Am späten Donnerstagnachmittag habe ich alles gemacht, wie ich es immer mache: Nach dem Bezahlen meines Einkaufs im Supermarkt legte ich mein Portemonnaie neben meinen Warenkorb auf den Einpacktresen, packte meine Waren vom Warenkorb in meinen ‚Wittenberge das Tor zur Elbtalaue‘-Jutebeutel um und dachte mir voller Stolz auf mein Wahlheimatland: Also in Deutschland hätte ich das Portemonnaie nicht so einfach dahin gelegt, während ich Waren umpacke. Auf dem Heimweg dachte ich darüber nach, ob ich mir noch ein Schnickschnack-Bier im Schnickschnack-Bier-Laden oder einen Eismilchkaffee vom Convenience Store gönnen sollte, entschied mich in beiden Fällen aber dagegen, denn man gönnt sich ja sonst so viel. (Hätte ich mich anders entschieden, hätte ich womöglich meinen Fehler früher bemerkt.)
Dann arbeitete ich an den vorerst letzten Schliffen meines im Frühjahr erscheinenden neuen Kriminalromans, bereitete das Abendessen zu (Teriyaki-Huhn; für mehr reicht es während heißer Romanarbeitsphasen nicht), aß mit meiner Familie zu Abend, komplimentierte meine Tochter ins Bett, arbeitete ein bisschen weiter, holte mit meiner Frau ein paar Folgen der wunderschönen neuen Daily-Morning-Soap Boogie Woogie nach, komplimentierte meine Frau ins Bett, ärgerte mich allein ein bisschen mit dem Film Fistful of Vengeance herum (schade, dass der nicht von meinen Steuergeldern finanziert wurde, sonst könnt ich mich noch mehr aufregen), fand schließlich selbst zur Ruh. Ich hatte einen Traum, in dem meine Tochter endlich ihre Gestaltwandler-Fähigkeiten entdeckte und damit am Esstisch allen gehörig auf die Nerven ging. Viel zu früh brach der neue Tag an. Also alles wie immer.Schlagwort-Archive: Literatur
Reinhard Mey verbieten!
Drei Träume (zweimal Mais, einmal Spice)
Wenn hippe junge Dinger wie ich ein gewisses Alter erreichen, ignorieren sie zusehends ungenierter die alteingeführte Anstandsregel, dass es nichts Langweiligeres gibt als die nacherzählten Träume anderer Leute. Akira Kurosawa hat mit Anfang 80 einen Film über seine Träume gemacht, Martin Walser mit Mitte 90 ein Buch über seine geschrieben. Ich behaupte jetzt einfach mal: Ich bin zwar weder der neue Kurosawa noch der neue Walser, aber 52 ist ganz eindeutig das neue Anfang 80 / Mitte 90. Also hier die drei Träume von neulich, die mir am lebhaftesten in Erinnerung geblieben sind.
Mais-Traum No. 1 (kleiner Kolben) Ich ging eine Straße entlang und hatte plötzlich Appetit auf Babymaiskolben, also zog ich mir eine Tüte aus dem nächsten Automaten. Als ich Babymaiskolben knabbernd weiterging, merkte ich, dass die Tüte wohl schon etwas zu lange im Automaten gewesen war und der Kolben in meinen Mund innerliche Fäule aufwies. Reflexartig spuckte ich ihn auf die Straße. Ein älterer Herr hatte das interessiert beobachtet. Ich dachte: Ach, jetzt hält er mir gleich einen Vortrag, dass man hier nicht einfach so innerlich angefaulte Babymaiskolben auf die Straße spucken könne, man sei ja nicht in China. Doch in der Miene des Mannes war mehr Erleichterung als Missvergnügen. Als er den Mund öffnete, tat er das nicht, um mich zu rügen, sondern um sich im großen Stile auf den Bürgersteig zu erbrechen. Er hatte offenbar nur gewartet, dass jemand anderes den Anfang machte. Nun wollte ich ihn meinerseits maßregeln, dass man mein dezentes Spucken ja wohl kaum mit seiner Riesenschweinerei gleichsetzen könne. Aber da wachte ich auf. Mais-Traum No. 2 (großer Kolben) Es handelte sich um einen dieser Meta-Träume, in denen man träumt, dass man nicht einschlafen kann. Ich lag also genau auf dem Futon, auf dem ich wirklich lag und konnte nicht einschlafen (träumte ich). Das lag nicht an dem großen Maiskolben, den ich in der Hand hielt, sondern daran, dass sich etwas anderes Großes recht penetrant rücklings an mich schmiegte. Es war kein Familienmitglied, denn die waren alle außer Haus; der Traum fand während eines meiner notwendig gewordenen Mittagsschlafe statt. Dem Knurren nach zu urteilen war das in meinem Rücken ein riesiger Kampfhund. Ich wollte mich allerdings nicht zur Vergewisserung umdrehen, um ihn nicht zu provozieren. Man soll Hunden ja nie in die Augen gucken, wenn einem das Leben lieb ist, habe ich mal gehört. Fürs erste knurrte er nur, aber ich fand die Situation trotzdem nicht ideal. Ich wollte, dass er wegging. Also holte ich aus und warf den Maiskolben so weit fort, wie ich nur konnte. Die Rechnung ging auf: Der Hund (es war tatsächlich einer) erhob sich und lief dem Gemüse hinterher. Ich sollte nicht erfahren, wie nachhaltig diese Lösung war, denn unversehens wachte ich auf. Erleichtert, dass da weder ein Hund noch ein Maiskolben war. Mais mag ich nicht, Hunde finde ich tendenziell in Ordnung. Kommt auf den Hund an. Traum No. 3: Old Spice Ich träumte, die Spice Girls gingen mal wieder auf Tournee, doch eine wollte nicht mehr mitmachen. Posh, wahrscheinlich. Ist ja immer Posh. Hält sich