Kennen Sie den noch?
Michel Houellebecq, der Skandalautor von vor zwei Monaten. Ich hatte mir das dazugehörige Skandalbuch Unterwerfung noch am Skandalerscheinungstag gestreamt-oder-wie-das-heißt, damit ich schnell etwas drüber schreiben könne, bevor das Thema wieder vorbei sei. Gut, habe ich halt nicht geschafft. Nicht weil ich so langsam lese oder schreibe, auch den Planungsunsicherheitsfaktor Baby trifft nur eine Teilschuld. Hauptschuld hat allein das Buch, ich musste mehrmals pausieren und andere Lektüren einschieben. Nicht wegen Ekel, Empörung oder Ergriffenheit, sondern aus Langeweile. Dabei bin ich eigentlich ein bei jeder neuen Veröffentlichung glucksender Houellebecq-Fanboy (kurz: Houelleboy). Ich sammle jeden Schnipsel über den süßen Fische-Boy aus Frankreich und mag alle seine Bücher, außer vielleicht Die Möglichkeit einer Insel, und jetzt eben Unterwerfung. Schon am Titel hakt’s, er ist zumindest irreführend. Es geht hier in erster Linie nicht um eine Unterwerfung, sondern um eine Ermüdung. Der Protagonist des Romans ist, wie Houellebecq, Huysmans-Experte. Und wie Joris-Karl Huysmans sich in der Herbst/Winter-Saison seines Lebens, körperlich und seelisch erschöpft, dem Katholizismus zuwendete, so wendet sich Houellebecqs Romanfigur lebensmüde dem Islam zu. Houellebecq hat erkannt, dass der Katholizismus inzwischen außerhalb von Entwicklungsländern seine religiöse Bedeutung komplett verloren hat (seine gesellschaftliche nicht, die katholischen Werte trägt jeder noch so überzeugte abendländische Atheist unter Haut und Nägeln). Für jemanden, der sich einer echten Religion ohne Larifari anschließen will, ist der Islam also konkurrenzlos. Eigentlich ein schönes Thema, wäre der Roman nicht genauso müde geschrieben und konzipiert, wie es seine Hauptfigur ist. Das mag durchaus künstlerische Absicht sein. Jedoch ist nicht jede bewusste Entscheidung automatisch eine richtige Entscheidung. Houellebecqs Romane waren stets Thesenromane, aber immerhin waren unter den Thesen noch Romane auszumachen. Wenn in Unterwerfung zwei Figuren miteinander sprechen, dann entstehen daraus keine Dialoge, sondern aufeinanderfolgende Monologe in der Länge und im Duktus von Aufsätzen. Dabei gibt es Figuren, die offenbar dem Autoren nach dem Mund reden, und solche, die offenbar das Gegenteil tun; jene sind selbstverständlich lächerliche Figuren. Immerhin taugt das Buch kaum zur Steilvorlage der Pegida-Arschgeigen äh -Bewegung (zu inter … inti … intellele-dingsbums) oder sonst irgendeinen Skandal (zu müde). Darin waren sich die meisten deutschen Medien dann auch einig, zumindest im ersten Punkt, nachdem sich die französischen wohl sehr aufgeregt hatten. Bei der taz zeigte man majestätische Großmut und tat einen erleichterten Stoßseufzer: Houellebecq sei gar kein rechter Autor, war dort zu lesen, quasi Begnadigung. Nun haben wir zwar erst März, ich wage aber schon jetzt die Prognose, dass das eine der steilsten Thesen des Jahres bleiben wird. Houellebecq war, ist und bleibt so rechts wie der deutsche Straßenverkehr. Das ist ja nicht schlimm, so was kann in einer Demokratie schon mal vorkommen. Daran stirbt man nicht, nicht mal als linker Leser. Gerade als solcher sollte man bevorzugt rechte Autoren lesen, sonst erfährt man nichts von der Welt außerhalb der eigenen Doktrin. Umgekehrt gilt das natürlich genauso. Man nennt es „Blick über den Tellerrand“. Irgendwann sieht man dabei vielleicht, dass es großer Blödsinn ist, so ein hochkomplexes Feld wie Politik in lediglich zwei Richtungen zu unterteilen; dass das Beharren auf „rechts“ und „links“ nur ein bockiges und bequemes Festhalten an „Cowboy“ und „Indianer“ im Erwachsenenalter ist. Ich bin in der Erkenntnis schon