Vor ein paar Jahren unternahm ich eine Bildungsreise durch die Biermuseen Japans. Wie es sich gehört, kaufte ich dabei in den Museumsandenkenläden mehrere Postkartensets mit nostalgischen Motiven aus der Bierplakatreklame. Auf den meisten Karten war ein Bier in einer Flasche oder einem Glas und ein Mensch abgebildet, mal ein Mann, mal eine Frau. Lebenserfahrung zeigt, dass Frauen und Bier immer eine gute Kombination sind, während Männer und Bier schnell langweilig wird. Zu Hause also wanderten die Karten mit Frau/Bier-Abbildungen an die Wand, die Männer-Postkarten in eine ‚Zeug-das-ich-später-mal-wegschmeiße‘-Schublade, in der noch Platz war. Ich nahm mir allerdings fest vor, die Männerpostkarten vielleicht einmal als Lesezeichen zu verwenden, damit sie sich nicht ganz so nutzlos vorkommen, wie sie sind.
Leider eignen sich Postkarten in Größe und Konsistenz selten als Lesezeichen. Man braucht schon ein Buch, das was aushält. Wie zum Beispiel Role Models, John Waters‘ jüngst erschienenes, längst überfälliges Newsupdate zum War on Taste. Zur Markierung meines Lesefortschritts wählte ich durch Zufall diese Postkarte: Ein Motiv, das bei der ersten Begutachtung überhaupt nicht zu mir gesprochen hatte. Was sagt dieses Bild? Dicke Männer trinken gerne Bier. Was für ein Unsinn! Ich schaue auch Werbung, daher weiß ich, dass nur gut gebaute, charismatische Haudegen gerne Bier trinken. Männer wie du und ich. Nun war es in letzter Zeit sehr heiß, da liest man nur in kurzen Schüben. Ständig ging die Karte rein und raus, und je öfter ich sie dabei betrachtete, desto mehr freundete ich mich mit ihr an. Eigentlich sieht der Typ doch ganz sympathisch aus. Zu viel Lippenstift hin oder her, sein Lächeln wirkt aufrichtig und einladend. Seine Frisur und sein Schnauzer mögen für sich etwas komisch aussehen, aber sie passen gut zur Gesamterscheinung. Und so dick ist er auch wieder nicht, genau betrachtet. Das Bild kommuniziert freilich nicht nur, dass der gar-nicht-so-dicke Mann gerne Bier trinkt, sondern auch mit Erfolg Golf spielt, die schönste Sportart der Welt. Sturzlangweilig anzuschauen und modisch völlig inakzeptabel (wie allerdings jede Sportart außer Eiskunstlauf), in der Ausübung aber ein Fest für Körper, Geist und Seele. Zu dumm (und komplett unverständlich), dass ausschließlich Schwachköpfe Golf spielen, sonst wäre ich sofort dabei. Vielleicht könnte man die Gebühren und Ausrüstung teurer machen, damit nicht mehr jeder Hans und Franz auf den Platz kommt. Der Mann auf der Postkarte ist bestimmt kein Schwachkopf, das spüre ich. Das schönste Detail des Bildes ist rechts unten: Da steht noch ein Bier auf dem Tisch. Es lädt ein, sich zu dem Mann zu setzen, und mit ihm auf seinen frisch gewonnenen Pokal anzustoßen. Eine Bierwerbung kann ein Freund sein, und diese ist mir einer geworden. Ich habe Mr. Waters‘ Buch längst ausgelesen und verwende ein Lesezeichen niemals für mehr als ein Buch (ein nervöser Tick), aber diese Postkarte ist mir dennoch zum ständigen Begleiter geworden. Sie liegt auf meinem heimischen Schreibtisch, wenn ich daheim bin. Gehe ich aufs Amt, packe ich die Karte so selbstverständlich ein wie das Butterbrot und lege sie auch dort auf meinen Schreibtisch. All die Jahre wurde mir nachgesagt, in erster Linie von mir selbst, ich hätte eine Schwäche für japanische Frauen. Aber jetzt weiß ich, ich habe mir und der Welt nur etwas vorgemacht, eine Lüge gelebt, ein richtiges Leben im falschen versucht, was es bekanntlich nicht geben kann. Ich muss feststellen: Ich habe in Wirklichkeit eine Schwäche für japanische Männer. Zumindest für die aus der Bierwerbung. Verblüffend ist die