für was Besseres. Ist für den Traum allerdings irrelevant. Jedenfalls musste die Stelle neu besetzt werden. Man entschied sich schnell für eine Unterhaltungskünstlerin, die ich noch „von früher“ kannte. Ich freute mich sehr für meine Freundin, aber auch für mich selbst, denn der persönliche Draht würde mir bestimmt Exklusiv-Interviews und ähnlichen geldwerten Schnickschnack einhandeln. Dann aber gab es irgendwelche kreative Differenzen oder Terminkonflikte, die Freundin flog wieder raus, und die Stelle musste erneut neu besetzt werden. Diesmal entschied man sich für meine bucklige, einäugige, schätzungsweise 90-jährige Nachbarin aus dem Haus gegenüber, deren Katze ich manchmal streichle, damit sie sich das nicht auch noch zumuten muss. Mit der alten Dame ist die Konversation trotz beidseitiger Sympathien oft schwierig. Meistens werfen wir uns nur gegenseitig das Adjektiv „kawaii!“ an den Kopf, wenn ihre Katze und meine Tochter dabei sind, was den beiden unangenehm ist. Keine guten Voraussetzungen für Exklusiv-Interviews. Ich melde mich wieder, wenn das Drehbuch oder die Aquarelle fertig sind.Corona-Weltmeisterschaft: Deutschland gegen Japan
Ich war neulich in Deutschland, um die dortigen Corona-Maßnahmen zu überprüfen und mit denen in Japan zu vergleichen. Hier die Ergebnisse.
Disziplin 1: Trockene Hände Deutschland hat die trockeneren Hände. Nicht weil so viel feuchtigkeitsentziehender Desinfektionsalkohol auf die Fingerchen gesprüht würde (dazu sogleich mehr), sondern weil die Heißlufthandtrockner in öffentlichen Bedürfnisanstalten weiterhin fröhlich blasen, als hätten sie von dieser Corona-Sache gar nichts mitbekommen. Ich möchte bei dieser freundlichen Weltmeisterschaft nur kalte Fakten ohne Lob und Tadel benennen (mir ist das dröge Doppelgespann aus reflexartigem Herkunftsort-Bashing und unreflektierter Wahlheimatverherrlichung genau so zuwider wie der umgekehrt gelagerte Fall), aber darüber war ich schon ein wenig schockiert. Die Dinger galten bereits vor der Pandemie als menschenfeindliche Virenschleudern (obwohl die Handtrockner-Lobby behauptete, dass das nur die Papiertücher-Lobby behauptete). In Japan war deren landesweite Abschaltung das erste, was an Maßnahmen durchgesetzt wurde. (Kritiker behaupten, es blieb auch das einzige.) Es sieht nicht so aus, als würden die Geräte jemals wieder angeschaltet werden. Das stört auch niemanden, denn der Japaner an sich trägt eh immer sein eigenes Handtüchlein mit sich. Der Zugereiste irgendwann ebenso. Und wenn er es mal vergisst, kauft er sich halt schnell am nächsten Bahnhofskiosk ein neues. (Falls Sie ebenfalls so viele Exemplare mit demselben Bahngesellschaftsmaskottchen haben, können wir vielleicht mal tauschen.) Disziplin 2: Desinfizierte Hände Vielleicht hat Japan doch die trockeneren Hände, denn vor jedem Restaurant, Laden und öffentlichem Gebäude steht ein Händedesinfzierer – entweder in Form einer elektronischen beziehungsweise mechanischen Konstruktion mit Sensor beziehungsweise Pedal oder als ein sympathischer Mini-Jobber mit einer Sprühflasche in der Hand. In der Disney-Store-Niederlassung in Shibuya betreibt man besonderen Aufwand: Dort empfängt einen eine freundliche junge Dame, die eine Micky-Maus-Puppe hält, welche die Sprühflasche hält. Nun spüre ich, wie man in Deutschland nervös auf dem Hosenboden herumrutscht und sich nicht recht entscheiden kann, ob man nur verwirrt oder bereits empört reagieren sollte. Jedenfalls möchte man einwerfen: „Aber das ist doch in Deutschland nicht anders! Gut, abgesehen von der Micky Maus vielleicht!“ Stimmt, in Deutschland wird auch an jedem einigermaßen öffentlichen Eingang desinfiziert. Das wusste ich aber noch nicht, als ich über diese Disziplin am Frankfurter Flughafen zu schreiben begann. An jenem aeronautischen Verkehrsknotenpunkt stehen nirgendwo Desinfektionsspender. Zumindest auf meinen langen, gewundenen Wegen sind mir keine aufgefallen. Bremen-Vegesack, Bremen-Walle und Bremen-City hingegen: Vorbildlich. (Ja, ich habe schon während des Transitaufenthalts auf dem Frankfurter Flughafen im Verlauf meiner Hinreise mit dem Verfassen dieser gewissenhaften Analyse begonnen. Wenn die Flughafenpressebuchhandlungen nichts außer Tichys Einblick und den Stephen-King-Roman, den ich bereits zu Hause heimlich gelesen hatte, zu bieten haben, muss man sich eben selbst was schreiben.) Disziplin 3: Soziale Distanz Hm, ungefähr gleich. Wird hüben wie drüben ohne Unterlass gefordert und gelegentlich praktiziert. Auch die Tatsache, dass in bedenkentragenden Randgruppen darüber diskutiert wird, ob man nicht lieber ‚physische Distanz‘ sagen sollte, findet sich im Westen wie im Osten. Dazu sage ich klipp und klar: Ist mir egal. Wenn es hilft, warum nicht. Disziplin 4: Personal hinter Plastik Noch etwas, bei dem man den Frankfurter Flughafen nicht als Spiegel der Gesellschaft hernehmen sollte. Dort keinerlei Schutz für