Gestern nach Redaktionsschluss ist noch was passiert, was ich für meinen WM-Report nicht mehr berücksichtigen konnte, Sie wissen schon. Im Fußballjargon nennt man es wohl harakiri.
Ich sage es gleich: ich habe den sogenannten Gaucho-Tanz nicht gesehen und habe nicht vor das nachzuholen, ich bin eh total im Rückstand mit Internetvideos (hab noch nicht mal das gesehen, wo sich die ganzen Leute küssen). Ich muss also mit Hörensagen arbeiten, was mir für einen glasklaren, messerscharfen Durchblick vollkommen ausreicht. Gehört habe ich, dass das Ganze wohl auf einem traditionellen Fanritual basiert, das immer durchgeführt wird, wenn einer gewinnt und einer verliert, mit angepassten Variablen. Tradition ist freilich kein Freifahrtschein für jeden Mist. Diesen speziellen Mist finde ich generell albern aber vertretbar, in diesem speziellen Fall allerdings ein wenig unglücklich (vollwertige Empörung spare ich mir lieber für Raketeneinschläge und Lebensmittelskandale auf). Denn selbstverständlich sehen Sieger nicht so aus wie jemand, der sich über Verlierer lustig macht. Bei solchen Gesten macht es durchaus einen Unterschied, von wem und in welchem Rahmen sie kommen. Genauso stimmt es, dass ein Gaucho-Tanz kein Hitlergruß ist, noch nicht mal im Ansatz. Die Erklärungs- und Beschwichtigungsversuche der Anhänger, die sich ihre Freude am Fußball nicht nehmen lassen mögen, kann ich gut verstehen, denn sie erinnern mich an mich, wenn Morrissey oder Michel Houellebecq mal wieder den Mund aufmachen. Schon während sie Luft holen, formuliert man ein stilles Stoßgebet: Bitte, bitte … nichts über Hühnerhaltung, Massenmord, Sextourismus oder den Islam. Aber es kommt, wie es immer kommt, und hinterher sagt man: Aber … aber … sie singen doch so engelsgleich (Morrissey) und schreiben so schöne Bücher (beide). Und diese Rechtfertigungen sind gar nicht ganz so halt- und hilflos, wie sie klingen. Manche Menschen können sich halt in unterschiedlichen Foren und Formen unterschiedlich gut ausdrücken. Mir ist in meinem persönlichen Umfeld kein leidenschaftlicher Mensch bekannt, der sich beim Vertreten seiner Ansichten nicht schon einmal im Ton vergriffen hätte. Selbstverständlich hat Morrissey prinzipiell recht damit, dass Tierleben gewürdigt und geschützt gehören. Selbstverständlich hat Houllebecq ganz allgemein recht damit, dass Religion auch Nachteile und Prostitution auch Vorteile hat. Was habe ich schon Witze über Japaner gemacht. Was hat meine Frau schon Witze über Deutsche gemacht. Gottlob war das Fernsehen nie dabei. Wenn gar nichts anderes hilft, kann man auch mal Kunst von Künstler trennen: Er ist zwar ein Arsch, aber ich freue mich schon aufs nächste Lied/Buch/Spiel; das kann er wie kein zweiter. Darüber hinaus ist stets zu bedenken: Es gibt nichts Langweiligeres, als sich nur mit Menschen zu befassen und zu umgeben, die alles genau so sehen, formulieren und machen wie man selbst. Das macht träge und einfältig. Jetzt spielen also Schweini, Poldi und wie sie alle heißen in derselben Liga wie Morrissey und Michel Houellebecq? Weltmeister der kulturellen Kommunikation? Wollte ich das damit sagen? Keine Ahnung, aber was ich auf jeden Fall sagen muss: Meine Fresse, was waren die Argentinier für schlechte Verlierer! Im Grunde ist ihnen jeder Spott von jedem zu gönnen. Die haben mit der Unsportlichkeit angefangen. So, wie Messi bei der Siegerehrung geguckt hat, guckt man einfach nicht bei einer Siegerehrung. So sehen keine traurigen Verlierer aus, so sehen bockige Kleinkinder aus. Trotzdem zeigt die deutsche Mannschaft keine Größe, wenn sie genauso kleinkindisch kontert. Ich hätte einen Vorschlag zur Güte: Wir haben uns ja nun schon alle genug gefreut, das kann uns keiner mehr nehmen. Erklären wir doch einfach das Finale für ungültig und Holland zum Weltmeister. Oder (besser) Costa Rica. Argentinien und Deutschland schicken wir ohne Abendessen auf ihre Zimmer, wo sie mal über die ganze Sache nachdenken können. Zur Aufheiterung spricht das Wort zum Donnerstag Onkel Mo, hier mit Tante Pam:Archiv für den Monat Juli 2014
Du bist hier nicht in Kreuzberg, Uschi: Weltmeisterschaft im Harakiri
Jetzt ist sie wieder vorbei, die Zeit, in der die Hälfte meiner Facebook-Freunde in heller Aufregung Sportergebnisse postet, und die andere Hälfte blasierte „War was?“-Kommentare. In aller Freundschaft: Ich finde das erste unnötig, und das zweite unnötig und kindisch. So eine WM ist keine Ganz-oder-gar-nicht-Geschichte, kein Die-oder-wir, kein Proleten-gegen-Schöngeister, es besteht keine absolute Bekenntnisnotwendigkeit. Nichtsdestotrotz bekenne ich mich heute: Ich bin die Art von Fußballgucker, auf die gewohnheitsmäßige Fußballgucker herabsehen. Ich gucke nur zu Großereignissen, es muss schon WM sein, ersatzweise auch mal die der Herren, und auch dann erst, wenn es spannend wird. Und das ist auch gut so. Stolz bin ich darauf freilich nicht, denn stolz kann man nur auf etwas sein, was einen große persönliche Anstrengungen gekostet hat. Zum Beispiel: ein Fußballspiel mit den eigenen Füßen zu gewinnen, oder nach spektakulären Fluchten und langem Spießrutenlaufen die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten. Einfach nur ein gewonnenes Fußballspiel im Fernsehen gesehen zu haben oder zufällig irgendwo geboren worden zu sein wäre als Ursache für Stolz ein wenig befremdlich.
