Neulich erwähnte einer mir gegenüber die Musik-Neuerscheinung André Rieu Celebrates Abba, daraufhin sagte ich: „Ich warte lieber auf André Rieu Celebrates Velvet Underground“, und zwei Tage später war Lou Reed tot.
Das haben Sie ja fein hingekriegt, Herr Rieu. Ich bin höchstwahrscheinlich um 1986 Lou-Reed-Fan geworden, weil ich fand, dass er auf dem Cover des Albums Mistrial so cool aussah. Später lernte ich auch die Musik und vor allem die Texte zu schätzen, und dieser nasale Singsang-Ton wurde mir ein akustisches Zuhause. Ich nahm mir fest vor, auch rauschgiftsüchtig, kaputt, gemein und brillant zu werden, wenn ich mal groß bin, habe mich aber dann doch nicht getraut. Die letzten Jahre waren kreativ (wohl auch gesundheitlich) nicht Reeds glanzvollsten, mein letztes Konzert im letzten Jahr habe ich eher wie einen Pflichtbesuch bei lästigen Verwandten denn wie eine Wallfahrt absolviert. Nur dass ich Mama dabei nicht fragen musste, ob ich früher gehen kann, sondern mir die Freiheit einfach rausnehmen konnte. Reeds Gesamtwerk ist zwar so groß und stabil, dass nicht mal er selbst es zerstören konnte. Da er sich aber zuletzt so fleißig genau darum bemüht hatte, fühlte ich mich am Sonntag, als die Nachricht von seinem Tod eintrudelte, davon im ersten Moment nicht stärker tangiert als von anderen Todesmeldungen aus dem Prominentenbereich. Mein erster Reflex war der in diesem Fall übliche: Es schnell jemandem weitererzählen, bevor Twitter es tut, und am besten noch einen flapsigen Witz machen zum Beweis, was für ein toller Hecht man ist, von dem alles abperlt, wie Süßwasser von den glänzenden Schuppen des gemeinen Esox lucius. Als ich es dann allerdings der nächstgreifbaren Person weitererzählt hatte, erntete ich nur ein freundliches Lächeln und die Worte: „Wirklich? Oh, das ist aber schön!“ Da merkte ich erst, dass ich unter Schock stand und wirres Zeug redete. Ich wollte sagen: „Lou Reed ist tot!“, es kam aber als etwas völlig Unverständliches heraus. Etwas, auf das man nur mit inhaltsleeren Beruhigungsphrasen reagieren konnte, in der Hoffnung den Patienten nicht noch mehr aufzuregen. Ich erinnerte mich plötzlich an einen hysterischen Telefonanruf aus dem Oktober 1988, als meine Großmutter durch die Leitung rief: „Der Strauß ist tot! Der Strauß ist tot!“, und wir dachten, es gäbe ein Problem bei der Begrünung ihres Vorgartens. Es wäre an dieser Stelle müßig, die musikalischen Meisterleistungen und Verfehlungen Reeds durchzubuchstabieren, das wird schon an allen anderen Stellen von allen anderen gemacht (meistens falsch und ohne den Mumm, den spießbürgerlichen Transformer-Berlin-New-York-Kanon loszulassen). Es sei nur gesagt, dass Ecstasy, sein letztes richtiges Album (also Kollaborationen, Kompilationen, Theaterarbeiten, Soundtracks, Live-Aufnahmen und Meditationsgedudel nicht mitgerechnet), ganz ordentlich war. Ist zwar auch schon wieder 13 Jahre her, aber was sind schon 13 Jahre im schildkrötenartig dahinschlurfenden Musikgeschäft? Besonders angetan hatte es mir bereits bei Albumerscheinen das Lied ‚Modern Dance‘, in dem Altersmilde und Schlitzohrigkeit Hand in Hand einen gemütlichen Herbstspaziergang unternehmen (nicht on the wild side, zum Glück). Genau so möchte ich Lou Reed in Erinnerung behalten. Im Hähnchenkostüm. Nicht fehlen darf in einer anständigen Würdigung Lou Reeds das oberlehrerhafte Zurechtweisen der niederen Gelegenheitshörer. Meistens geschieht das durch einen aufgeregten Hinweis zu einem seiner ursprünglich schönsten Lieder, das inzwischen leider für diverse gute Zwecke bonoisiert wurde: „Wusstest du schon, dass ‚Perfect Day‘ in Wirklichkeit von … von … von … HEROIN handelt?!“ Ganz ehrlich, damit könnte man so gut wie jedem Reed-Song kommen. Deshalb hier ein weniger bekannter Fakt, der bislang in allen Liner Notes unterschlagen wurde: Wussten Sie schon, dass ‚Heroin‘ in Wirklichkeit von HIMBEEREIS MIT SAHNE handelt?! Noch ein Oktobertoter, zu dem ich ein sentimentales Verhältnis habe, wenn auch nur um ein paar Ecken: Takashi Yanase, der Erfinder der Comic-Figur Anpanman, ist im Alter von 94 Jahren gestorben. Sagte mir lange Zeit auch nichts. Im Frühjahr 2010 allerdings hatte ich mir ein Blind Date mit einer jungen Dame eingehandelt, die sich nach Damenmanier zierte, meine Blindheit vor dem Treffen durch die Übersendung von konkreten Bildinformationen zu heilen. Stattdessen kurbelte sie die Bilderproduktion in meinem Kopf an, indem sie mir mitteilte: „Man erzählt sich, ich sehe aus wie eine Mischung aus Betty Lou aus der Sesamstraße und Anpanman.“ Eine Internet-Recherche ergab, dass ich mich auf so etwas einstellen durfte: Dank dieser Beschreibung habe ich die Dame am Tag der Verabredung leicht ausfindig machen können und knapp drei Jahre später geheiratet. Während der Phase des Hofierens bin ich sogar heimlich bis nach Yokohama gegangen, um aus dem dortigen Anpanman-Land zuneigungsförderndes Naschwerk mitzubringen. Hier Impressionen meiner Reise: Anpanman ist ein Superheld, dessen Kopf aus Brot (jap.: pan) mit Bohnenquarkfüllung (jap.: an) besteht. Wenn ein Kind Hunger hat, kann es ein Stück von Anpanmans Kopf abbeißen. Bei zu großem Gesichtsverlust backt der Bäcker, der Anpanmans Komplize ist, schnell einen neuen Kopf. Als 1973 das erste Anpanman-Buch erschien, waren Verleger und selbst Yanase wenig überzeugt, ob das Ganze so eine gute Idee war. War es aber, Anpanman gilt heute als markenwertvollste Cartoon-Figur Japans. Der Tod seines Erfinders war wochenlang Dauerthema auf allen Kanälen. Man konnte meinen, da wäre Lou Reed gestorben. Bestimmt gibt es auch ein Anpanman-Land über den Wolken. Dort können Lou Reed und Takashi Yanase nun gemeinsam vom großen Bohnenquarkbrot essen und neue Musik komponieren (Yanase war ein fast noch bekannterer Komponist als Comic-Auteur). Ich glaube, ich kann sie schon singen hören: … but he never lost his head / even when he was giving bread!