas, was in Japan ganz wunderbar gedeiht, aber im Rest der Welt keinerlei Überlebenschancen hat, spricht man vom Galapagos-Syndrom, in Anlehnung an die gleichnamige Inselgruppe mit ihrem weltweit einzigartigen Tierleben und Pflanzenvorkommen. Meistens sind damit international nicht kompatible und schwer adaptierbare Technologien gemeint. Es fällt allerdings nicht schwer, den Begriff auf kulturelle und wirtschaftliche Eigenheiten Japans auszuweiten. Zum Beispiel auf den Musikmarkt. Man stelle es sich einmal vor: Japaner kaufen CDs. Deutsche übrigens auch, rund 70 Prozent der bezahlten Musik hierzulande wird weiterhin auf Polycarbonat ausgeliefert. In Japan sind die häufig totgesagten Datenträger jedoch noch beliebter: sie machen 85 Prozent des Musikmarktes aus – mit steigender Tendenz, denn der Downloadmarkt ist mittlerweile rückläufig. Ein krasser Gegensatz etwa zu den USA oder Schweden, in denen Compact Discs nur mehr 40 beziehungsweise 20 Prozent der Verkäufe ausmachen.

Japans Alleinstellung hat zwei Gründe: Sammelleidenschaft und AKB48. Egal, ob das dritte Best-of-Album einer vor zwei Monaten gegründeten Boyband oder die hundertste Neuveröffentlichung von Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band: alles wird schön verpackt, in Übergröße, mit Glitzerschmuck, Bilderbuch und Bonus-DVD, nicht selten bekommt man beim Kauf an der Kasse noch ein Poster in die Tüte und beim Verlassen des Warenhauses einen Button in die Hand gedrückt. Es gibt fast mehr anzuschauen als anzuhören. Das Prinzip solcher Sonderausgaben ist zwar in Deutschland nicht unbekannt, hier wirken sie jedoch häufig so liebevoll gestaltet, als hätte sie sich ein berufsmüder Vermarkter noch schnell zwei Minuten vor dem Wochenende ausgedacht. In Japan wirken sie so, als hätte eine Gruppe von Enthusiasten genau das Produkt entworfen, das sie selbst kaufen würden. Es funktioniert, ich spüre es am eigenen Leib (in erster Linie durch den leichter zu tragenden Geldbeutel). Schnürt unsere japanische Verwandt- und Bekanntschaft Carepakete, lässt meine Frau sich mit Vorliebe Lebensmittel einpacken. Ich mir CDs.

Japans erfolgreichste Mädchenformation AKB48, nach letzter Zählung mit 79 Köpfen weit über das im Namen festgelegte 48er-Limit hinausgeschossen, legt auf den allgemeinen Verpackungswahn noch einen drauf. Ihre CDs beinhalten nicht nur die üblichen Sammlerstücke zum Anschauen, Anheften und Aufkleben, sondern auch Tickets für Auftritte und Stimmzettel zur Wahl des beliebtesten AKB-Mädchens, die zweimal jährlich in der altehrwürdigen Kampfsportarena Nippon Budokan ausgetragen und vom Fernsehen übertragen wird. Je mehr Einfluss man auf die Wahl nehmen möchte, desto mehr Stimmzettel sind vonnöten. Nicht wenige kaufen für diesen Zweck gerne mehr CDs, als für den reinen Musikgenuss genügen würden. Fraglich, ob sich dieses Konzept international adaptieren ließe und Fans dieselbe CD mehrfach kauften, um sicherzugehen, dass ihr Favorit die Wahl zum süßesten Boy von Sportfreunde Stiller gewinnt.