Erkenntnis nicht. Schließlich berichtete schon der neunundneunzigmalkluge Jeffrey Eugenides in seinem 2002er Saisonbestseller Middlesex davon, dass der Hang zu asiatischen Frauen beim Manne nur das Vorzeichen einer noch nicht diagnostizierten Homosexualität sei, weil diese Asiatinnen ja alle so knabenhafte Körper haben. Haben Sie das gewusst, liebe asiatische Ehefrauen? Erstens, Sie sehen gar nicht aus wie Frauen. Zweitens, Ihr Mann ist schwul. Ich hatte das vorher auch nicht gewusst. Ich hatte ja noch nicht mal gewusst, dass Knabenliebe und Homosexualität jetzt doch dasselbe ist. Ich hatte angenommen, die Theorie gälte als überholt, seit Menschen in weiten Teilen der Welt nicht mehr öffentlich verbrannt werden, wenn sie sagen, dass sich vielleicht die Erde um die Sonne dreht. Aber ich muss mich geirrt haben, Dr. Eugenides wird es schon wissen. Keine Ahnung, ob er einen Doktortitel hat, aber bestimmt, soviel wie er weiß. Ich jedenfalls habe sofort gesucht, ob ich noch mehr der einst verschmähten Männerpostkarten wiederfinde. Leider fand ich nur eine, die hier: Auch eine sympathische Type, ein Lebemann, der weiß, was das Leben lebenswert macht. Aber wo schaut der denn da hin?! Andererseits, ich kann ihn verstehen, wenn ich sie mir so ansehe, mit ihren knabenhaften Körpern und rauen, männlichen Posen … Aber nein, ich darf mich da nicht reinsteigern. Das wäre ein Rückschritt in meiner menschlichen und männlichen Entwicklung. Ich war doch schon weiter. Ich bin so verwirrt, weiß nicht mehr, wo ich hingehöre. Schuld ist die Werbung. Und Jeffrey Eugenides. Und Ayako Imoto.Archiv für den Monat Juli 2010
Die Nachrichten: Das Manifest
Ich hatte die Güte und die Ehre zwei neue DVDs für Das Manifest zu besprechen. Darauf zu sehen waren der thailändische Agentinnenfilm Final Target (ich rate dringend ab) und die südkoreanische Romkom My Sassy Girl (ich rate halbherzig zu).
Update 12. 8. 2010 Ich pack das mal noch hier mit rein: Für The Sniper, Porno-Edes vorerst letzten Film, habe ich auch ein Gutachten geschrieben.Knack und Baku
Seit Jahren fragt man mich entgeistert: „Wie können Sie nachts überhaupt noch schlafen?!“ Man ist besorgt um mich, weil ich nicht von den Gruselfilmen lassen mag. Meine Antwort war lange Zeit jugendlich unbekümmert: „Och, ich baller mir einfach jeden Abend sowas von die Birne zu, dass ich eh nichts mehr mitkrieg.“
Jetzt sind aber Alkoholkranke nur solange total süß, wie sie klein sind. Da hauen sie mit lässig fahrigen Gesten, sexy Nuscheln, keckem Grinsen und funkelnden Augen ein Bonmot nach dem anderen raus, vor allem in ihrer eigenen Vorstellung, und es ist drollig, ihnen dabei zuzusehen. Wenn sie aber groß werden, haben sie nur noch schlechte Haut und fahlen Blick, man wendet sich lieber ab. Von Jennifer Jason Leigh als Dorothy Parker zu dem einsamen Typen mit der Knollennase, den man hin und wieder an der Tanke trifft, ist es ein sehr kurzer Weg.
Wie gut, dass ich nicht mehr so viel trinken muss, ich habe ja jetzt Baku (Abbildung oben). Nur eines aus Stoff, aber es wirkt. Ich bekam es neulich in Tokio von einer guten Seele anlässlich eines vorläufigen Abschieds geschenkt. Es handelt sich beim Baku um ein mythisches Wesen der chinesischen und japanischen Folklore, das böse Träume frisst. Es wird oft in der Form eines Tapirs dargestellt. So eins hab ich. Was ein Tapir frisst, weiß ich nicht. Steht aber bestimmt auf Wikipedia.
Das Baku ist mein neues Krafttier, seit mein Wellensittich den Löffel abgegeben und ins Gras gebissen hat. Es wohnt tief in meiner inneren Höhle. Wenn es dort zu dunkel wird, geht das große Fressen los, und ich kann wieder was sehen.