Selbstverständlich stören mich die grölenden, bemalten Dooffans, die bereits vor der Halbzeitpause zu besoffen von Heimatgefühl und sonst was sind, um noch etwas vom Spiel mitzubekommen (in diesem Zusammenhang ist es schon sehr passend, dass man unter dem deutschen Begriff public viewing im Englischen das öffentliche Aufbahren von Leichen versteht). Gottseidank gibt es davon in meinem Haushalt keine. Mehr noch als diese kaum noch lebenden Toten stören mich allerdings zunehmend die ständigen Flunschzieher, die ihre Fußball-Ablehnung ausstellen wie eine elitenbildende Zierde. Also so Typen wie mich vor 2011, dem Jahr der letzten echten WM und meiner Epiphanie. Typen, die sich tatsächlich darüber beschweren, dass alle vier Jahre nachts mal einer hupt. Dabei sind einige dieser Typen noch in dem Alter, in dem es eigentlich ihre Pflicht wäre, selbst ab und an für nächtliche Ruhestörung zu sorgen. Kommen die Menschen inzwischen schon als „Runter-von-meinem-Rasen!“-Greise auf die Welt? Meine Frau ist Ausländerin und schwanger. Das ist in diesem Zusammenhang deshalb erwähnenswert, weil erstens Zugereiste beim Themenkomplex Deutschland ja meist fanatischer sind als Alteingesessene, und zweitens weil es ihr wichtig war, dass unsere Tochter in einem historischen Jahr geboren wird. In anderen Worten: bei Deutschland-Spielen war auf dem Sofa eine Stimmung, dass ich Angst hatte, vorzeitige Wehen könnten jederzeit einsetzen. Die Frage nach mannschaftlicher Loyalität sehe ich entspannter als sie. Man muss nicht zwangsläufig für das Land jubeln, in dem man Steuern zahlt und Rente bezieht. Man darf aber. Es hängt ganz von der Erzählung ab, denn die ist das schöne an sportlichen Großereignissen. Es handelt sich im Grunde um Helden- und Schurken-Epen mit allem Drum und Dran, nur dass anders als in der literarischen Epik die dramatischen Höhepunkte, überraschenden Wendungen, Sympathien und Antipathien nicht festgeschrieben sind, sondern sich während des Erzählens ergeben. Deshalb fände ich es Unsinn, von vornherein für eine bestimmte Mannschaft Partei zu ergreifen. Protagonisten müssen sich erst herausschälen. Mein Lieblingssieger wäre diesmal Costa Rica gewesen. Aber als das nicht mehr ging, hatte ich keine Probleme damit, den deutschen Spielern meine Gunst zu vermachen, die waren mir auch ganz sympathisch. Die Qualität der Erzählung ist auch der Grund, warum ich mich nicht für das Klein-klein der lokalen und regionalen Vereinsmeierei interessiere. Wenn die WM ein Epos ist, dann ist Dingsbums-Liga (keine Ahnung, was es da alles gibt und wie das heißt) eine Daily Soap. Dafür fehlen mir Ausdauer und Geduld. Außerdem finde ich Lokalpatriotismus noch bekloppter als Nationalpatriotismus. Ich habe da schlimme Erinnerungen an 2010, als ich in Tokio ein Konzert eines skandinavischen Akustik-Pop-Duos besuchte, und eine Frau im Publikum immer die ruhigen Stellen abwartete, um sinnlos in den dunklen Saal zu brüllen: „KREUZBERG!!! KREUZBERG!!!“ Ich habe das Gesicht der Dame (ich benutze den Begriff euphemistisch) nicht gesehen, doch ich bin mir sicher: Es war die hässliche Fratze des Lokalpatriotismus. Weil mir gerade kein guter Übergang zum Rest des Textes einfällt, zeige ich in der Halbzeitpause eine Plastiknachbildung eines brasilianischen Fußballspielers unter einem originell verpackten Stück Weichkäse. Ist nicht böse gemeint.