Wichtiger Hinweis für Funsportler und andere Lebensmüde

Wer sich die Mühe macht, die Spitze des zweithöchsten Gebäudes der Welt Taipei 101 zu bereisen (oben), der findet dort nicht etwa grenzenlose Freiheit, sondern ganz irdische Verbote (unten).

Genießen Sie also die Aussicht (unten) und seien Sie nicht enttäuscht, wenn Sie runter auch wieder den Fahrstuhl nehmen müssen.

Ich selbst bin längst wieder zuhause in Tokio. Was habe ich in Taiwan getan außer Buchstaben sammeln (siehe zuvor) und aus dem Fenster gucken? Schwitzen. Und wie war’s? Ich singe es mit der Sängerin Gustav: Verlass die Stadt. Wälder, Berge, Meer, alles wunderschön. Taipeh hingegen charakterlos bei Tag und Nacht. Muss man auch mal sagen dürfen. Günstig und gut essen kann man, sagen alle, und es stimmt schon, aber Geiz und Völlerei darf nicht der oberste Maßstab sein. Und wer hat bei der Hitze schon immer Appetit.

Irgendwann findet man es bei allem Wohlgeschmack auch nicht mehr wunderbar authentisch, in einer Garage unter Neonlicht auf Plastikstühlen in Gesellschaft anderer Schwitzender in Unterhemd und Shorts zu essen, während man lauwarmes Wasser aus Pappbechern nippt. Man sehnt sich klammheimlich nach einem echten Restaurant mit Klimaanlage, Dimmer, Getränkekarte und bekleideten Menschen. Gibt es. Zum selben Preis jedoch auch anderswo in der Welt.

Aber die Landschaft: Alle Achtung, die ist wirklich gut geworden. Wenn es die auch noch in kühler gäbe.

Who put the Ö in Taipei?

Liebes Blög,

ich bin in Taiwan, und hier ist alles so fremd. Überall sind eigentümliche Schriftzeichen, besonders häufig sehe ich das sogenannte Ö. Der Fernseher in meinem Hotelzimmer ist von dieser Marke:

Darauf empfange ich unter anderem diesen Spielfilmsender:

(Mit im Bild: ein Gladiatör.)

Und in der Apotheke um die Ecke hatte dieser Arztbär eine gemütliche Sprechstunde:

Um auf die Frage in der Überschrift zurückzukommen: Ich glaube, dieser Kollege war es.

Das Maskottchen des Gebäudes Taipei 101.

Mein erstes Mal in Japan (5): Karaoke

11 Jahre habe ich gebettelt, dass mich mal einer mitnimmt, aber ich kenne nur zu feine Pinkel. Dachte ich. Der einzige japanische Mensch, den ich prinzipiell nicht gefragt hatte, war ausgerechnet Schwester M. Weil ich meinte: Die singt ja sowieso, da ist Karaoke bestimmt unter ihrem Niveau. Stellt sich aber heraus: Jeder muss mal üben. Als sie selbst das Gespräch auf das Thema bringt, frage ich kleinlaut, ob sie mich mal mitnimmt. Sagt sie: „Okay, gehen wir!“

So habe ich freilich nicht gewettet. Ich meinte: Irgendwann mal, abends, wenn ich beschwipst bin und mich ganz toll finde. Nicht bei Tageslicht, nüchtern, kurz nach dem Mittagessen. Aber ich habe keine Wahl. Megumi hat in einer Stunde Vorstellungsgespräch. Es wäre ja gelacht und sie keine echte Japanerin, wenn da nicht noch Platz für eine halbe Stunde Karaoke wäre.

Möglicherweise ist es nicht das erste Mal, dass ich überhaupt Karaoke singe. Könnte sein, dass da mal was auf einer Party in Bremen war. Aber ich habe an den betreffenden Abend keine klare Erinnerung, und die Oral History widerspricht sich von Historiker zu Historiker. Außerdem ist Karaoke in Japan eh anders. Man blamiert sich nicht vor einer Meute Wildfremder bis auf die Knochen, sondern, in meinem Fall, vor nur einer Person, die man schon locker eineinhalbmal im Leben gesehen hat.