Auch eine Lösung: Einfach nur Filme schauen, von denen man böse Träume gar nicht erst bekommt, sondern nur wunderschöne. Die Filme des Regisseurs Satoshi Miki sind da eine sichere Bank. Gerade reinbekommen: Instant Swamp.
Läuft schon länger in meiner Höhle, aber das ist ja keine Schande: Turtles Are Surprisingly Fast Swimmers. Wer diesen Film schaut, muss sich leider drauf einstellen, dass er lebenslänglich nicht mehr um eine Ecke oder in einen Schrank schauen kann, ohne „Hwä Hwä Hwä Hwä Hwäää“ zu machen. Das geht nicht wieder weg. Ist es aber wert.
Ich leg mich wieder hin.
Hello Kitty darf nicht sterben
Ich wunderte mich einmal sehr, als eine befreundete Autorin für ein Magazin sehr sachlich eine DVD besprach, deren äußerst infantiler Inhalt im Wesentlichen darin bestand, dass die Filmemacher auf möglichst brutale Weise Teddybären vernichteten. Ich kannte die Autorin als eine Liebhaberin und Bewahrerin von Teddybären, daher meine Verwunderung. Sie aber erläuterte mir, dass sie sich mit einer buddhistisch korrekten Geisteshaltung auch in diesem Zusammenhang an den kleinen Rackern erfreuen könne.
Wenn die das kann, dann kann ich auch ein Buch mit dem entsetzlichen Titel Hello Kitty Must Die lesen. Es handelt sich um den Debütroman der Amerikanerin Angela S. Choi, der bald auch auf Deutsch erscheint. Choi erzählt von der jungen Anwältin Fiona, die schwer unter ihrer chinesisch verwurzelten Familie zu leiden hat, und darunter, dass sie, Fiona, kein Jungfernhäutchen hat. Das entdeckt sie, als sie sich am Anfang des Romans mithilfe eines Artikels aus dem Ehehygienefachgeschäft selbst entjungfern möchte. Bestürzt rennt sie zum Chirurgen, um sich ein Häutchen einsetzen zu lassen. Der Arzt entpuppt sich als ein ehemaliger Schulkamerad, der seinerzeit von der Schule flog, weil er gerne Leute anzündete. Es ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
So weit, so pfiffig. Es könnte der Beginn eines wunderbaren Romans sein, wenn nicht alles von Anfang an so ermattend unpfiffig geschrieben wäre. Angela S. Choi wird häufig mit Chuck Palahniuk verglichen, hauptsächlich wohl, weil es so auf dem Buchumschlag steht, und der Mensch plappert gerne nach, was schon mal ein anderer Mensch geplappert hat. Mittlerweile ist ein Palahniuk-Vergleich freilich einer, bei dem man sich nicht sicher sein kann, ob er schmeichelhaft oder gehässig gemeint ist. Aber selbst wenn der Name des putzigen Nullerjahrekultautoren inzwischen einiges an Strahlkraft eingebüßt hat, so muss man Palahniuk doch eines lassen: Er hat eine ganz eigene Stimme. Sie mag einem irgendwann auf den Geist gehen, aber sie ist unverwechselbar, in guten wie in schlechten Zeiten. Choi hingegen schreibt im Duktus generischer Chick Lit (nicht Chuck Lit, höhö, Verzeihung). Ihre Ich-Erzählerin soll eine geistreich-sarkastische Beobachterin sein, ist aber bloß ein geistloser Jammerlappen, der sich aus einem Plattitüdenreservoir von unvorstellbaren Ausmaßen vollsaugt. Später gibt es in der Handlung wohl noch Serienmord und Nachtleben, wie in jedem Debütroman, aber so weit bin ich nicht gekommen. Auf Seite 50 dachte ich mir: Das Kapitel noch, dann wieder ein gutes Buch. Gottlob ging das Kapitel nur bis Seite 52.
Viele Menschen brüsten sich damit, jedes Buch, das sie zu lesen beginnen, auch zu Ende zu bringen. Meistens sind das Menschen, die sich um ihr Geld selbst dann noch Gedanken machen, wenn es schon ausgegeben ist. Dann lautet die irrationale Argumentation: Ich hab das bezahlt, also lese ich es auch. Mir kommt diese doppelte Bestrafung nicht in die Tüte. Das Geld mag verloren sein, aber die Zeit kann ich noch retten.