fast soweit. Bis ich es auch in der Konsequenz bin, bleibe ich bei meinem gemütlichen Schubladendenken: Houellebecq rechte Schublade, ich linke Schublade, gemeinsam sind wir ein gut geölter Schuhschrank im Hausflur der Ideologien. Michel Houellebecq hat seine bekannten Aussagen zum Islam („dümmste Religion der Welt“) inzwischen nach Koran-Lektüre („ein kluges Buch“) öffentlich revidiert, was von der Presse nach wie vor weniger laut posaunt wird als die ursprüngliche Aussage. In Unterwerfung gibt er sich buchhalterisch neutral, er zählt allzu brav Vor- und Nachteile eines Frankreichs unter islamischer Regierung ab (gut: weniger Frauen in akademischen Berufen, schlecht: weniger Frauen in Miniröcken). So müde wie über alles wird über Leichen gegangen und das rasche Verschwinden der jüdischen Kultur in ein paar lapidaren Randbemerkungen abgehandelt. Hinter der müden Fassade lauert da doch ein bisschen von der alten Houellebecq-Dämonik. Gerade bei diesem Thema hätte man im deutschen Feuilleton auch mal etwas genauer lesen und hinterfragen dürfen, aber ich möchte niemanden wecken. Man muss ohnehin Houellebecq gar nicht erst mit diesem ganzen Politidingsbums kommen, wie Die Welt eindrucksvoll bewiesen hat. Zum persönlichen Gespräch mit dem Autoren schickte man einfach eine Praktikantin aus der Beauty-Redaktion, die dann keck ein paar Selfies knipste und hinterher betont stolz drauf war, keine politischen Fragen gestellt zu haben. Es ist mit dem deutschen Feuilleton hinsichtlich der Literaturbesprechung gar nicht immer so schlimm, wie in letzter Zeit gerne mal behauptet wird. Oft ist es noch viel, viel schlimmer. Eines hat mir an Unterwerfung gefallen: Die Bettszenen. An dieser Stelle möchte auch endlich mal etwas Provokantes sagen: Ich interessiere mich nicht für Sex [dramatische Wirkungspause] in der Literatur. Oder allen anderen Kunstformen. (Zur Wahrung meiner eigenen Menschenwürde habe ich auf den obligatorischen „Ich bin nicht prüde, aber“-Einstieg verzichtet.) Ich sollte das präzisieren: Ich interessiere mich nicht für die mechanische oder romantische Beschreibung des Vorgangs, seines Versprechens und seiner Anbahnung, vulgo Erotik bzw. Pornografie (aus Desinteresse differenziere ich da ebenso wenig, wie ich werturteile). Durchaus interessiere ich mich für die gesellschaftliche Bedeutung und die politischen wie wirtschaftlichen Möglichkeiten der Instrumentalisierung des Vorgangs, seines Versprechens und seiner Anbahnung. Das hatte Houellebecq für mich immer lesenswert gemacht: nicht die Ferkelei, sondern die höhere Bedeutung der Ferkelei. In Unterwerfung hat die Ferkelei keine höhere oder tiefere Bedeutung, sie lockert nur das müde Einerlei auf, also wie im richtigen Leben. Dass ich entsprechende Passagen dennoch als die erfrischendsten des Romans wahrgenommen, ihnen beim Lesen sogar regelrecht entgegengefiebert habe, kann zweierlei bedeuten: das Buch hat sonst nicht viel zu bieten, oder ich werde mit zunehmendem Alter immer ferkeliger. Ich entscheide mich fürs erste. Und ich überlasse dem deutschen Feuilleton die Themen, die es versteht.Archiv für den Monat März 2015
Eine Geschichte zweier Kuchen [Kaiho-Kolumne]
In der aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Gebratene Ente unter anonymen Genitalien zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung. (Ja, ich habe zum Thema Esskastanienpüreegebäck in diesem Blog schon einmal gearbeitet, aber es ist ja auch ein Thema, dass uns alle irgendwann betreffen kann, deshalb lässt es sich gar nicht oft genug beleuchten. Dass sich die Schilderungen gleicher Ereignisse meines Privatlebens von Text zu Text ein wenig unterscheiden, liegt an gelebter künstlerischer Freiheit und Lügenpresse.)
