Das terrestrische japanische Fernsehen zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, dass man sich schnell entschließt, doch lieber mehr Zeit draußen zu verbringen oder mal wieder ein gutes Buch zu lesen. Ein mittelmäßiges würde es auch tun. Oder irgendeins. Oder das Tapetenmuster mal genauer studieren.
Nicht, dass alles schlecht wäre. Dramen, in denen mindestens ein Mord geschieht, sind meistens sehenswert (Dramen, in denen bloß jemand im Krankenhaus liegt, derweil nicht). Und dann gibt es die göttliche Ayako Imoto, für die ich sogar eine Kochsendung ansehen würde. Eine Sportsendung habe ich wegen ihr schon gesehen. Und Tiersendungen, sonst auch nicht mein Metier, sind unvermeidlich, wenn man der Imoto verfallen ist.
Es war Sommer, als ich sie zum ersten Mal sah, und zwar der des letzten Jahres. Beim alljährlichen Wohltätigkeitsfernsehereignis 24H TV ist es Tradition, dass ein Prominenter einen dreifachen Marathon läuft, und diesmal hatte die junge Komikerin Imoto sich gemeldet. Das interessierte mich, weil ich selbst gerade wieder angefangen hatte, ab und an um mein[en] Block zu schnaufen. Sonst guck ich kein[en] Sport, aber da dachte ich mir: Dreifacher Marathon, das will ich sehen. Und: Komikerin, das ist bestimmt lustig. Als ich Ayako Imoto dann sah, dachte ich: Ach, so eine ist das. Ich war enttäuscht. In der westlichen Komik gibt es eine einzige Regel, die unumstößlich ist und keine einzige Ausnahme kennt: Wer sich als Komiker komisch verkleidet und komische Gesichter macht, ist nicht komisch. Ob in Japan die Regel nicht gilt und Imoto trotz ihres albernen Stylings komisch ist, konnte ich erstmal nicht beurteilen. Aber bald stand fest: Fit ist sie. Und willensstark. Und monströs sympathisch. Ich sah sie dann noch häufiger, und es stellte sich heraus, dass sie mich auch zum Lachen bringen konnte.
Ayako Imoto ist eine Art Mischung aus Anke Engelke mit fetten Augenbrauen und Chuck Norris in Schulmädchenuniform. Ihr Ding ist es, in der Welt herumzureisen und sich mit wilden Tieren anzulegen. Meistens endet es damit, dass sie und ihr Kamerateam ganz schnell vor etwas mit Zähnen davonlaufen müssen. Weil das japanische Fernsehen sehr auf sein Recht am Bild pocht, finde ich leider keine regulären Lustigvideos mit ihr in vertretbaren Quellen. Aber meine Obsession begann ja ohnehin beim dreifachen Marathonlaufen, deshalb hier genau das (im Mittelteil gekürzt):
Vorher: Nachher:
Die unter japanischen und japanophilen Teenagern heiß diskutierte Kontroverse ums zweite Video ist freilich: Läuft da was zwischen Ayako Imoto und Boyband-Boy Yuya Tegoshi (gelbes Hemd, scheußliche Frisur)? Ist mir egal! Ich will ja nicht Ayako Imotos Boyfriend sein, ich will Ayako Imoto sein! Schon jetzt rufe ich mir jedesmal beim Traben ihr Gesicht vors geistige Auge, wenn es nicht mehr recht läuft, und es geht weiter. Sie ist mein Idol. Obwohl mir eine japanische Bekannte sagte, ich solle mir Imoto nicht zum Vorbild nehmen, denn sie habe „eine raue Zunge“. Weiß der Teufel, woher meine Bekannte das weiß. Mir egal!
Wenn ich Ayako Imoto wäre, könnte ich endlich mit Tieren arbeiten, schon immer mein großer Traum (fragen Sie nicht, ich wache jedesmal schweißgebadet auf). Außerdem hätte ich mein eigenes Nintendo-DS-Spiel:
Mit spektakulären Boss Fights:
Und weiteres hochwertiges Merchandising:
Leider bin ich nicht Ayako Imoto. Aber ich bin fest entschlossen, meinen Traum zu leben.