Mit dem thematischen Kreisen ums Töten und Ausgehen in Kalifornien scheint man eher bei Bret Easton Ellis als bei Chuck Palahniuk. Man muss aber nur einen Blick in den neuen Ellis werfen, um zu verstehen, warum man doch ganz woanders ist. Inzwischen gilt zwar als gesichert, dass es sich bei Imperial Bedrooms nicht um den größten Wurf des Autoren handelt, aber er ist dennoch ein exzellentes Beispiel für das, was dabei herauskommt, wenn ein ernsthafter Schriftsteller hoch konzentriert das tut, was er besonders gut kann. Das ist ein Rhythmus, bei dem man mitmuss, da stimmt jedes Bild, da steckt hinter jedem kleinen Fehler eine große Absicht. Das hätte kein Imitator so schreiben können, auch wenn sich seit 20 Jahren jeder zweite Nachwuchsautor für den neuen Bret Easton Ellis hält.
Angela S. Choi dankt in ihrem Buch u. a. ihrem ‚Creative Writing Coach‘. Ich habe dieser Creative-Writing-Chose nie getraut. Wahrscheinlich wird man dabei gecoacht, so viel wie möglich so wenig kreativ wie möglich zu schreiben, damit man so klingt wie jeder andere, der schonmal ein Buch verkauft hat. Das ist näher bei Kerstin Gier als bei Chuck Palahniuk oder Bret Easton Ellis. Meinetwegen ist das Kerstin Gier mit einer Kettensäge, aber Kettensäge ist in diesem Fall leider auch keine Lösung.
Ach, der Kerstin-Gier-Vergleich tut mir schon wieder leid. Die Gier und ihre Vermarkter führen zumindest niemanden an der Nase herum. Wer einen Gier in die Hand nimmt, tut dies nicht, weil er erwartet, das Buch könnte jede Sekunde für den Preis der Leipziger Buchmesse shortlisted werden. Der amerikanische und der deutsche Verlag von Choi tun aber so, als handele es sich um kapitale LITERATUR.
Es müsste einen geben, der mit dem Zeigefinger hoch in der Luft herumschlägt und mit einem feucht lispelnden Quaken ruft: „Das ist keine Literatur!“ Gibt es aber nicht. Muss man selbst machen.
Jetzt bitte nicht das ewige Chick-Lit-Argument, dass das alles eben nicht für Männer gedacht und gemacht wäre. Man nenne mich hoffnungslos progressiv, aber ich weigere mich zu glauben, dass Frauen schon genetisch das literarische Urteilsvermögen fehlt. Es wird Frauen geben, die sich von der Fließband-Frauenliteratur um Schuhe, Sex, Shopping und Serienmord mehr beleidigt als angesprochen fühlen. Ich bin mir ganz sicher, irgendwo gibt es sie. Mein ewiges Mantra.
Zum kritischen Hello-Kitty-Diskurs hat der Roman übrigens wenig Neues beizutragen. Es wird der alte Hut aus dem Schrank geholt, dass Kitty-chan konteremanzipatorisch sei, weil sie keinen Mund habe und somit keine Parolen rufen könne. Choi fügt dem hinzu, dass man ohne Mund auch anderen Aktivitäten nicht nachgehen kann, aber dies ist ein familienfreundlicher Blog. Ich halte dagegen: In einer Gesellschaft, in der niemals niemand nicht aufhört zu schnattern, ist Kitty ein liebenswert unangepasster Freigeist, eine echte Rebellin. Sie kann sich auch ohne Verbaldurchfall verständlich machen, sie ist eine Meisterin der nonverbalen Kommunikation. Ein Blick von ihr oder auf sie sagt alles. Wie jede echte Rebellin bringt Hello Kitty das Establishment verlässlich zur Verzweiflung. Die gleichgeschalteten Schäfchen der Generation Slipknot kann man kaum besser verstören als mit Kittys radikaler und kompromissloser Niedlichkeit. Die Kleine hat es faustdick hinter den Öhrchen. Lang lebe Hello Kitty.
P.S.: Ja, ich habe schon verstanden, dass die Hello Kitty im Roman nicht nur die japanische Stilikone meint, sondern auch den amerikanischen Slang-Ausdruck für fügsame Mausemädchen asiatischer Herkunft. Hat mir und dem Roman aber nicht geholfen.