die Menschen hinter den Kassen, im Rest der Republik (oder in dem Teil der Republik, den ich bereist habe) hingegen ähnliche Verhältnisse wie in Japan. Vielleicht liegt es daran, dass der Frankfurter Flughafen so überdurchschnittlich sauber ist. Das wäre dann aber neu. Disziplin 5: Masken, und wie und wo man sie trägt. Und welche. In Japan trägt man überall außer in Privathaushalten einen Mund-Nasen-Schutz, in Deutschland nur in öffentlichen Innenräumen. In Japan darf es an den meisten Orten einfach irgendeine Art von Maske sein, in Deutschland sind hässliche Masken Pflicht. Als ich mit meiner modischen Maske in Japan das Flugzeug bestieg, musste ich erst mal beweisen, dass ich ebenfalls eine hässliche Maske mitführte (was der Fall war). Auch wenn es mir unheimlich und ungewohnt war, ohne Maske durch die Bremer Fußgängerzonen zu schlendern, so beugte ich mich doch diesem gesellschaftlichen Diktat (ich wollte nicht der hervorstehende Nagel sein, der … Sie wissen schon). Nur um dann natürlich zu vergessen, die Maske wieder aufzusetzen, wenn ich ein Geschäft betrat. Prompt folgte stets vom Personal die freundliche wie bestimmte Frage: „Sind Sie befreit?“ Was für eine großartige Frage! Ein hoch auf das freiheitliche Europa! In Japan hat mir noch nie jemand eine derart existenzielle Frage gestellt. Gut, in Japan trage ich ja auch immer eine Maske. (Bitte den Satz noch mal lesen, aber diesmal inklusive Subtext. Heute wird übrigens der nächste Literaturnobelpreisträger bekanntgegeben.) Ich bin mir sicher, die Gewohnheitsdeutschen haben sich bereits etliche Antwortoptionen voll Verve und Finesse zu dieser hochrangig aufgeladenen Frage ausgedacht, wie einst zu: „Sammeln Sie Herzen?“ Bei mir reichte es leider immer nur zu einem gestammelten: „Nein … Entschuldigung … bloß vergessen … lege sie sofort an.“ Was mich überrascht hat: In Deutschland sah ich mehr korrektes Maskentragen als dieser Tage in Japan. Hier begegnen einem jetzt zunehmend die sogenannten Penisgesichter; vor Monaten noch eine statistisch irrelevante Randerscheinung. Vielleicht ist es Maskenmüdigkeit. Oder Mode. Vielleicht haben die im Fernsehen gesehen, dass die das im Westen so machen, und wollten auch mal so cool sein. Disziplin 6: Impfzertifikate In Deutschland hat jeder eines auf seinem Mobiltelefon. Hat mal einer keines, fotografiert er es mit seinem Mobiltelefon vom Mobiltelefon seines Kumpels ab. So genau guckt da keiner hin. Im analogen Japan gibt es stattdessen ein unübersichtlich vollgeschriebenes DIN-A4-Dokument, das in einladend dunklen deutschen Gaststätten kein Mensch entziffern kann. Wird erfahrungsgemäß genauso durchgewunken wie die abfotografierte Digitalfälschung. Menschen, die Japan in erster Linie aus Ghost in the Shell kennen, reagieren häufig perplex bis ungehalten, wenn man ihnen erklärt, wie technologisch rückständig das Land ist. Die denken, man wolle sie vergackeiern; es sei schließlich das Land, in dessen Städten man ständig mit Schwebetaxis an haushohen Werbehologrammen vorbeischwebe. Dabei tut man das in Wirklichkeit nur ganz selten. Der Alltag sieht eher so aus, dass E-Mails ausgedruckt und gefaxt werden, damit man sie bei Erhalt besser abstempeln kann. Das wird sich auch nicht ändern, solange die Fax-Lobby und die Stempelindustrie etwas zu sagen haben.Disziplin 7: Apps
In Deutschland (vielleicht handelt es sich auch um eine regional unterschiedlich geregelte Ländersache) braucht man eine App, um seine Anwesenheiten in Gaststätten und ähnlichem zu dokumentieren. In Bremen gibt es zum Beispiel die Gast-Bremen-App. Allerdings nicht im japanischen Google-Store, an den ich selbst in Deutschland gebunden bin; so weit reicht die hanseatische Gastfreundschaft wohl auch wieder nicht. Ich musste mir eine gehackte Raubkopie aus dem Darknet besorgen. Die funktionierte oft besser als die offiziellen Versionen meiner lokalen Begleiter. Man darf nicht vergessen, sich beim Verlassen einer Lokalität wieder von dieser abzumelden. Die Zeitungen sind voller Glossen von Witzbolden, die offenbar tagelang in derselben Kneipe festsaßen ohne es zu merken. In Japan braucht man nur Apps, wenn man wiedereinreist, denn man muss in Quarantäne, weil Japan eines der wenigen Länder ist, die das japanische Impfzertifikat nicht anerkennen. Dann schweigt man sich unter anderem täglich mit einer künstlichen Intelligenz eine halbe Minute lang an, während die Telefonkamera Beweisaufnahmen davon macht, dass man zu Hause ist. Disziplin 8: (Wieder-)Einreiseprozeduren Das interessiert bestimmt viele, aber dafür fehlt mir jetzt die Zeit. Ich muss noch Schweinefleisch marinieren und Gurken schneiden. Endergebnis Abdulrazak Gurnah, herzlichen Glückwunsch. Bonus-Content: Was ich in zwei Wochen Heimquarantäne über mich selbst gelernt habe Zweierlei:- Wenn ich nicht zum Getränkeautomaten an der Ecke gehen kann, um eine Cola zu kaufen, muss ich auch keine Cola trinken.