Warum man zu Verfolgung jetzt Stalking sagt, weiß ich auch nicht, aber ich werde das jedenfalls machen. Die Band weiß noch nichts davon, aber sie wird es schon noch merken. Sie heißt moja, ich habe sie vergangenen Freitag als eine von drei Vorgruppen bei der Albumveröffentlichungsfeier der Band Molice (sprich: Morris) gesehen. Die kennen Sie ja, ist schließlich Tokios Gitarren-Hüpf-Band der Stunde. Die hier:
Molice selbst haben das auch ganz, ganz toll gemacht an diesem Abend, aber die zu stalken wäre mir schon jetzt zu mainstream.
Gegen die anderen beiden Vorgruppen kann man auch wenig einwenden. Hekireki, die gegen halb sieben undankbar früh (aber in Japan normal) den Abend für eine Handvoll Pünktlicher eröffneten, haben einen jungen Frontmann mit einem derart einschüchternden Charisma, dass man tut, was er sagt. Wenn der sagt mitklatschen, dann klatscht man mit, auch wenn man vereidigter Mitklatschgegner ist. Man fürchtet, er käme sonst nachher noch vorbei und haue einem eine runter. Solch eine Ausstrahlung ist selten geworden. Meistens hat man bestenfalls das Gefühl, dass ein Musiker hinterher was Gemeines über einen twittert, wenn man nicht mitklatscht. Hier könnte ein Star flügge werden, oder ein Fall für die Klapse, aber das muss sich ja nicht ausschließen. Vielleicht studiert er auch zu Ende und wird Buchhalter bei Softbank, kann man nicht wissen.
Sister Paul stellten sich heraus als ein herzlich hart rockendes Duo, das sich optisch irgendwo zwischen Lou Reed und David Bowie in ihrer Transenphase und Robert Smith jahraus, jahrein eingerichtet hat. Rechnet man das mathematisch durch, würde man wohl Visual Kei rauskriegen, kommt aber doch nicht ganz hin. Beim Drummer bin ich mir nach wie vor nicht sicher, ob unter dem Smith-Mopp ein Trommler oder eine Trommlerin steckt. Dass der Mensch mitunter mitgesungen hat, konnte die Entscheidungsfindung erstaunlich wenig beeinflussen. Beim Hauptsänger und Bassisten immerhin bin ich mir trotz zu viel Make-up und Stöckelschuhen sicher, dass es sich um einen Mann handelt. Schließlich trug er obenrum nichts als Hosenträger.
Das war also auch geschmacklich einwandfrei, aber die Band, die ich zum Stalken auserkoren habe, ist moja. Ebenfalls ein Bass/Schlagzeug-Duo, allerdings weitgehend ungeschminkt, deshalb zu erkennen als Mann (Bass und, nun ja, Gesang) und Frau (Schlagzeug). Als moja loslegten, dachte ich spontan: Gähn. Wüstes Gebolze mit Breaks, in denen geschrien wird. Tausendmal gehört, in tausend Jahren. Je nachdem, ob Musiker und Zuhörer dabei Brillen trugen oder nicht, nannte man es mal Jazz, mal Hardcore, heute aber auf jeden Fall: Gähn.
Aber was soll ich sagen? Man darf Lärm nicht nach den ersten Tönen be- bzw. verurteilen. Je wüster gebolzt wurde, desto deutlicher schälte sich ein punktgenauer, kathartischer Krach heraus, den man sich durchaus ein paar Stunden lang dümmlich-selig lächelnd anhören kann.
So lang war der Auftritt leider nicht, andere wollten ja auch noch drankommen. Aber das macht nichts, denn in dem Aktenkoffer voller Handzettel, der einem bei jedem Konzert am Empfang übergeben wird, hatte ich schon den gefunden, der mojas kommende Live-Auftritte vorskizzierte. Tokio ist groß und mit Großraum noch größer, sie werden in den kommenden Wochen noch öfter in anderen Umfeldern hier auftreten, und ich werde ihnen an den Fersen heften. Im Mai spielen sie sogar gleich bei mir um die Ecke. Dann hab ich sie da, wo ich sie haben will.
