Weil wir dem Kinde vor der Bahnfahrt in den Urlaub etwas ganz Besonderes bieten wollten, kehrten wir zum Frühstück in ein McDonald’s-Schnellrestaurant ein. Japan ist zwar ein McDonald’s-Land, aber kein Frühstücksland, so war die Filiale am Bahnhof Meguro am frühen Sonntagmorgen nur mäßig gefüllt. Bei der Platzwahl entschieden wir uns für eine Ecke einer langen Tafel im zweiten von drei großzügig bemessenen Stockwerken. An der Tafelecke schräg gegenüber von unserer saßen zwei Frauen im besten Alter, also ungefähr in meinem. Sie mögen Freundinnen gewesen sein, denn ihr Ton und ihre Haltung sprachen von einer gewissen Vertrautheit miteinander. Eine trug eine schwarze Lederjacke mit vielen kleinen Reißverschlüssen, die andere etwas Altersangemesseneres. Wovon sie sprachen, war nicht zu verstehen, denn sie unterhielten sich in angenehmer japanischer Zimmerlautstärke. Vielleicht versuchten auch sie, wie zuvor ergebnislos wir, den Unterschied zwischen Hotcakes und Pancakes zu erörtern. Der Mann an der Kasse hatte uns auf Anfrage mitgeteilt, dass es einen gäbe. Diese Frage allein schien ihn allerdings bereits derart aufgewühlt zu haben, dass wir das Thema nicht noch vertiefen wollten.
Als die Freundinnen an unserer Tafel ihre Hotcakes oder Pancakes verspeist hatten, beendeten sie ihr Gespräch, blieben aber noch sitzen. Die in der Lederjacke holte ein Handtuch aus ihrer Handtasche hervor, das sie vor sich auf der Tischplatte sorgsam mehrfach faltete. Am Ende des Faltvorgangs prüfte sie die Weichheit der Konstruktion mit dem Finger. Nicht ganz zufrieden mit dem Ergebnis nahm sie ihren Schal vom Hals, faltete ihn in gleicher Manier und legte ihn auf das Tuch. Dann bettete sie ihr Haupt zum Schlafe, und zwar mit einem Gesichtsausdruck, als hätte sie sich das ganze Wochenende auf diesen Moment gefreut. Ihre Begleitung nahm einen Stapel Formulare und eine Handvoll verschiedenfarbiger Stifte aus ihrer Tasche und machte sich in aller Seelenruhe ans Ausfüllen der Papiere. Meine Frau spürte meine Verzückung und sagte: „Mach bitte kein Foto.“ Außerdem sagte sie: „Wenn du etwas über die japanische Kultur erfahren möchtest, gibt es wirklich keinen besseren Ort als McDonald’s. Hier kommt jeder hin, vom Baby bis zum Opa.“ Da sagte sie was. Genau diesen Eindruck hatte ich bereits bei meinem allerersten Aufenthalt in Japan 1999 gehabt, als ich aufgrund gewisser Unsicherheiten weit mehr Mahlzeiten in solchen Lokalen zu mir nahm, als ich jemals öffentlich zugegeben habe. Es zwanzig Jahre später von einer Einheimischen bestätigt zu bekommen, schließt einen Kreis und eine alte Wunde. Eine Zugfahrt später hatten wir schon wieder Hunger. Weil wir außerdem einen dringenden Termin im Spaßbad hatten, entschieden wir uns für das erstbeste rustikale Nudelsuppenlokal am Bahnhof Hakone-Yumoto. Bald summte eine Fliege über unserem Tisch, was Frau und Kind zu energischem, anhaltenden Fuchteln veranlasste. Schließlich sprach ich ein Machtwort: „Familie, dieses Gewedel stört mehr als das Tier. Akzeptiert einfach, dass die Fliege hier ist. Sie ist so authentisch wie das Lokal.“ Das überzeugte niemanden, zumindest nicht komplett. Immerhin wurde mir zuliebe ein kleines bisschen weniger gefuchtelt. Nach einer Weile trat die schon etwas betagte Bedienung wortlos an unseren Tisch, klatschte in die Hände und entfernte sich wieder, weiterhin wortlos, mit der nun toten Fliege. Nach Entsorgung des Leichnams ging das Muttchen zu unserem Nachbartisch und vermeldete: „Ist erledigt.“ Der Nachbartisch hatte sich offenbar beschwert. Ob über die Fliege oder über das Gefuchtel, weiß ich nicht. Ich habe aber meine Vermutung, und meine Frau hat ihre.Archiv für den Monat Oktober 2019
Ich bin der Fernsehflorist
Hätte mein Blog zwei Leser, könnte ich mir folgendes Gespräch vorstellen:
Leser 1: „Schon gesehen, Leser 2? Auf Shakira Kurosawa gibt es einen neuen Beitrag.“ Leser 2: „Echt jetzt, Leser 1? Na, meine Neugier hält sich in Grenzen. Ist wahrscheinlich wieder nur so ein apologetisches Geflenne, warum der Typ so selten in seinen Blog schreibt. Hat zu viel zu tun, blabla, schließlich erscheint sein neues Buch Kawaii Mania bald für 19 Euro 95 im Conbook Verlag, blabla, und im Frühjahr kommt schon wieder was, blablabla …“ „Hm, tja, ein bisschen so ist der Beitrag durchaus. Aber gleichzeitig vieles mehr. Eine Geschichte von Liebe und Verrat, von Rache und Drachen, Würfelspielen und Schwertkämpfen, waghalsigen Fluchten und dramatischen Konfrontationen, verloren Söhnen, schönen Prinzessinnen, gefährlichen Piraten und einem Mann mit sechs Fingern.“ „Ach, der Ärmste. Jeweils drei Finger rechts und links? Oder vier und zwei? Oder …“ „Nein, nein. Ich hätte es anders formulieren sollen. Sechs Finger an einer Hand, die andere ganz normal, also fünf.“ „Gibt es in dem Beitrag wirklich einen elffingerigen Mann?“ „Ehrlich gesagt nein.“ „Und die anderen Sachen auch nicht, oder?“ „Nein, da muss die Euphorie mit mir durchgegangen sein.“ „Ich werd’s wohl trotzdem lesen.“ „Gleich nach der Reklameeinblendung geht’s los.“