- Wenn ich nicht zum Convenience Store zwei Ecken weiter gehen kann, um Nachtisch zu kaufen, muss ich auch keinen Nachtisch essen.
Love Missile Betamax 3000
Ich entschuldige mich sogleich für die Überschrift, sie hat nichts mit dem Inhalt zu tun. Sollte mal ein Romantitel werden, allerdings ist mir auch kein Romaninhalt dazu eingefallen.
Aber wo ich Ihre Aufmerksamkeit habe: Ich glaube, ich bin letzte Woche ein paar Prozentpunkte blöder geworden, denn ich habe durchschnittlich einen Film der Filmserie Freitag, der 13. pro Tag gesehen. Und das kam so: Wir haben jetzt wieder Hulu. Wir hatten schon vorher zweimal Hulu gehabt. Das erste Mal, als es das nur in Amerika gab und alles ganz neu und aufregend war. Dann Hulu Japan versucht, weil es attraktive Hulu-Eigenproduktionen zu geben schien. Das war jedoch ein Irrtum; es gibt keine attraktiven Hulu-Eigenproduktionen. Schon gar nicht in einem fernsehkulturellen Dritte-Welt-Land (ich würde Entwicklungsland sagen, wenn es nur echte Anzeichen gäbe, dass sich da mal was entwickelt). Wo ich gerade Dritte-Welt-Land gesagt habe, wechsle ich schnell das Thema (Freitag, der 13. gibt eh nicht so viel her): Wo wäre denn Deutschland in diesem TV-Weltbild zu verordnen? Ich würde sagen: Locker Zweite Welt. Gibt sich stets große Mühe. Wegen meiner sprachlernwilligen Frau muss ich mir immer wieder aktuelle deutsche Produktionen ansehen, und oftmals bereue ich es nicht. Aaaaber … mir ist just aufgegangen, nach genauer Analyse, was das Problem deutscher Fernsehautoren ist: Sie glauben, ihre Charaktere müssten so reden, wie die Leute wirklich reden. Weil das dann ‚realistisch‘ ist, vielleicht sogar ‚authentisch‘. Realismus und Authentizität allerdings gehen so gut wie immer auf Kosten von Niveau und Unterhaltungswert. Im englischsprachigen Raum wissen die Autoren, dass Charaktere sprechen müssen, wie die Leute sprechen sollten. Deshalb gibt es dort oft geschliffene, tollkühne Dialog-Akrobatik, während es in Deutschland bloß bei „Fuck, Alter, wie krass ist das denn?!“ bleibt. Das ist schade, denn Plot, Figuren und Ästhetik hat das deutsche Fernsehen inzwischen durchaus drauf. Aber zurück zu Hulu. Wir kamen unlängst wieder angekrochen, in erster Linie wegen Columbo und Nizi Project. Wir haben uns nämlich vorgenommen, mehr über NiziU in Erfahrung zu bringen, als unsere Eltern damals über Adam and the Ants wussten. Aufhalten können wir sie eh nicht. Ich möchte nie ins Schleudern geraten müssen, wenn meine Tochter mich nach meinem Lieblings-NiziU-Girl fragt. (Nina, natürlich. Aber auf ihre Arten sind sie alle toll, obwohl ich zuerst Dings und Bums nicht recht auseinanderhalten konnte. Deren Namen lerne ich auch noch.) Columbo und Nizi Project haben uns voll und ganz befriedigt, doch dann kam Jason. Beim Stöbern im Filmangebot des Streaming-Services fand ich die Filme der Freitag, der 13.-Serie, zumindest die Teile eins bis acht und das Remake. Aus nostalgischer Trunkenheit (vielleicht auch bloß Trunkenheit) setzte ich sie auf meine Warteliste, abgesehen von Teil 1, bei dem ich bereits kürzlich im Linearfernsehen widerwillig hängengeblieben war, und dem Remake, weil gar so trunken war ich nun auch wieder nicht. Auf der Liste beließ ich sie erst mal, bis sie kollektiv den Warnhinweis trugen: Ablaufdatum in einer Woche. Ich musste es schaffen! Ich war völlig vernagelt. Ich machte es zu meinem Projekt. Ich stellte mir Outlook-Aufgaben, wie für alles andere in meinen Leben von „2 Minuten Zähne putzen“ über „Einwohnersteuer bezahlen“ bis „5 Seiten über Olympia (ohne Corona)“. Ich hake halt gerne Sachen ab. Also: „Diese Aufgabe ist heute fällig: Rest von Freitag, der 13. IV: Das letzte Kapitel gucken, mindestens halbe Stunde von Freitag, der 13. V: Ein neuer Anfang.