Ab und an verlassen sie die Stadt auch, aber das muss für mich kein Problem darstellen. Okinawa steht zum Beispiel auf ihrem Spielplan. Ich hatte eh vorgehabt, früher oder später eine Auszeit von meiner Auszeit zu nehmen und entweder den Berg Fuji hinaufzuwatscheln oder auf Okinawa die Füße still zu halten. Fuji hat sich schon erledigt, denn von meiner dicken Jacke ist ein Knopf abgegangen, musste ich wegschmeißen.
Die moja-CD habe ich mir am Freitag nicht gleich gekauft. Zum einen aus Rücksicht auf meine Finanzen, ich war am Vorabend kostspielig mit einem Rapper und zwei Komikerinnen versumpft (gute Geschichte, bekomme ich aber nicht mehr zusammen). Zum anderen kann ich mir die CD ja noch auf Okinawa kaufen. Außerdem ist CDs abspielen gerade so eine Sache. Als einzige Möglichkeit hätte ich einen portablen DVD-Player vom Grabbeltisch, aus dem jede CD wie ein Bootleg klingt. Er geht weder bis 11, noch hat er Dobly. Sabbatical-Monate sind keine Herrenjahre. Moja machen ohnehin nicht unbedingt Musik für Zimmerlautstärke. Obwohl meine Wohnung landesuntypisch großzügig geschnitten ist, so wird doch beim Umfang der Wände das japanische Klischee voll bedient. Wenn draußen einer mit der Plastiktüte raschelt, ist es mit der Mittagsruhe vorbei. Da will ich meiner Nachbarschaft nicht mit sowas kommen:
Bonus Track: I know the way to the Rock Joint GB
Ich habe mir ganz doll auf die Finger gebissen, um nicht noch eine lustige Glosse darüber zu schreiben, wie ich mich in Tokio auf der Suche nach einem Konzertspielort verlaufe. Bei genauerer Überlegung könnte es aber doch hilfreich für die Nutzer dieses Infodienstes sein, wenn ich die Hand wieder aus dem Mund nehme und noch mal in das Thema einsteige. Diesmal geht es in den Rock Joint GB in Kichijoji, einen aufgrund guter Plattenläden, günstiger sonstiger Läden und einer unaufdringlichen Ausländerfreundlichkeit zurecht beliebten Vorort Tokios entlang der ebenfalls zurecht beliebten Chuo-Eisenbahnlinie. Ob das GB im Namen des Rock Joint auf England oder auf die großen vier Buchstaben in der New Yorker Ausgehhistorie anspielt, weiß ich nicht. Auf Grundlage des Veranstaltungsprogramms vermute ich aber Letzteres. Mehr interessierte mich im Vorfeld, wie ich hinkomme. Leider musste es schnell gehen, deshalb habe ich etwas getan, was man keinem erzählen kann, deshalb schreibe ich es im Internet, denn das versendet sich: Ich habe nicht brav die japanische Wegbeschreibung auf der offiziellen Website im Original studiert, sondern sie in den Google-Übersetzer geworfen, um sie ratzfatz in korrektem Deutsch zu haben, damit ich schnell los kann. Dabei kam natürlich ungefähr das heraus:
Sie Bahnhof! Nord linksrechts der Parco rechtslinks ein KUHHORN! Keller 2 Stockwerkchinaküche bitte sehr!
Ich übertreibe natürlich maßlos, um Ihnen ein Lächeln abzuringen. Ganz eindeutig war das reale Ergebnis aber wirklich nicht, und ich habe mich wieder sehr verlaufen. Diesmal allerdings im Gegensatz zum letzten Mal nicht, weil ich zu einfach gedacht hatte, sondern zu kompliziert. Es ist nämlich ganz einfach. Deshalb hier für Ihre Reiseplanung die einzige Wegbeschreibung zum RJGB, die Sie jemals brauchen werden:
Verlassen Sie den Bahnhof Kichijoji durch den Center Exit (auch ‚Nordausgang‘, wenn man Kanji kann und sich profilieren möchte).
Gehen Sie LINKS in Richtung, wo es nach teuren Geschäften aussieht.