Karaoke findet in Privatkabinen statt, die auf Zeit gemietet werden. Nach westlichem Moralkodex, vielleicht auch nur nach meinem eigenen, haben Vergnügungen in schalldichten Privatkabinen, die im Halbstundentakt abgerechnet werden, grundsätzlich etwas Verdorbenes. Während wir durch die zugleich schummrigen und sterilen Korridore des Karaoke-Zentrums auf der Suche nach unserer Zelle schleichen, muss ich schwer an mich halten, um nicht ins Telefon zu rufen: Ehrlich, Mama, wir machen nur Hausaufgaben!

Unsere Kabine beinhaltet ein schmutzabweisendes Sofa, einen Couchtisch mit Musikkatalogen und Speisekarten, mehrere Lautsprecher, eine Klimaanlage und selbstverständlich eine Karaoke-Maschine + großem Fernseher, auf dem Fernseh-Menschen quiekend neue Produkte anpreisen, wenn gerade kein echter Mensch singt. Zwei Mikrofone und ein Fernbedienungspult haben wir in einem Körbchen, das uns am Empfang überreicht worden war, selbst mitgebracht.

Megumi stellt es auf einmal so dar, als sei das Ganze meine Idee gewesen, deshalb soll ich anfangen.

Ich bin nicht mal halb durch Bullet With Butterfly Wings, da verlässt sie kommentarlos und fluchtartig das Zimmer. Es war trotzdem schön, sie kennengelernt zu haben. Wir hatten auch gute Minuten, bevor die Karaoke zwischen uns kam. Womöglich singe ich als nächstes mit Morrissey: No true friends in modern life!

Aber es ist halb so schlimm, sie ist im Nullkommanichts zurück mit einem Tamburin und zwei Rumba-Rasseln. Ein Glück, dass sie daran gedacht hat. Gute Laune ohne Rumba-Rasseln ist einfach keine echte gute Laune, das war schon immer mein Lebensmotto.

Apropos Morrissey: Der Sinatra meiner Generation, ohne jede Frage und Diskussion. Man soll sich bei Karaoke nicht mit Minderheitengeschmack brüsten, sondern Evergreens schmettern, deshalb durchsuche ich die Datenbank nach THE SMITHS, aber da ist nur How Soon Is Now?. Vielleicht der feinste Song der Band überhaupt, aber eben einer, der textlich so auf den Punkt gebracht ist, dass kaum Text übrig ist. Also nicht gerade ein Karaoke-Kracher, wie man ihn sich von The Smiths wünscht. Trotzdem soll der es sein.

Wenn man in echt nie singt, aber in Gedanken quasi ständig, ist es schrecklich, wenn man sich plötzlich tatsächlich singen hören muss. Besonders, wenn man keinen im Tee hat. Es ist leider nicht mal die alte Leier von der eigenen Stimme, die einem von Natur aus zuwider ist. Es ist viel schlimmer. Wohin ist all die Leidenschaft auf dem Weg vom Herzen in den Lautsprecher verschwunden? Warum klinge ich wie irgendein grober Karaoke-Proll, dem dieses sorgfältig ausgewählte Lied auch nicht mehr bedeutet als Dschinghis Kahn oder Paradise City? Ich bin doch was Besseres! Bin ich aber nicht, hört man ja, eher niedriger.

Eine eigenwillige Version von Friday I’m In Love gerät kaum feinfühliger, das Authentischste bleibt Megumis perkussive Begleitung. Dass sie auch das mit dem Singen viel besser hinbekommt, reibt sie mir u. a. mit Boulevard Of Broken Dreams und Can’t Take My Eyes Off You unter die Nase.

La Isla Bonita hätte schön werden können, wenn ich nicht ganz gemein einfach mitgesungen hätte.

Aber ich will nicht immer nur zerstören. Ich muss beweisen, dass ich auf dem Grunde meines Herzens ein vermittelbarer Musikliebhaber bin.

Wird fortgesetzt. Ich habe schon eine Liste gemacht.

Just do it (soon)

Nach meiner furchtlosen Visite des Yasukuni-Schreins gehe ich heute wieder hin, wo es wehtut (wenn auch nicht so weh, als würde ich dabei einen Mikoshi tragen). Der Miyashita-Park ist ebenfalls ein Politikum, wenn auch eines, bei dem die Weltpolitik mit den Schultern zuckt. In Tokio aber wird durchaus kontrovers diskutiert.