“ Es war trotzdem nicht leicht. Diese Filme waren damals nicht gut, und sie sind heute unter aller Kanone. Jeder einzelne, abgesehen vom fünften oder sechsten, weiß nicht mehr genau, jedenfalls der, der sich gekonnt darüber lustig macht, wie unter aller Kanone diese Filme eigentlich sind. Früher haben meine Herrenbekanntschaften und ich bei diesen Filmen Salzgebäck verzehrt, mit Alkohol experimentiert, vom Schalk beseelt Tote gezählt und uns dabei hin und wieder in die Haare bekommen, ob Kakerlaken und Telefonleitungen auch zählten. Heute sind davon nur das Gebäck und der Suff geblieben. Anders ist es nicht zu schaffen. Ich bin in jener Woche also nicht nur merklich blöder geworden, sondern auch deutlich dicker. Zu den gelungeneren Aspekten der Serie gehört, dass die Teile sukzessive schlechter werden (abgesehen s. o.), wodurch rückwirkend der vorangegangene dann doch wieder vergleichsweise gelungen wirkt, und man sich sagt: „Hach, das war was, damals, gestern, bei Teil 3. Ob sich dieses Hochgefühl noch einmal reproduzieren lässt? Versuchen wir es doch mal morgen mit Teil 5.“ Ich möchte nun nicht jeden Film einzeln besprechen, das würde den Schmerz lediglich verlängern. Dennoch ein gut gemeinter Hinweis an die Macher: Der achte wäre vielleicht (ein ganz kleines bisschen) weniger enttäuschend, wenn er im Untertitel nicht Jason Takes Manhattan hieße sondern Jason auf einem Boot, das erst eine halbe Stunde vor Schluss in Manhattan ankommt. Wie in jedem Film eines gewissen Budgets wird Manhattan natürlich von Vancouver gespielt. (Kleiner indiskreter Industriegeheimnisverrat: Die meisten Szenen in Film- und Fernsehproduktionen, die auf Tokios bekannter Shibuya Crossing spielen, wurden in einem Studio in China gedreht, in dem eine perfekte Nachbildung steht.)Hana (6) über Alte Weiße Männer, Folge 1: Philip Roth
Gestern erwischte ich meine Tochter, wie sie auf dem Klo Philip Roth las. Sie las nicht direkt eines seiner Werke, sondern nur den Namen von dem Buch ab, das irgendjemand dort hatte liegen lassen: „Philip Roth.“
Ich erklärte: „So heißt der, der das Buch geschrieben hat. Ist aber schon tot.“ Hana freute sich: „Dann ist er jetzt ein Gespenst! Oder ein Engel!“ „Möglich.“ Beim Spirituellem haben wir noch keinen besseren Erziehungsansatz gefunden als die ‚Nichts Genaues weiß man nicht‘-Methode. Doch damit gab sie sich nicht zufrieden. „Was denn? Gespenst oder Engel?“ „Hm … Philip Roth … Engel … schwer zu sagen … die einen sagen so, die anderen so.“ „Vielleicht ist er … ein Apfel!“ Hier ‚in Asien‘ ist man mit der Reinkarnationslehre immer schnell bei der Hand. „Kann sein.“ „Oder … Papas Brille!“ „Das wird es sein! Jetzt aber Hände waschen, Zähne putzen und ab ins Bett.“ Philip Roth wurde also als meine Brille wiedergeboren. Ohne nun direkt den Kassenbon und die Nachrufe zu überprüfen, würde ich sagen: Kommt zeitlich ungefähr hin. Womöglich kann ich das bei den nächsten Verlagsgesprächen und Vertragsverhandlungen als Unique Selling Point nutzen.Ich glaub, mein Storyteller kuratiert
Als ich im letzten Jahr begann, im Auftrag der Duden-Redaktion ein Glossar des Grauens zusammenzustellen, schwebte mir dafür zunächst eine essayistische Herangehensweise vor. Nach mehreren Gesprächen mit dem Lektorat kamen wir jedoch überein, dass ein traditionelles Wörterbuchformat mit kurzen, alphabetisch geordneten Einträgen doch die geeignetere Form sei. Nichtsdestotrotz gefällt mir das essayistische Kapitel, das ich bereits probeweise geschrieben hatte, so gut, dass ich es geneigten Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten möchte. Hier kommt es. Unlektoriert, also bitte nicht zu pingelig lesen.
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2013 muss ein schönes, gleichwohl anstrengendes Jahr für die damals 17-jährige neuseeländische Popsängerin Lorde gewesen sein. Ihr Debütalbum Pure Heroine verkaufte sich in aller Welt wie Brause mit Geschmack, dazu gab es noch überwiegend warme Worte von internationalen Pressevertretern, ausführliches Touren war die Folge. So war es verständlich, dass sie nicht bereits ein Jahr darauf ein komplett neues Langspielalbum einsingen wollte. Stattdessen sang sie ein Lied für den Kinofilm Die Tribute von Panem – Mockingjay Teil 1. Weil das so gut geklappt und man sich wohl mit den Filmmusikverantwortlichen bestens verstanden hatte, kuratierte sie, so war überall zu lesen und zu hören, auch den Rest der Platte zum Film.