Machen Sie einen langen Hals, bis Sie das Kaufhaus Parco (PARCO PARCO PARCO) sehen. Es wird sich im Blickfeld rechts befinden, aber wahrscheinlich noch nicht unmittelbar nach Verlassen des Bahnhofs (es sei denn, Sie haben einen längeren Hals als ich).
Gehen Sie der Nase nach daran vorbei und recken Sie den Hals nach dem Kaufhaus Tokyu, schräg rechts hinter Parco.
Wenn Sie vor Tokyu stehen: Umkreisen Sie das Gebäude in beliebiger Richtung, bis Sie auf der empfundenen RÜCKSEITE des Hauses sind.
Dort ist gleich gegenüber von Tokyu der Rock Joint GB. Schild ist so groß, dass ein Blinder mit Krückstock voll dagegen knallen würde. Treppe runter und rock’n’roll.
Gern geschehen.
Damit konnte keiner rechnen: Die erste geöffnete Kirschblüte im Großraum Tokio wurde erst für morgen offiziell vorausgesagt, aber es blüht jetzt schon ganz ordentlich. Leider hat man davon noch nicht viel, denn das Wetter ist heute schlecht, morgen soll es schlechter werden und übermorgen endlich richtig grausig. Ich kann es aber gar nicht erwarten, der Kirschblüte zu huldigen, deshalb trinke ich heute nur offizielle Kirschblüten-2010-Vermarktungsgetränke. Zum Beispiel dieses Schaumweinlimonadenmischgetränk aus dem Hause Suntory:
Riecht wie Kaugummi. Das ist als kulinarische Faustregel kein gutes Zeichen, wenn etwas kein Kaugummi ist. Ist im Glas sehr sprudelig und einen Hauch rosa, aber in erster Linie klar. Schmeckt spritzig und nur leicht süßlich, keinesfalls penetrant. Beim ersten Schluck ist man positiv überrascht, der zweite bestätigt die Trinkbarkeit, aber beim dritten fragt man sich doch: Muss ich das wirklich austrinken? Allerdings eher aus Langeweile denn aus Ekel, das ist immerhin etwas.
Klar muss ich das austrinken. Solange ich die Füße unter meinen Tisch stelle, trinke ich, was auf den Tisch kommt. Zum Beispiel: Kirschblüten-Wein.
Japan und Wein, immer ein ganz schwieriges Thema. Fast wie Japan und China. Andererseits: Japan und Kirschblüte, immer super Thema. Diese Halbliterflasche hat tatsächlich Kirschblüten unten drin:
Die ersten, die ich dieses Jahr sehe, ohne selbst nass zu werden. Wo haben sie die wohl jetzt schon her? Im letzten Jahr eingefroren? Genetisch herbeigeforscht? Oder einfach aus dem Süden, da war dieses Jahr schon. Oder sie sind gar nicht echt. Aber das in Japan?
Sieht im Glas aus wie der Drink von vorhin, bloß ohne Blasen. Wichtigtuerisch dran geschnuppert: Pflaumiges Aroma. Davon gekostet: Schmeckt auch nach Pflaume, aber trotzdem nicht schlecht. Weniger zum Davonlaufen als die üblichen asiatischen Pflaumengetränke. Allerdings kein bisschen nach Wein. Das Kleingedruckte gelesen: 6% arukoro. Kein Wein, den ich kenne, hat 6%. Schmeckt wie sehr, sehr, sehr stark verdünnter Pflaumenschnaps für den Kindergeburtstag (oder was gab’s auf Ihren Kindergeburtstagen?). Gut, dann kann man ohne schlechtes Gewissen gleich das Bier hinterherkippen:
Wieso habe ich denn gleich einen Sechserträger davon gekauft? Fällt mir jetzt erst auf. Bescheuert. Wehe, das schmeckt nicht.
Sieht im Glas jedenfalls aus wie Bier:
(Mit im Bild: Total süße Bärenfigur, dem Latexkiller aus dem Gewaltkrimi Black Kiss nachempfunden. Hab ich neu.)