Die sogenannten Idole (japanisiert idoru) sollen Popstars zum Anfassen sein. AKB48 nehmen das mitunter ganz wörtlich. Nicht unbedingt im unsittlichen Sinne, aber inzwischen doch unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen. Regelmäßig ließen sie ihre Fans für Händeschüttel-Sessions anstehen, bis im Mai ein Teilnehmer die Säge zückte und zwei Mitglieder verletzte. Danach wurde das öffentliche Händeschütteln ausgesetzt. Inzwischen findet es wieder statt, mit einem Sicherheitsbeamten pro Mädchen, Sicherheitsabstand und Sicherheitsbarriere zwischen den Schüttelnden. Man könnte raunen, hier offenbare sich die Schattenseite des Idol-Kults. Dabei offenbart sich nur die Schattenseite der Menschheit. Jemand, der den Drang verspürt, andere mit einer Säge anzugreifen, braucht sicherlich nicht eine händeschüttelnde Sing- und Tanztruppe als Auslöser.

Mit ihrem eigenwilligen Gesamtkonzept, bei dem es mehr um Pop als um Pop-Musik geht, ebnen AKB48 den Weg für andere, noch eigenwilligere Gruppen des Idol-Genres, denen wohl ebenfalls das größere internationale Publikum (und Verständnis) vorenthalten bleiben wird. Im September stellten sich die Margarines der Öffentlichkeit vor, deren Alleinstellungsmerkmal ist, dass für sie die fetten Jahre vorbei sind. Jedes der neun Mitglieder ist hoch verschuldet. Insgesamt beläuft sich das Minus auf 127 Millionen Yen, teils aus Studentendarlehen, teils einem kostspieligen Lebenswandel verdankt. Im Internet kann der Fan mitverfolgen, wie viel davon durch die Pop-Arbeit schon getilgt wurde. Für den Dezember ist ein Album angekündigt. Wie tröstlich, dass man in Japan mit Musik noch Geld verdienen kann. Selbst wenn es dabei nur am Rande um Musik geht.

Nudeltechno in der Stadt, die ziemlich früh zu Bett geht [Kaiho-Kolumne]

Hatte ich ganz vergessen zu erzählen: Weil es eines Abends beim Stammtisch der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern so gemütlich war, habe ich mich breitschlagen lassen, fortan eine Kolumne für das Vereinsblatt Kaiho zu schreiben. Und irgendwann werde ich auch Mitglied, versprochen.

An dieser Stelle werde ich die Kolumnen mit Zeitverzögerung zweitverwerten. Immer dann, wenn es im Heft eine neue zu lesen gibt, darf alle Welt hier einen Blick auf die alte werfen. Im aktuellen Kaiho lesen geneigte Mitglieder dieser Tage die neuesten Folge Die verschuldeten Idole von Galapagos.

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Vor ein paar Jahren verbrachte ich einige Nächte in einem Hotel in Ikebukuro. In einer dieser Nächte bezeugte ich, wie eine verhältnismäßig junge Dame mit karibischem Teint, einem roten Glitzerkleid und einem passenden Hut mit beeindruckender Krempe an die Rezeption trat. Sie wirkte ein bisschen, als sei sie gerade frisch aus dem New Yorker Studio 54 herausgetreten, und sie fragte die Rezeptionistin, wo man hier nach der besten Clubbing-Gelegenheit suchen müsse.

Die Rezeptionistin geriet daraufhin gehörig ins Schwimmen. Das mochte ganz unterschiedliche Gründe gehabt haben. Vielleicht war gerade Clubbing gerade ihr Kompetenzgebiet nicht. Vielleicht nahm sie das „hier“ zu lokal, schließlich ist der Glanz von Ikebukuro als Ausgeh-Ort schon fast so lange verblasst wie der des Studio 54 (das stört freilich nicht, wenn man den ganz besonderen Schimmer verblassten Glanzes zu schätzen weiß). Vielleicht hatte sie bei ihrem Hadern aber auch nur die Gesetzeslage im Sinn. Dann hätte ihre Antwort mit einem Blick auf die Uhr lauten müssen: „Ach, das lohnt jetzt sowieso nicht mehr. Gehen Sie lieber morgen gleich nach dem Abendessen los.“