In den Miyashita-Park gerät man als Tourist nur, wenn man zu Tower Records will und im Bahnhof Shibuya den falschen Ausgang erwischt hat. Der Park ist auf Karten in Reiseführern der Vollständigkeit halber eingezeichnet, wird aber im Text sicherlich keine Erwähnung finden. Mit Sicherheit steht hingegen in jedem Reiseführer der Hinweis, dass man sich in dieser Stadt selbst als Frau immer und überall ohne Leibgarde frei bewegen kann. Fragt man Tokioterinnen nach der Richtigkeit dieser Einschätzung, pflichten sie im Großen und Ganzen bei. Hängen aber oft noch an: „Außer vielleicht im Miyashita-Park.“ Es handelt sich um einen schmalen, leidlich grünen Streifen zwischen Eisenbahnschienen und Meiji-dori. Ein öffentlicher Park, er gehört also den Bürgern, und die Bürger haben ihn seit Jahrzehnten aufgegeben. Man erinnert sich allenfalls an ihn, wenn man Sperrmüll hat und die Gebühren sparen möchte.

Jetzt hat der Sportartikelhersteller Nike für einen zunächst begrenzten Zeitraum den Park gekauft. Die Firma will dort renovieren und Gratis-Skatergedöns errichten. Außerdem hat Nike für die vereinbarte Zeit das Recht, den Park nach eigenem Gutdünken umzutaufen. Es gilt also als sicher, dass der Miyashita-Park bald Nike-Park heißen wird.

Könnte einen als Skater freuen. Könnte allen anderen Menschen völlig egal sein, wie einem der Park schon immer völlig egal war. Dennoch regt sich jetzt Protest. Wir sind das Volk, und der Park gehört uns, meinen ein paar Aktivisten, die ohne gute Argumente viel Presse bekommen.

Eines der besseren Argumente ist noch, dass der Miyashita-Park beliebt bei Obdachlosen sei. Das ist allerdings kein spezifisches Phänomen dieses einen Parks, sondern wirft auf höherer Ebene die Frage auf, wie eine Gesellschaft mit ihren Opfern umgeht. Es kann keine Lösung sein zu sagen: „Wir lassen die Obdachlosen einfach im Miyashita-Park, den haben wir eh aufgegeben, passt ja.“ Es wäre mir darüber hinaus neu, dass Obdachlose schäbige Parks gegenüber gepflegten bevorzugen. In Tokios schöneren Grünanlagen sind sie durchaus auch anzutreffen. Und es dürfte ihnen genauso egal wie mir sein, ob der Park Miyashita, Nike oder sonstwie heißt.

Mir scheint der jetzige Miyashita-Park ohnehin weniger wie eine Oase für Obdachlose als ein günstig gelegener Ort, wo junge Leute hingehen um Drogen zu kaufen und sich zu erbrechen. Von Drogenhandel halte ich eh nicht viel, und was das Erbrechen angeht: Können das die jungen Leute nicht in den Zügen der Yamanote-Linie machen, wie alle anderen auch?

Könnte es sein, dass es beim Protest nicht etwa um Solidaritätsbekundung mit nicht existierenden Miyashita-Liebhabern geht, sondern um stumpfen Anti-Amerikanismus, gepaart mit plumpen japanischen Nationalstolz, getarnt als Kapitalismuskritik? Schließlich ist es ausgerechnet ein amerikanisches Unternehmen, das hier ein bisschen aufräumen möchte. Dass, ebenfalls in Shibuya, schon seit geraumer Zeit ein ebenfalls öffentliches Veranstaltungszentrum nicht mehr Shibuya Public Hall heißt, sondern nach meiner Lieblingsbrause C.C. Lemon Hall, scheint niemanden groß aufzuregen. C.C. Lemon kommt freilich nicht aus dem Hause Coca-Cola, sondern von der urjapanischen Suntory-Abfüllerei.

Das Vitamin C von wie vielen Zitronen passt wohl in die Halle, wenn in der Haushaltsflasche schon 210 sind?