*** Will man in Deutschland Japanern begegnen, ist eine der sichersten Anlaufstellen die Baumkuchenbäckerei, die es bestimmt in jedem Ort gibt, der auf der Romantikstrecke der führenden japanischen Tourismusunternehmen steht. Ich bin von Haus aus kein Kuchenexperte, deshalb hatte ich keine größeren Gewissensbisse, dass ich den Baumkuchen allenfalls dem Namen nach kannte, bis ich mit einer Japanerin liiert war. Diese Japanerin wiederum war schwer schockiert von meiner Unkenntnis, hielt sie doch Baumkuchen für so stark mit der deutschen Volksseele verbunden wie Volkswagen und Sauerkraut. Als sie zum ersten Mal die Baumkuchenrepublik Deutschland bereiste, war sie ausgestattet mit einem Reiseführer, der gefüllt war mit Abbildungen von Lebensmitteln, von Weißwurst bis Happy Hippo, mit Kontrollkästchen daneben, nach Verzehr anzukreuzen. Beim Abhaken des Baumkuchens in der entsprechenden Spezialkonditorei fühlte ich mich mehr als Tourist als sie, waren die japanischen Kunden doch stark in der Überzahl. Die Beliebtheit des Baumkuchens in Japan ist vermutlich weniger romantisch oder lukullisch begründet, als man annehmen möchte. Durch seine lange Haltbarkeit lässt er sich halt auch ohne Blitzversand in fernere Regionen exportieren und muss dort nach Erhalt nicht sofort blitzverzerrt werden. Inzwischen sind so viele Baumkuchen nach Japan ausgewandert, dass sie dort ihre ganz eigene Kultur entwickelt haben. Es ist eine Kultur, die sich in erster Linie im Untergrund abspielt; nämlich in den Glamour-Gourmet-Untergeschossen großstädtischer Kaufhäuser. Dort lässt sich sehen und kosten, dass die japanischen Baumkuchenbäcker mit dem deutschen Gebäck längst getan haben, was japanische Innovatoren gerne mit Importen tun: nicht einfach nur so gut imitieren, dass es so gut wie gar nicht mehr vom Original zu unterscheiden ist, sondern derart weiterentwickeln, dass das Original kaum noch zu erkennen ist. So sei dem japanischen Baumkuchen-Enthusiasten angeraten, vor dem Deutschlandbesuch die Erwartungen etwas herunterzuschrauben. Hat man hier nur die Wahl zwischen Baumkuchen mit Baumkuchengeschmack als ganzer Stumpf, als in Scheiben geschnittener Stumpf oder als in mundgerechte Happen gehackter Stumpf, so gibt es neben der größeren Formenvielfalt im Fernen Osten auch eine größere Geschmacksvielfalt, zum Beispiel Baumkuchen mit Tomaten- oder Spinatgeschmack. Und selbstverständlich ist das alles übersichtlicher portioniert. Eine einzelne deutsche Baumkuchenportion könnte schließlich einer ganzen japanischen Familie als Tagesproviant dienen. Meine Unkenntnis in Sachen Baumkuchen war die erste, aber nicht die letzte Backwerk-Irritation zwischen mir und meiner japanischen Liaison, der ich zwischenzeitlich meinerseits das Eheversprechen gegeben und ihrerseits abgerungen habe. Zu späte Zweifel an meiner Heiratsfähigkeit hegte sie, als sich herausstellte, dass ich den Mont-Blanc nicht kannte. Den Berg schon, den Füllfederhalter auch, jedoch nicht den Kuchen. Dabei hatte ich ihn selbst entdeckt, zumindest für mich. Bei einem einsamen Frühstück in einem Tokioter Ketten-Café hatte ich gegen mein Naturell einen Kuchen zum Nachtisch bestellt. Auf den Namen hatte ich nicht geachtet, sondern bloß mit dem Finger auf das Exemplar in der Vitrine gedeutet: „Den da bitte.