Schmeckt genauso wie Suntory Premium Malt’s, wahrscheinlich hat man nur die Packung saisonal redesignt. Gott sei Dank, ist ohnehin mein Lieblingsbier. Dann wird es ja doch noch ein ganz schöner Abend. Nichts sagt ‚Kirschblüte‘ besser als ein Sixpack Suntory Premium Malt‘s. Liebe Entscheiderinnen und Entscheider der ehrenwerten Suntory-Marketing-Abteilung: Falls Sie mal ein neues Testimonial brauchen – ich würde das auch in eine Kamera sagen, mit einer Dose in der Hand, einem Schaumbärtchen im Gesicht und einer Kirschblüte im Haar (Perücke).
Als ich am Sonntag in meinem Münchner Badezimmer beim Zähneputzen auf und ab ging, ertappte ich mich bei dem Gedanken: Oh je, das ist bestimmt auf Monate das letzte Mal, dass ich in einem Badezimmer auf und ab gehen kann. Denn nach dem Zähneputzen geht es ab nach Tokio, und erst ein paar Tuben später wieder zurück. Und wie die Wohnverhältnisse dort aussehen, weiß man ja.
Tatsächlich kann man in meiner Tokioter Wohnung kaum von einem Badezimmer reden, eher von einem dreiteiligen Hygiene-Wellness-Flügel mit Bad, Toilette und Waschbereich getrennt. Dazwischen kann man wunderbar auf und ab gehen, im Rest der Wohnung sowieso. Ich kann mich gar nicht entscheiden, wohin mit meinem ganzen Zeug. Ich werde mir wohl noch mehr Zeug kaufen müssen. Ich habe zwei Zimmer, eines in Blau, eines in Rosa. Das blaue habe ich zum Wohnen und Arbeiten eingerichtet, das in Rosa nutze ich als Schlaf- und Ankleidezimmer. War ja klar, sagt der, der meine farblichen Vorlieben zu kennen glaubt. Ich aber sage: War ja gar nicht klar. Schließlich verbringt man im Wohn- und Arbeitszimmer viel mehr Zeit mit offenen Augen als im Schlafzimmer. Ich hätte lieber den ganzen Tag rosa gesehen und mich blau gebettet. Es begab sich aber leider, dass die Internetsteckdose im blauen Zimmer ist.
Wenn man Gender studiert und mit rosa Schleifchen abgeschlossen hat, kann man am Herd stehen und vor Wut kochen über diesen Sexismus: Der Technikkram wie selbstverständlich im blauen Maskulisten-Zimmer. Und was sollen Mädchen den ganzen Tag tun? Ist im rosa Zimmer etwa das Bügelbrett vorinstalliert? Nein, dort ist der Telefonanschluss.
Für den Palast bezahle ich freilich ungefähr das Dreifache wie für mein vergleichbares Anwesen in Mietschnäppchen-München. Meinen Sie deswegen bitte nicht, bei mir gäbe es was zu holen. Aus genanntem Grund ist genau das Gegenteil der Fall. Sie kommen zu spät.
Mein neuer Nachbar ist ein junger Chinese, glaube ich (d. h., bei ‚junger‘ bin ich mir sicher). Ich sehe ihn nur, wenn er draußen raucht und ich gucke, was denn da draußen jetzt schon wieder los ist. Ich möchte gerne ein authentischer japanischer Nachbar werden, deshalb interessiert mich immer sehr, was denn da draußen jetzt schon wieder los ist. Man sagte mir, japanische Nachbarn überprüften gerne die hinausgestellten Müllsäcke ihrer Nächsten auf korrekte Trennung und telefonierten die Ergebnisse ggf. an den Vermieter weiter. Ich kann es gar nicht erwarten, das erste Mal ganz eigenen Müll hinausstellen zu dürfen. Ich werde mir den Wecker stellen müssen, denn der Müll darf nur zwischen 7 und 8 Uhr morgens am Tag der Abholung hinausgestellt werden. Da bin ich normalerweise nicht auf, ich hab schließlich drei Monate Feierabend. Ich habe außerdem einen coolen Apfelwecker, den Sie nicht haben:
Letztes Jahr spontan in Korea gekauft, jetzt wieder dran erinnert und ausgepackt. Wenn man ihm am Stiel zupft, sagt er mit futuristischer, also Jahr-2000-mäßiger Roboterstimme Zeit und Temperatur an und macht groovy Farben im Anzeigefeld. Für die Müllabfuhr stelle ich ihn gerne. Die japanische Mülltrennung hat einen Ruf als ähnlich kompliziert wie Kimono anziehen. In der Agentur, in der ich meinen Wohnungsschlüssel bekam, nachdem ich 10.000 Dokumente an jeweils mehreren Stellen unterschrieben, eine Schale Tee getrunken und zwei Bonbons gelutscht hatte, wurde mir ein spannendes und informatives Video über das Mülltrennungssystem vorgespielt, während meine ganz reizende Sachbearbeiterin von den unterschriebenen Dokumenten 20.000 Farbfotokopien anfertigte. Zur Sicherheit, falls einer beim Video nicht aufgepasst hat, sind an den Mülleimern in meiner Wohnung auch noch mal ausführliche Anweisungen mit Beispielen angebracht, was wo hinein gehört. Etwas bedenklich ist, dass einige der Beispiele auf den Eimern denen aus dem Video widersprechen. Unterm Strich ist das System aber nach all dem Hype relativ enttäuschend: Es wird im Wesentlichen nur nach Brennbarem und nicht Brennbarem sortiert. Lediglich was was ist, ist dann doch eine rechte Wissenschaft. Schließlich weiß jeder, der mal männliches Kind (vulgo: Junge, landsch.: Bub) war, dass so ziemlich alles brennbar ist, wenn man sich etwas Mühe gibt („und mitunter angezuendet / ganz munter anzuschaun“ – Feurio!, Einstürzende Neubauten). Ich will nicht angeben, aber in Deutschland trenne ich schärfer, wenn auch freiwillig, und meinen Nachbarn ist’s egal, solange ich dabei keine Einstürzende Neubauten Classics aus voller Brust nachsinge. Ich habe mich nämlich entschlossen Gutmensch zu sein, weil Gutmensch zwar nicht toll ist, aber viel besser als Schlechtmensch. Ich sollte mir zum Ziel meines bislang ziellosen Aufenthalts in Tokio machen, das japanische Mülltrennungssystem nötig zu verkomplizieren. Man wird mich noch mehr lieben.
Apropos Nachbarn nah und fern: Eine Japanerin steckte mir einmal, sie wolle nicht in Deutschland leben, weil sie gehört hatte, dass man dort nach 22 Uhr zuhause keinen Löffel mehr aus Versehen fallen lassen darf (okay, das war nur einer von knapp 10.000 Gründen). Im Verhaltensreglement für meine Wohnung in Japan steht aber, dass ich hier bereits ab 21 Uhr nichts mehr unangemeldet fallen lassen darf (okay, das steht da nur sinngemäß, ist auch ein bisschen Interpretationssache). Und trotzdem bin ich hier (okay, hab ich ja nicht vorher gewusst).
ICH habe kein Problem damit. Mal sehen, wie laut mein chinesischer Nachbar nach Neun so raucht. Den hab ich eh auf dem Kieker, diesen Ausländer. Wenn er integrationswillig ist, hat er von mir nichts zu befürchten, da bin ich tolerant. Morgen ist Mülltag. Bin auf Position. Over and out.
Das muss man sich mal vorstellen: Da ist so ein junges Prominentenkindchen, das mit seiner Debüterzählung für viel Medienwirbel sorgt – und dann stellt sich heraus, dass Teile davon Übernahmen aus anderen Werken sind, teils aus dem Printbereich, teils aus Internetquellen.
Die Rede ist natürlich von Nick Simmons, Sohn des beliebten Discofox-Sängers Gene Simmons, und seiner Comic-Serie Incarnate, die jetzt unter dem Verdacht der Montageästhetik steht. Es wurden gewisse Ähnlichkeiten mit der Manga-Serie Bleach und verwandter Fanart entdeckt. In einer ersten Stellungnahme sprach der Künstler von Hommage und Inspiration.
Der Verlag hat Incarnate inzwischen zurückgezogen, nachdem außerdem Zweifel aufkamen, ob das Werk wirklich autobiografisch ist („They cannot die. They feel no pain. They hunger for human flesh. They are Revenants.”).
Bild ohne freundliche Genehmigung von Bleachnessgeklaut inspiriert (Hommage meinerseits).