Wie mir einmal Steve Strange kein Autogramm gab und ich mit Nazi-Jürgen zu entarteter Musik tanzte

Zu den großen Enttäuschungen meiner Kindheit gehört, dass Steve Strange, der Sänger der Band Visage, keine Notiz von mir nahm. Umgekehrt sah das ganz anders aus. Einmal hatte ich genug Geld gespart, um einen selbstadressierten, ausreichend frankierten Briefumschlag an die deutsche Vertretung der Plattenfirma von Visage zu schicken, mit der Bitte um ein Autogramm, die Adresse hatte ich aus der Jugendillustrierten Bravo. Wochen, die sich wie Monate anfühlten, später kam tatsächlich Post, tatsächlich mit einer Autogrammkarte von Steve Strange. Sozusagen. Ich mag heute nicht das cleverste Bürschchen sein und war es damals erst recht nicht, doch schon damals durchschaute ich, dass es sich um lieblosen Schmu handelte. Die Unterschrift war in einem vollkommen unnatürlichen Blau auf das Bild gedruckt, ebenso wenig handgeschrieben wie das Bild handgemalt war. Es handelte sich noch nicht mal um ein anständiges Fotos, sondern um eine Reproduktion des Covermotivs der Single Fade to Grey, des größten Hits der Band (nicht des einzigen, fühle ich mich noch heute genötigt zu ergänzen, um die Gruppe vor Spöttern zu verteidigen).

In derselben Lebensphase hatte ich auf gleichem Wege eine Autogrammkarte der Rockabilly-Showband Stray Cats angefordert, die zwar eine andere Musik als Visage spielte, aber nur unwesentlich weniger Make-up auftrug. Dieser Antrag wurde zu meiner vollsten Zufriedenheit bearbeitet. Ich bekam ein ehrliches Arbeiterklassefoto der drei Musiker mit Motorrad und glamourös-verdreckter Straßenkulisse, auf dem offensichtlich jemand handschriftlich unterschrieben hatte. Ob es wirklich Brian Setzer, Lee Rocker und Slim Jim Phantom gewesen waren, die sich für mich Zeit genommen hatten, oder nur ihre Sekretärin, wie meine zynischen Eltern mutmaßten, ist natürlich schwierig nachzuweisen.

Ich frage mich, was die Sekretärin der Stray Cats heute macht. Ich weiß immerhin, wie ich sie mir vorstelle, zu ihrer aktiven Zeit. Sie trägt Petticoat und Pferdeschwanz, und wenn sie ihre Hornbrille abnimmt, ist sie plötzlich unglaublich sexy. Allerdings, was sie gar nicht weiß: mit der Brille ist sie noch viel sexier.

Als die Jahre ins Land gingen und die Stray-Cats-Unterschriften immer mehr verblassten, zog ich sie mit dem Kugelschreiber eigenhändig nach. Und das ist der Grund, aus dem ich die Episode überhaupt erwähne: ich bin wahrscheinlich nicht der kompetenteste und seriöseste Autogrammsammler, also habe ich es über kurz oder lang auch verkraftet, dass ich von Steve Strange nur eine offizielle Fälschung erhalten habe. Außerdem war Steve Strange Betreiber der elitären Londoner New-Romantic-Disco Blitz, in die nicht jeder reingelassen wurde. Da finde ich es heute sogar besonders goldig, dass so einer nicht jedem Bauerntrottel ein echtes Autogramm gibt.

In den Blitz-Club bin ich nie reingekommen, in den Partykeller des Schullandheims Willingen im Sauerland hingegen schon. Während eines schulischen Zwangsaufenthalts, aufgekratzt von Wandertouren und zu viel Coca-Cola, führte ich dort mit meinem Schulfreund Nazi-Jürgen einen selbstkreierten Ausdruckstanz zu meiner Visage-Kassette auf. Er bestand aus ausschweifenden Arm- und Beinbewegungen und simulierten Zeitlupen. Nazi-Jürgen hatte damals noch nicht diesen Beinamen, und Jürgen hieß er schon gar nicht. Er unterschied sich von anderen Kindern dadurch, dass er große Teile seiner Freizeit in einem Auffanglager der seinerzeit noch nicht verbotenen Wiking-Jugend verbringen musste. Wir wussten damals ja von nichts, deswegen hatten wir anderen Kinder zu seiner seltsamen Freizeitgestaltung kein angespannteres Verhältnis als zu der Freizeitgestaltung der ein oder zwei Exoten, die aktive Pfadfinder-Fähnlein waren: klang langweilig, hat uns nicht weiter interessiert.

Was Nazi-Jürgen und mich neben der Freizeitgestaltung unterschied, war, dass Nazi-Jürgen viel beliebter bei den anderen Kindern war als ich. Typisch Deutschland. So wurde mir nach dem Tanz zugeraunt, Nazi-Jürgen wäre irgendwie cool gewesen, aber ich hätte mich „voll lächerlich“ gemacht. Dabei hatte ich den Tanz erfunden und Nazi-Jürgen hatte sich nur drangehängt, quasi Mitläufer, beziehungsweise Mittänzer!

Meinen Geist konnte das nicht brechen, zumindest nicht ganz, er ist hart wie Kruppstahl. Noch heute, wenn keiner außer meiner Tochter guckt, lege ich manchmal eine meiner Visage-Platten auf (ich habe selbstverständlich alle, auch die neuen) und tanze meinen Visage-Ausdruckstanz, nur für sie. In meinen eigenen vier Wänden kann mir kein Nazi-Jürgen die Show stehlen. Und wenn ich die hysterische Freude im Gesicht meiner Tochter sehe, dann weiß ich: das ist das Alleraufregendste, was sie seit ungefähr einer halben Stunde gesehen hat. Vielleicht werde ich ihr irgendwann die Bewegungen beibringen, wenn sie auf eigenen Beinen stehen kann. Wie ein weiser Wing-Chun-Lehrer und sein unbeherrschter Schüler voll rohem Potenzial, als zwei Silhouetten auf einer Tempelmauer vor Sonnenuntergang. Und dann wird sie selbst eines Tages für ihre Kinder den Visage-Ausdruckstanz ihres Vaters tanzen. Und so wird der Geist von Steve Strange über Generationen in dem Geist unserer Familie weiterleben.

Ich möchte dahingehend aber nicht jetzt schon Erwartungsdruck aufbauen.

Steve Strange starb am vergangenen Donnerstag in Ägypten.

Andreas Neuenkirchen tanzt inzwischen am liebsten zu Night Train.

Nazi-Jürgen lebt heute unter seinem Mädchennamen in Berlin und ist laut Wikipedia „ein deutscher politischer Autor, der der Neuen Rechten zugeordnet wird“. Laut seiner eigenen Homepage stimmt das aber nicht und Wikipedia ist ganz, ganz doof.