Das Motto der Stadt, die niemals schläft, entlehnen Anhänger diverser Großstädte überall auf der Welt regelmäßig vom rechtmäßigen Besitzer (New York) und veredeln damit ihre eigenen Lieblingsstädte. Ich habe nicht selten gehört, wie das unüberlegt sogar über die japanische Hauptstadt gesagt wurde: Tokio – die Stadt, die niemals schläft. Dabei wäre ein viel passenderer Slogan: Tokio – die Stadt, die ziemlich früh zu Bett geht. Oder falls es unbedingt schlaflos klingen muss: Tokio – die Stadt, die früh aufsteht und keinen Mittagsschlaf braucht. Wenn allerdings in anderen Weltstädten das Nachtleben vornehm spät beginnt, müssen Tokios Nachtfalter schon wieder die Flatter machen. Denn Aufgrund eines Gesetzes, das im Nachkriegsjapan der Prostitution Einhalt gebieten sollte, darf in japanischen Clubs ohne Sondergenehmigung nur bis Mitternacht getanzt werden. Also eine Zeit, zu der westliche Clubber erst so langsam anfangen, sich die Schuhe zu schnüren.

Inzwischen glaubt kaum mehr jemand, dass Tanzen die Einstiegshandlung zur Prostitution ist, doch das Gesetz blieb bestehen. Vermutlich, weil es einfach vergessen wurde. Jahrzehntelang hatte sich niemanden daran gestört – in den Clubs wurden die Nächte durchgetanzt, die Justiz hatte Wichtigeres zu tun. Seit einigen Jahren aber hat man wieder ein strengeres Auge auf das veraltete Spättanzverbot. Um Ruhestörung zu unterbinden, sagt die Polizei. Weil anständige Clubs leichter zu maßregeln sind als unanständige Rotlichtbetriebe, mutmaßen Polizei-Skeptiker. Es ist durchaus keine Unmöglichkeit, eine Sondergenehmigung zu bekommen. Doch das wollen die meisten Club-Betreiber nicht, denn damit würden sie automatisch den fuzoku eigyo zugerechnet, einem dehnbaren Sammelbegriff für irgendwie anrüchige Erwachsenenunterhaltung. Es wäre wie ein Eingeständnis, dass das Gesetz doch irgendwo recht hat.

Immerhin, inzwischen bröckelt die Rechtslage. Eine baldige Reform ist sehr wahrscheinlich, schon jetzt gibt es kreative Wege der Umgehung. Seit 2013 werden Techno-Udon-Partys immer beliebter. Dabei wird gemeinschaftlich der Teig für Udon-Nudeln geknetet, mit Füßen, auf einer Tanzfläche, zu Techno-Beats. Das darf bis spät in die Nacht gehen, denn gegen nächtliche Speisezubereitung gibt es kein Gesetz. Selbstverständlich werden die Nudeln am Ende der Veranstaltung sofort zubereitet und verspeist. Tanzen beziehungsweise Kneten macht halt hungrig.

Trotz juristischem Entgegenkommen und kreativen Umwegen wird Japan in Sachen Club-Kultur wohl noch einige Zeit Entwicklungsland bleiben. Kurios, wenn man bedenkt, wie meilenweit Japan in anderen Aspekten der Popkultur und des modernen Lebens die Nase vorn hat.

Selbst wenn nachts getanzt werden dürfte – wie sollte man hin- und wieder wegkommen? Die öffentlichen Verkehrsmittel machen selbst in Millionenstädten zu Mitternacht Schicht im Schacht, mit Nachtbussen wird nur zögerlich experimentiert (und das gegen den lautstarken Widerstand der Taxiunternehmer). Dabei ist das Tanzen in der Stadt noch immer sehr viel leichter und freier als das Tanzen am Strand. In den Strand-Clubs der Shonan-Region darf Musik seit kurzem nur aus offiziell von regionalen Ämtern verteilten und voreingestellten Lautsprechern kommen. Und auch das nur, wenn es sich nicht um ‚Club-Musik‘ handelt.

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Aktueller Nachtrag: Nach (aber vermutlich nicht wegen) des Erscheinens dieser Kolumne wurden die Gesetze gelockert. Inzwischen darf länger getanzt werden, wenn es im Tanzschuppen heller als in einem Kino ist.