Shinto Loveparade

Bei lokalen shintoistischen Straßenfesten ist es Brauchtum, mit großem Hallo und vereinten Kräften Schreine durch die Straßen zu tragen. In Nachbarschaften, in denen Ausländer oder ausländerfreundliche Organisationen beheimatet sind, dürfen auch Ausländer mittragen, was diese offenbar gerne tun. Als ich zum ersten Mal davon hörte, dachte ich spontan: Wow – das interessiert mich null. Zuschauen ja, wenn ich in der Gegend bin und es Getränkeverkauf gibt, aber bestimmt nicht aktiv mitschleppen.

Als aber unlängst die Agentur, die mir meine Tokioter Wohnung vermietet, rumfragte, wer denn gerne den Agenturschrein beim Misaki-Festival im Stadtteil Jimbocho mittragen möchte, reckte ich sofort den Arm in die Höhe und rief: „ICH, ICH, ICH!“ Dabei hatte sich meine Einstellung gar nicht großartig geändert. Aber da war der nuttige Gedanke: Ich mach das, damit meine imaginären Leser was zu lachen haben.

Bei der Agentur handelt es sich übrigens um das berüchtigte Sakura House, einen Rucksacktouristen-Stapler von übelstem Leumund. Bevor es weitergeht, möchte ich gerne kurz eine Lanze für Sakura House brechen. In erster Linie ist die Firma bekannt für ihre sog. Guest Houses, in denen wildfremde Menschen sich Schlaf-, Pflege-, Koch- und Spaßbereiche teilen müssen. Dem Vernehmen nach geht es dort tagtäglich und die ganze Nacht zu wie in amerikanischen Filmkomödien über Studentenverbindungshäuser. Das ist nicht jedermanns Sache, meine ganz sicher nicht, deshalb habe ich um diese Art der Unterbringung zeit meines Lebens einen großen Bogen gemacht und gedenke das weiterhin so zu halten. Wer es mag, hat allerdings meinen Segen, da bin ich altersmilde. Ich gebe nur zu bedenken: Wer Jugendherberge bucht, darf sich nicht beschweren, wenn er Klassenfahrt bekommt. Inzwischen macht Sakura House außerdem zusätzlich in einfachen aber regulär ausgestatteten Hotels und eben auch in ganz normalen Wohnungen, falls es länger und teurer sein darf. So eine habe ich. Sie ist komplett unverdächtig. In einer ganz normalen Nachbarschaft mit Mülltrennung, Müttern und Kindern. Das einzige, was sie von einer wirklich ganz normalen japanischen Wohnung unterscheidet, ist, dass auf typisch japanische Fantasiegebühren wie dem legendären ‚Schlüsselgeld‘ verzichtet wird. Ich bin sehr zufrieden, bisher. Nur einmal bekam ich eine völlig aus der Luft gegriffene Mahnung in etwas aggressivem Ton wegen säumiger Miete, vier Tage nach überpünktlicher Bezahlung. Kurz drauf war das Internet für einen knappen Tag kaputt. Ob zwischen den Ereignissen ein Zusammenhang besteht, weiß ich nicht, aber Schwamm drüber, vergeben und vergessen. Vom Sakura-Ringelpietz bekomme ich nur etwas mit, wenn ich per E-Mail zu Sakura-Ringelpietz-Veranstaltungen eingeladen werde und mich aus freien Stücken darauf einlassen kann oder nicht. Womit wir wieder beim Thema wären.

Wer so einen Schrein, amtlich: Mikoshi, tragen will, muss sich ordentlich anziehen. Unten trägt man Tabi:

Obenrum trägt man einen Happi und ein gequältes Lächeln:

Im Hintergrund sehen Sie den Mikoshi selbst. Hier noch einmal, ohne dass einer die Sicht verstellt:

Im Vordergrund, daher perspektiv ungünstig größer, ist der kleinere Kinderschrein. Ich hatte gehofft, ich könnte mich freiwillig für den melden, aber alle tun so, als hätten sie nichts gehört. Ich werde vorne links am Erwachsenenmikoshi platziert. Als wir das Ding an den dafür vorgesehenen Holzbarren hochheben, bin ich ehrlich schockiert: Das ist ja schwer! Ich meine: richtig schwer! Ich hatte angenommen, es handele sich um eine Spaßattrappe für Touristen. Ich weiß noch nicht, ob ich das bis zum Ende durchhalten werde, oder bis zur nächsten Ecke. Ich weiß auch gar nicht genau, wo das Ende der Strecke ist. Eher 10 Meter oder 10 Kilometer? Ich habe vorher nicht gefragt und mache mir jetzt ein bisschen Sorgen. Uns wurde gesagt, man solle keine Hemmungen haben abzugeben, wenn man nicht mehr kann. Ich habe nach wenigen Sekunden alle Hemmungen verloren, sehe aber nirgends einen, an den ich abgeben könnte. Die, die erstmal nicht rangekommen sind, haben wohl inzwischen mitbekommen, dass das kein Spaß ist und halten sich jetzt in sicherer Entfernung.

Ich muss beim Tragen extrem in die Knie gehen, um mich dem Niveau der anderen Träger anzupassen. Dabei rutscht meine Hose, die ich vorher extra etwas lockerer geschnallt hatte, damit nichts kneift. Ich kann freilich meine Hände weder zum Hosehochziehen vom Schrein nehmen, noch um mir den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen, der dort literweise rauskommt. Die Hose rutscht gottlob nicht komplett hinunter, aber ich sehe inzwischen wahrscheinlich aus wie ein Shinto-HipHopper. Echte Japaner tragen den Mikoshi zwar auch in einem Sumo-artigen Look nahezu arschfrei, aber freiwillig und ohne Hose um die Knöchel.

Das Gewicht des Schreins und die Hitze (die vor wenigen Minuten noch eine lang herbeigesehnte angenehme Wärme war) sind nicht die einzigen Probleme, vielleicht nicht mal die größten. Leider muss man mit dem Schrein auch noch ständig auf und ab wackeln, damit die Bimmeln fein bimmeln. Irgendwas geschrien wird auch. Keiner versteht, was da geschrien wird („Toga, Toga“? „Tora, Tora“?), aber alle machen mit, so gut es geht.

Sportunterrichtsflashback: Mittendrin klatscht mich einer der Aufseher ab. Es kränkt zwar meine Ehre, dass er mich als zu schwächlich erkannt hat, ich bin aber zugleich heilfroh über seine glänzende Auffassungsgabe. Ich habe mich jedoch zu früh geschämt und gefreut, denn er will mich gar nicht meiner Pflicht entbinden, sondern mich nur weiter hinten platzieren. Dort sind nämlich nur Mädchen, die gar nicht richtig mitmachen. Die Gesellschaft hier ist zwar viel charmanter als bei den Angebern da vorne, aber jetzt habe ich das Gefühl, den ganzen Schrein ganz alleine zu tragen. Außerdem stehe ich hier unter ständiger Beobachtung dieses Aufpassers, der es offenbar auf mich abgesehen hat. Immer, wenn ich dabei bin, eine eigene und bequemere Tragetechnik zu entwickeln, quetscht er mich wieder mit starken Händen in die schmerzhafte korrekte Haltung. Wenn jeder Innovationsgedanke, jeder Einfluss von außen im Keim erstickt wird, wird sich nie etwas ändern in diesem Land. Es ist wie in diesem japanischen Sprichwort, das jedem Japaninteressierten schon aus den Ohren rauskommt. Sie wissen schon. Das mit dem hervorstehenden Nagel, der eingeschlagen gehört, wenn er ein guter Nagel sein will. Heute bin ich dieser Nagel. Der Aufpasser soll mal lieber die Damen aus Australien, Europa und ‚Die Staaten‘ darauf hinweisen, dass ab und an die Fingerchen aufs Holz legen nicht als Tragen gilt. Die ganze Last liegt buchstäblich auf meinen Schultern, bzw. meiner rechten Schulter.

Das Ende ist geografisch gesehen überraschend nah. Überspitzt könnte man sagen, dass wir den Schrein nur von hinterm Haus vor das Haus getragen haben. Viel mehr wäre aber auch wirklich nicht drin gewesen. Die ganze Aktion kam einem nicht nur wegen der Anstrengung länger vor, sondern auch, weil sie tatsächlich länger als nötig war. Alle paar Meter wurde angehalten. Nicht etwa um zu verschnaufen, sondern um besonders angestrengt zu wackeln und zu schreien. Hätten wir den Mikoshi ohne viel Theater auf schnellstem Wege ins Ziel gebracht, wären wir schon dreimal fertig. Aber leider geht es um das Theater.