“ Also mit derselben Kompetenz geordert, mit der ich auch in Deutschland Kuchen bestelle. Dieser bestand im Wesentlichen aus Schlagsahne und aufgetürmten, in etwa bergförmigen Esskastanienpüree und schmeckte mir sehr gut. Rückblickend war dieser Ketten-Café-Mont-Blanc sicherlich nicht der Gipfel unter den Genüssen seiner Art, doch mich hatte er überzeugt. So sehr, dass ich meiner Frau davon erzählte. Da ich den Namen nicht wusste, beschrieb ich das Produkt. Offenbar nicht sehr gut, denn sie kam nicht dahinter, was ich meinte. Etwas später sah ich den Mont-Blanc wieder, im Untergrund, also in einer dieser großstädtischen Edel-Bäckereien eines Kaufhaus-Kellers. Ich brachte ihn mit nach Hause und übergab ihn mit großem Brimborium meiner Gattin, die sofort aus allen Wolken fiel, weil ich um so einem Allerweltskuchen so ein Theater gemacht hatte: „Das ist ein Mont-Blanc!“, rief sie. „Den kanntest du nicht?!“ „Wie sollte ich den kennen? Ich kenne ja kaum die Namen von deutschen Kuchen …“ „Das IST ein deutscher Kuchen!“ Ich bezweifelte das ganz stark und das Gespräch wurde zu einem fruchtlosen Nein-Doch-Pingpong-Match, dessen Entscheidung vertagt wurde. Tatsächlich sprachen wir das Thema fast genau ein Jahr lang nicht mehr an. Bis ich an ein Magazin kam, das in Tokio kostenlos an ausländische Touristen verteilt wurde. Darin war ein Artikel mit der Überschrift: Tastes of Tokyo. Dreimal darf man raten, welcher Kuchen dort in Text und Bild gewürdigt wurde. Ich präsentierte das Magazin meiner Frau stolzer, als ich ihr je eine meiner Tokyo-Marathon-Medaillen präsentiert hatte. Hier war der Beweis: der Mont-Blanc ist durch und durch japanisch, eine Kreation Tokios. Noch genauere Recherche lässt daran allenfalls milde Zweifel aufkommen. Tatsächlich handelt es sich ähnlich wie bei Tempura und Popmusik um eine ausländische Erfindung, die von Japan eingemeindet und perfektioniert wurde. Das Grundrezept lässt sich in ein italienisches Kochbuch von 1475 zurückverfolgen, doch der Mont-Blanc, wie wir (bzw. die Japaner) ihn heute kennen, entstammt der gleichnamigen Konditorei in Jiyugaoka, einem Viertel Meguros. Ein ganz goldiger und sehr beliebter Laden mit Warteliste und Tischbeinen in bodenschonenden Söckchen, wo man die Haus-Kreation noch heute verköstigen kann, selbstverständlich in allen möglichen Geschmacksrichtungen. Als meine Frau und ich das schließlich taten, war unser Streit längst vergessen. Sie beschäftigte jetzt der Gedanke, warum der Mont-Blanc sich bislang in Deutschland nicht durchsetzen konnte. Inzwischen ist sie bei einer Verschwörungstheorie angelangt, die etwas mit einer unterstellten deutschen Abneigung gegen Esskastanien in Süßspeisen zu tun hat. Ich arbeite derweil meine jüngste reichtumgarantierende Geschäftsidee aus: Baumkuchen mit Mont-Blanc-Geschmack.