Seitdem wird überall wie verrückt kuratiert, auch bei mir zu Hause. Morgens kuratiere ich das Frühstück für mich und meine Tochter. Sobald sie im Kindergarten ist, kuratiere ich, welche Arbeit ich erledigen muss, und welche sich aufschieben lässt. Abends vorkuratiere ich eine Auswahl aus mehreren Fernsehprogrammen, und meine Frau endkuratiert dann das, was wir uns tatsächlich anschauen. Am nächsten Tag tausche ich mich mit anderen Fernsehkuratoren über unsere Eindrücke aus.
Wer nichts wird, der kuratiert?
Lorde selbst wollen wir an dieser Stelle keinen Vorwurf machen. Sie wird nicht ins musikindustrielle Büro geschlendert sein und vorgeschlagen haben: „Yo, Plattenfirma, kann ich mal eben voll so eine Platte kuratieren, ey?“ Eher wird die Plattenfirma gebeten haben: „Gnädiges Fräulein Lorde, würden Sie die Güte besitzen, die Musik für den anstehenden Blockbuster nach dem berühmten Kinderbuch, pardon: der Young-Adult-Novel, von Suzanne Collins zu kuratieren?“
Darauf Lorde: „Wie geht denn das, kuratieren? Das habe ich noch nie gemacht.“
„Einfach eine Playlist zusammenstellen aus Liedern, die du gut findest.“
„Au fein, sowas habe ich ja doch schon mal gemacht! Aber warum heißt das denn auf einmal so komisch?“
„Weil es so wichtiger klingt.“
Ein drolliger Zufall: Das komische Wort ist vermutlich genauso alt wie Lorde selbst. Die Neue Zürcher Zeitung konnte das Verb zum ersten Mal 1996 identifizieren, dem Geburtsjahr der Sängerin. Bis 2013 fristete es ein Schattendasein, dann kam es zu einem unkrautartigen Wucherungsschub. Ob Lordes Kuration für diesen verantwortlich zeichnete, oder ob sie nur ein Teil des Problems war, lässt sich nicht feststellen. Sehr wohl feststellen lässt sich hingegen, dass das Nomen, dem das Verb entsprungen ist, aus dem Lateinischen kommt. Die ersten Kuratoren, wörtlich: Pfleger, waren somit alte Römer. Sie waren unter anderem dafür verantwortlich, Straßen und Flüsse sauber zu halten, verdingten sich allerdings auch als Rechtsbeistände und Vormunde. Ein Kurator war also eine Art Mischung aus Müllmann und Anwalt. Erst im 20. Jahrhundert eignete sich das Museumswesen den Begriff an. Bis zum Zeitalter Lorde verstand man unter einem Kurator nun vor allem einen Ausstellungsorganisator von verbriefter Fachkompetenz, wobei verschiedene Branchen dem Wort weiterhin unterschiedliche Bedeutungen zumaßen, meistens nicht weit von den ursprünglichen, juristischen Implikationen entfernt.
2015 mutmaßte der Journalist Wolfgang Michal in seinem Blog, dass die große Verbreitung des neugeschöpften Verbs kuratieren dem Umstand zu verdanken sei, dass Journalisten immer weniger journalistisch und Redaktionen seltener redaktionell arbeiten. Statt eigene Inhalte zu schaffen, werden Netzfundstücke und Agenturmeldungen kompiliert und multipliziert. Seit Jahr und Tag wollen viele junge Leute „irgendwas mit Medien“ machen, wenn sie mal groß sind. Dieses vage Berufsziel scheiterte lange Zeit am realen Arbeitsmarkt: den Irgendwas-mit-Medien-Macher gab es nicht. Jetzt gibt es ihn: Er ist Kurator, und er kuratiert. Animierte Witzbilder, Lieblingslisten, Katzenvideos.
Museumskuratoren sind zurecht pikiert. Müllmänner und Anwälte vermutlich ebenso. Da bleibt die Frage: Kann man das Kuratieren kurieren? Das wissen wahrscheinlich nur die Kuriere.
Apropos pikiert: Unlängst fragte mich ein Kunstmaler, wann es angefangen habe und wann es wieder aufhören möge, dass jeder Einfaltspinsel als Künstler bezeichnet würde, egal ob Schriftsteller, exotischer Tänzer oder Ballontierfalter. Er meinte, der Begriff müsse tatsächlichen Künstlern vorbehalten bleiben, nämlich solchen, die Kunstwerke aus physisch vorhandenen Materialien schaffen, seien es Wasserfarben, Knetmasse oder gefundene Objekte (Luftballons anscheinend nicht). Ich konnte die Kritik nicht ganz nachvollziehen, hatte ich doch selbst nie Probleme damit, mich als Künstler auszugeben. Ich meinte es nie selbsterhöhend, sondern lediglich als wertfreie Abgrenzung zum Handwerker (s.u.). Ein Handwerker schafft etwas Nützliches, ein Künstler allenfalls etwas, das hoffentlich nicht schadet. (Nun mag man dem Himmel dramatisch die Fäuste und das Gesicht entgegenrecken und ausrufen: „Aber ich kann nicht ohne Kunst leben!“ Dazu sage ich: Ich tu’s auch nicht gern, aber im Zweifelsfall lebe ich lieber ohne Sonette als ohne Stühle.)
Dennoch hat mein malender Freund nicht ganz unrecht: Sagen wir doch das, was wir meinen. Nennen wir einen Schriftsteller einen Schriftsteller, einen Ballontierfalter einen Ballontierfalter und einen Kunstmaler einen Kunstmaler. Und falls einem letzteres zu lang ist: gerne einen Künstler. Das sind allerdings lediglich zwei Buchstaben weniger.
Frühwarnung: Bald werden wir alle artisaniert
Ein Blick auf die Marottenentwicklung der englischen Sprache kann Aufschluss über die Marottenentwicklung der deutschen Sprache geben. Auch das sinnentstellte Kuratieren wurde von englischsprachigen Vermarktungsstrategen vorgeplappert („soundtrack album curated by Lorde“), bevor wir es munter in unserer vermeintlich eigenen Sprache nachplapperten. Der nächste Kurator steht schon in den Startlöchern. Es ist der Artisan.
Im anglofonen Raum, vor allem in den USA, steckt man sich dieser Tage kaum noch etwas in den Mund oder ins Wohnzimmer, was nicht von einem artisan gefertigt wurde. Auf eine Artisan-Pizza gehört Artisan-Käse, und beim Verzehr muss man darauf achten, dass keine Artisan-Tomatensoße auf das Artisan-Sofa tropft. Ansonsten muss schnell der ökologisch korrekte, dennoch wirkstarke Artisan-Fleckentferner ran. Das Wort hat französische, italienische sowie lateinische Wurzeln und ist im Deutschen nicht gänzlich unbekannt. Gegen den Trend hat sich hier allerdings die Übersetzung Handwerker durchgesetzt. Zu meiner großen Erleichterung musste ich feststellen, dass Artisan im gedruckten Duden derzeit nicht aufgeführt und in der Online-Version als veraltet ausgebremst wird. Leider ist davon auszugehen, dass das untote Wort schon bald wieder seine fauligen Finger aus dem Grab strecken und fest unsere Gehirne umklammern wird. Bereits jetzt findet man im deutschsprachigen Teil des Internets Artisan-Küchenmaschinen, Artisan-Orientteppiche und Artisan-Mustertapeten, wenn man etwas länger sucht. Diesen Anfängen gilt es zu wehren.
Auch wenn ein Artisan nichts anderes ist als ein Handwerker, so schwingt in dem Begriff nach heutigem Hörverständnis etwas Hehres, Künstlerisches, Elitäres mit. Man hat vermutlich Bilder im Kopf von Männern im Mittelalter (tatsächlich stammt das Wort aus dieser Zeit), die „irgendwas mit Leder“ machen, ohne Schadstoffe und Ausbeutung. Ein anderes englisches Wort fürs Handwerk ist Craft. Da liegt es nahe, dass wir bald alle Artisan-Weißbier trinken, wenn uns das Craftbier nicht mehr schmeckt. Ob das dem Bierbrauer und Buchautor Oliver Wesseloh gefallen wird, weiß ich nicht. Mit dem Begriff Craftbier hat er jedenfalls Probleme, nicht nur in der besonders umstrittenen halbdeutschen Schreibweise, wie er in seinem Buch Bier leben – die neue Braukultur mitteilt. Allzu leicht ließe sich das Schlagwort von finsteren Mächten instrumentalisieren. Er meint damit Großbrauereien, die den griffigen Begriff als bloße Marketingfloskel ihrer industriegefertigten Plörre aufs Etikett stempeln, um dann genüsslich den Preis zu erhöhen. Dabei ist es noch viel schlimmer gekommen: Längst wurde in Supermärkten Craft-Kaffee und Craft-Eistee in der Kunststoffflasche gesichtet. Dennoch möchte mir Wesselohs Gegenvorschlag, das Ganze ‚Kreativbier‘ zu nennen, nicht recht munden. Seit die sogenannte Kreativbranche, also die meist deprimierend unkreative Werbeindustrie, das Wort kreativ gekapert hat, ist es eigentlich nur noch mit sarkastischen Anführungszeichen zu bekommen: „Siehst du diesen bärtigen Glatzkopf in Schwarz mit Hornbrille und Applewatch? Das ist bestimmt ein ‚Kreativer‘.“
Als das Craftbier in Deutschland ankam, war ich erst mal so angetan von der Sache an sich, dass meine Schutzmechanismen gegen blöde Ausdrücke völlig versagten. Mir doch egal, wie das heißt, Hauptsache es schmeckt. Nüchtern betrachtet ist Craftbier wirklich kein tolles Wort. Aber selbst ohne die Werbeassoziation scheint mir ‚Kreativbier‘ zu aufgesetzt. Es scheint außerdem das zu befördern, was am Craftbier irgendwann nervt: Die Jagd nach immer verrückteren Experimentalgebräuen. Hat man sich in seinem neuen Hobby erst mal die Hörner abgestoßen, möchte man zurück zum goldenen Handwerk. Lieber ein richtig gut gemachtes Pils als den nächsten Wasabi-Holunder-Doppelstout. Also einfach eindeutschen als Handwerksbier? Das klingt wieder nach Handwerker, wir werden ihn wohl nicht los. Trinken Handwerker denn überhaupt Craftbier? Vielleicht brauchen wir die Unterscheidung gar nicht und trinken einfach, was uns schmeckt.
Storytelling ist kein Stahltank
Um noch einmal auf den Kunstmaler zurückzukommen (gottlob ohne uns vom Bier zu entfernen), der ganz alleine Künstler sein wollte. Ich bekam eine Ahnung, wie er sich fühlte, als ich Folgendes in einer Bierfachzeitschrift lesen musste:
„Dort Stahltanks zu lagern, wäre schönes Storytelling“, sagt der Brauerei-Chef.
Falsch. Storytelling wäre, zum Beispiel, das: Jemand denkt sich eine Geschichte aus, in der ausgedachte Figuren mit ausgedachten Konflikten konfrontiert werden, wobei die Konflikte im Verlauf der Geschichte aufgelöst werden oder auch nicht und die Figuren im Idealfall eine charakterliche Wandlung durchmachen. Das ist Storytelling. Ist es gut gelungen, ist es schönes Storytelling. Aber Stahltanks im Keller sind nur Metallgefäße im Tiefgeschoss, daran ändert selbst das verschwurbeltste Banaldeutsch der gedoptesten PR-Strategen nichts. Und das Fass davon, dass man statt ‚Storytelling‘ auch ‚Geschichtenerzählen‘ sagen könnte, wollen wir an dieser Stelle gar nicht erst aufmachen.
Noch mehr kreatives Storytelling habe ich für dieses Craftbuch kuratiert:Making of Kawaii Mania: Gegendarstellung
Glücklicherweise fehlt mir momentan die Zeit, die Making-of-Kawaii-Mania-Serie fortzuführen (das heißt nicht, dass sie nie fortgeführt werden würde). Allerdings habe ich gerade eine wichtige Information hereinbekommen, die nicht warten kann.
Mit ernstem Gesicht und Ton nahm mich meine fünfjährige Tochter heute beiseite: „Papa, ich habe mir noch einmal Kawaii Mania angesehen.“ „Das freut mich, Hana.“ „Da ist der Popo-Detektiv drin.“ „Ja, ich weiß. Vielen Dank, den hätte ich ohne dich gar nicht gekannt.“ „Aber der Popo-Detektiv ist nicht niedlich.“ „Nein?“ „Nein.“ Ende des Gesprächs.Making of Kawaii Mania, Folge 2: Kuchen und Kartoffelsalat am laufenden Band
Ich muss gestehen: Ich kenne mich mit Kuchen nicht aus. Meine japanische Frau kennt mehr deutsche Kuchenbezeichnungen als ich. Wie jeder normale Mensch fotografiere ich zwar gerne Süßspeisen, aber mein Appetit in dieser Richtung hält sich in Grenzen.
Da ich kein Mitglied der internationalen Kuchenliebhaberszene bin, war es mir vor meinem Besuch des Maison Able Café Ron Ron in Harajuku nicht bewusst, dass es sich bei dem Lokal nicht etwa um einen Geheimtipp handelte, sondern um einen wohl recht bekannten Pilgerort. Als ich dort gegen 11 Uhr vormittags eintraf, wurde mir gesagt, das Café und die Warteliste seien fürs Erste voll. Ich bekam ein Ticket, das mich berechtigte, mich in zwei Stunden vor dem Eingang in die Schlange zu stellen. Toll, dachte ich, dann kann ich ja vorher noch ordentlich Mittag essen (siehe Folge 1). Genau das war natürlich mein Fehler. Ins Maison Able Café Ron Ron geht man nicht mal eben so nach dem Essen. Ins Maison Able Café Ron Ron geht man, um aus deren Kuchen-Flatrate das bestmögliche Preis-Leistungs-Verhältnis herauszuholen. Männer zahlen im Fließband-Kuchenparadies mehr als Frauen. Als ich das im Vorfeld meiner Frau erzählt hatte, meinte die, dass das den armen, benachteiligten Männern gegenüber ungerecht sei. Iwo, sagte ich, das ginge schon in Ordnung. Schließlich können Männer mehr essen als Frauen. Ich lernte: Generell vielleicht ja. Aber nicht Kuchen. Ich weiß nicht mehr, wie viele der kleinen Dinger ich geschafft habe. Es waren auf jeden Fall weniger als die, die die spindeldürren Mütter und kleinen Kinder, mit denen ich als einziger Mann die Tafel teilte, geschafft haben. Hier bin ich, wie man sieht, beim sechsten:Making of Kawaii Mania, Folge 1: Harajuku
Gerne erinnere ich mich dieser Tage an die total 2019-mäßigen Probleme, die ich im letzten Sommer hatte: Ich konnte einfach keine anständigen Bilder für mein damals im Entstehen begriffenes Buch Kawaii Mania bekommen. Unanständige hätten es auch getan, aber selbst das war schwierig. Offizielle Pressevertreter relevanter Unternehmen konfrontierten mich mit langwierigen Verfahren, komplizierten Antragsformularen, furchteinflößenden Knebelverträgen oder der guten, alten kalten Schulter. Also löste ich das Problem auf total 2019-mäßige Weise: Ich verließ das Haus, stürzte mich ins soziale Gewimmel und knipste selbst. Gleich am ersten Tag ging mir dabei die Kamera kaputt, also machte ich es wie normale Menschen: Ich nahm das Mobiltelefon. Viele der Fotos kamen tatsächlich ins Buch. Etliche nicht. Eine kleine Auswahl der letzteren möchte ich in dieser Serie teilen.
Heute geht es erst mal ins Teenager- und Touristenviertel Harajuku, dort selbstverständlich in die Takeshita Dori.