Ich traue mich die Frage, ob wir das Ding auch wieder zurück tragen müssen. Nein, wird uns gesagt, aber wir dürfen, wenn wir möchten. Niemand möchte.

Wie anstrengend war es genau? Es war so anstrengend, dass ich hinterher Schwierigkeiten habe, die Arme hoch genug zu heben, um mir Wasser ins Gesicht zu spritzen. Meine rechte Schulter schmerzt, ist gerötet und gehäutet. Ich will es fotografieren, aber versuchen Sie mal ein Foto von Ihrer eigenen Schulter zu machen. Hört sich einfach an, ja-ha. Ich schreibe diesen Eintrag übrigens mit eintägiger Verzögerung. Eigentlich wollte ich gleich nach dem gestrigen Ereignis reinhauen. Geistig war ich bei vollem Bewusstsein, aber meine Arme schafften es nicht, meine Hände lange genug über der Tastatur zu halten. Und eh Sie mich für verweichlicht halten: Ich bin in Höchstform. Ich renne mehrmals die Woche mehrere Runden um den Kaiserpalast. Eine Runde gilt wegen der günstigen Citylage als so gesund wie eine Schachtel Zigaretten. Ich bin also bestens durchtrainiert und abgehärtet. Aber der Mikoshi hat mich trotzdem kalt erwischt.

Bei der Manöverkritik nach Absetzen des Schreins merken die Frauen und Asiaten an, dass der Mikoshi viel zu hoch getragen wurde. Ich und andere Normalgroße vertreten die Auffassung, dass er viel zu tief hing. Aber es gibt keine ernsthaften Vorwürfe, es wird bei Sekt, Bier und Brezeln gelacht und getan, denn man ist gemeinsam heilfroh, lebendig aus der Sache rausgekommen zu sein. Und eigentlich sind wir uns sowieso alle einig: Es war eine wertvolle Erfahrung, aber, um David Foster Wallace zu paraphrasieren, in Zukunft ohne uns.

Eine von 127 Millionen (und noch eine)

Ramen Square NY. Warum wirbt ein japanisches Gastronomie-Erlebniszentrum, das sich auf chinesische Nudelsuppen spezialisiert, mit New York im Namen? Das einzige, was mich daran wundert, ist, dass es mich gar nicht mehr wundert. Alles, was ich weiß und wissen muss: Befindet sich in Tachikawa, westlich der Stadt Tokio, innerhalb der Präfektur Tokio, erreichbar über einen Laufsteg direkt vom örtlichen Bahnhof. Etliche Ramen-Blogger haben schon darüber gebloggt.

Bin ich hier etwa auch wegen der Nudeln rausgefahren? Nein, Nudeln gibt’s auch in Tokio, ich bin hier wegen der Musik. (Die Nudeln sind allerdings auch ganz gut, nur als Pescetarier muss man ausnahmsweise mal ein Auge zudrücken, und als noch schlimmerer Tarier alle beide, oder eben Magen knurrt während des Konzerts.)

Zweimal die Woche singt hier Megumi Sakurai zur Begleitung ihrer bis zu vierköpfigen Jazzband. Megumi, wir sind per Vornamen, unterscheidet sich von den meisten Japanern. Die meisten Japaner sagen: „Was auch immer Sie tun – schreiben Sie bloß nichts über mich!“ Megumi hingegen sagt: „Schreib doch mal was über mich!“

Das lass ich mir nicht zweimal sagen. Megumis vorauseilende Bereitwilligkeit zur Berichterstattung begründet sie übrigens haargenau so wie all die anderen Japaner ihre Zurückhaltung in dieser Angelegenheit: „Ich bin doch nicht berühmt!“

Im Gegensatz zu den meisten anderen Japanern hätte Megumi es aber sein können. Das Vorsingen war bestanden, das Bett in der offiziellen Starwohnung frisch bezogen, die Verträge lagen bereit. Aber Megumi kam gerade noch rechtzeitig auf den Trichter, dass frei sein wichtiger ist als berühmt sein, und so reiste sie lieber in der Welt herum, studierte unter anderem in Stuttgart Anthroposophie, die Fantastischen Vier und die deutsche Sprache. Heute schreibt sie Lyrik und Journalismus, legt Karten und malt mit behinderten Kindern. Das muss Ayumi Hamasaki ihr erstmal nachmachen. Und montags und dienstags singt sie im Ramen Square NY den Bossa Nova (der war aber nicht allein schuld) für alle, die es hören wollen. Das sind gar nicht wenige. Die umliegenden Lokale sind beliebt in der Ramen-Szene, ein paar Obdachlose sagen auch nicht nein zu überdachten Gratissitzgelegenheiten mit Musik. Wenn einer zu deutlich schnarcht, muss Trommler Alex halt mal etwas lauter trommeln.

Ich lernte Megumi in der Kleinstadt Kunitachi kennen, mit der unverzichtbaren Chuo-Eisenbahnlinie gar nicht so weit von Tokio. Kunitachi zeichnet sich in erster Linie durch einen Bahnhofsvorplatz aus, der in der Saison ganz besonders eindrucksvoll von Kirschblüten umringt ist. Ich habe leider kein Foto gemacht, weil ich dachte: Kann ich später immer noch machen. Konnte ich aber doch nicht mehr. In zweiter Linie zeichnet sich Kunitachi dadurch aus, dass jeder entlegene Trampelpfad von einer trägen Fußgängerampel reglementiert wird, nur auf der mehrspurigen und pausenlos befahrenen Hauptstraße ist man ampellos dem Schicksal ausgeliefert. Zebrastreifen, das sollte der Reisende wissen, sind in Japan nicht Signal für Autofahrer, dass sie auf Fußgänger achten sollen, sondern umgekehrt.

Und es gibt das Jaran-jaran-goya, ein improvisiertes Mini-Café einer örtlich bekannten Biobauerin.

Hier gibt es gesunden Kuchen und starken Kaffee, und wenn einer Kopfschmerzen hat, wird eine Stimmgabel auf einen Bergkristall geschlagen. Man sollte solchen Kreisen nicht verfallen, aber ein unverbindlicher Besuch alle paar Jahre ist gestattet. Schlechten Menschen begegnet man anderswo.

Megumi (unten rechts im Bild) hatte hier im April das Erdgeschoss für eine Ausstellung ihrer Bilder und Gedichte (gratis) und eine Demonstration ihrer Kartenkünste (300 Yen, Schnäppchen).

Einige ihrer Gedichte sind in deutscher Sprache verfasst, bzw. in einem Remake der deutschen Sprache, das viel besser ist als das Original.

Megumi hat eine tolle Stimme, eine einnehmende und felsenhaft gefestigte Persönlichkeit, sie pflegt einen furchtlosen, beneidenswert poetischen Umgang mit mehreren Sprachen, und sie hat gerade soviel Macke, wie jeder angenehme Mensch braucht, auch wenn man die spezielle Macke nicht teilt. Vielleicht überlegt sie es sich ja noch mal und wird doch noch berühmt. Der Welt würde es bestimmt nicht schaden. Und Sie erinnern sich in diesem Falle bitte daran, wo sie es Sie es zuerst gelesen haben.

Ta-daaa: Noch eine gute Japanerin

Zwei weitere Künstlerinnen stellten ihre Werke im Jaran-jaran-goya aus, als mich Megumi unlängst hinein gelockt hatte. Eine traf ich an, als ich schauen wollte, was sich oberhalb dieser schmalen Treppe befindet (mit im Bild: Megumi droht mit Tee und Karten):

Satoko Kakimoto hat zwar nicht ausdrücklich gesagt, ich solle über sie schreiben, es aber auch nicht ausdrücklich untersagt. Hier ist sie mit ihren beiden Ballons:

Es handelt sich um Luftballons, umgestaltet zu Figuren, die Daruma ähneln, japanischen Glücksbringern, einem wiederkehrenden Motiv in Kakimotos Werk. Aber es gibt auch Ensembles von gefundenen und geschaffenen Objekten, die mich verwirren und mir daher gut gefallen: