Shinto Loveparade

Bei lokalen shintoistischen Straßenfesten ist es Brauchtum, mit großem Hallo und vereinten Kräften Schreine durch die Straßen zu tragen. In Nachbarschaften, in denen Ausländer oder ausländerfreundliche Organisationen beheimatet sind, dürfen auch Ausländer mittragen, was diese offenbar gerne tun. Als ich zum ersten Mal davon hörte, dachte ich spontan: Wow – das interessiert mich null. Zuschauen ja, wenn ich in der Gegend bin und es Getränkeverkauf gibt, aber bestimmt nicht aktiv mitschleppen.

Als aber unlängst die Agentur, die mir meine Tokioter Wohnung vermietet, rumfragte, wer denn gerne den Agenturschrein beim Misaki-Festival im Stadtteil Jimbocho mittragen möchte, reckte ich sofort den Arm in die Höhe und rief: „ICH, ICH, ICH!“ Dabei hatte sich meine Einstellung gar nicht großartig geändert. Aber da war der nuttige Gedanke: Ich mach das, damit meine imaginären Leser was zu lachen haben.

Bei der Agentur handelt es sich übrigens um das berüchtigte Sakura House, einen Rucksacktouristen-Stapler von übelstem Leumund. Bevor es weitergeht, möchte ich gerne kurz eine Lanze für Sakura House brechen. In erster Linie ist die Firma bekannt für ihre sog. Guest Houses, in denen wildfremde Menschen sich Schlaf-, Pflege-, Koch- und Spaßbereiche teilen müssen. Dem Vernehmen nach geht es dort tagtäglich und die ganze Nacht zu wie in amerikanischen Filmkomödien über Studentenverbindungshäuser. Das ist nicht jedermanns Sache, meine ganz sicher nicht, deshalb habe ich um diese Art der Unterbringung zeit meines Lebens einen großen Bogen gemacht und gedenke das weiterhin so zu halten. Wer es mag, hat allerdings meinen Segen, da bin ich altersmilde. Ich gebe nur zu bedenken: Wer Jugendherberge bucht, darf sich nicht beschweren, wenn er Klassenfahrt bekommt. Inzwischen macht Sakura House außerdem zusätzlich in einfachen aber regulär ausgestatteten Hotels und eben auch in ganz normalen Wohnungen, falls es länger und teurer sein darf. So eine habe ich. Sie ist komplett unverdächtig. In einer ganz normalen Nachbarschaft mit Mülltrennung, Müttern und Kindern. Das einzige, was sie von einer wirklich ganz normalen japanischen Wohnung unterscheidet, ist, dass auf typisch japanische Fantasiegebühren wie dem legendären ‚Schlüsselgeld‘ verzichtet wird. Ich bin sehr zufrieden, bisher. Nur einmal bekam ich eine völlig aus der Luft gegriffene Mahnung in etwas aggressivem Ton wegen säumiger Miete, vier Tage nach überpünktlicher Bezahlung. Kurz drauf war das Internet für einen knappen Tag kaputt. Ob zwischen den Ereignissen ein Zusammenhang besteht, weiß ich nicht, aber Schwamm drüber, vergeben und vergessen. Vom Sakura-Ringelpietz bekomme ich nur etwas mit, wenn ich per E-Mail zu Sakura-Ringelpietz-Veranstaltungen eingeladen werde und mich aus freien Stücken darauf einlassen kann oder nicht. Womit wir wieder beim Thema wären.

Wer so einen Schrein, amtlich: Mikoshi, tragen will, muss sich ordentlich anziehen. Unten trägt man Tabi:

Obenrum trägt man einen Happi und ein gequältes Lächeln:

Im Hintergrund sehen Sie den Mikoshi selbst. Hier noch einmal, ohne dass einer die Sicht verstellt:

Im Vordergrund, daher perspektiv ungünstig größer, ist der kleinere Kinderschrein. Ich hatte gehofft, ich könnte mich freiwillig für den melden, aber alle tun so, als hätten sie nichts gehört. Ich werde vorne links am Erwachsenenmikoshi platziert. Als wir das Ding an den dafür vorgesehenen Holzbarren hochheben, bin ich ehrlich schockiert: Das ist ja schwer! Ich meine: richtig schwer! Ich hatte angenommen, es handele sich um eine Spaßattrappe für Touristen. Ich weiß noch nicht, ob ich das bis zum Ende durchhalten werde, oder bis zur nächsten Ecke. Ich weiß auch gar nicht genau, wo das Ende der Strecke ist. Eher 10 Meter oder 10 Kilometer? Ich habe vorher nicht gefragt und mache mir jetzt ein bisschen Sorgen. Uns wurde gesagt, man solle keine Hemmungen haben abzugeben, wenn man nicht mehr kann. Ich habe nach wenigen Sekunden alle Hemmungen verloren, sehe aber nirgends einen, an den ich abgeben könnte. Die, die erstmal nicht rangekommen sind, haben wohl inzwischen mitbekommen, dass das kein Spaß ist und halten sich jetzt in sicherer Entfernung.

Ich muss beim Tragen extrem in die Knie gehen, um mich dem Niveau der anderen Träger anzupassen. Dabei rutscht meine Hose, die ich vorher extra etwas lockerer geschnallt hatte, damit nichts kneift. Ich kann freilich meine Hände weder zum Hosehochziehen vom Schrein nehmen, noch um mir den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen, der dort literweise rauskommt. Die Hose rutscht gottlob nicht komplett hinunter, aber ich sehe inzwischen wahrscheinlich aus wie ein Shinto-HipHopper. Echte Japaner tragen den Mikoshi zwar auch in einem Sumo-artigen Look nahezu arschfrei, aber freiwillig und ohne Hose um die Knöchel.

Das Gewicht des Schreins und die Hitze (die vor wenigen Minuten noch eine lang herbeigesehnte angenehme Wärme war) sind nicht die einzigen Probleme, vielleicht nicht mal die größten. Leider muss man mit dem Schrein auch noch ständig auf und ab wackeln, damit die Bimmeln fein bimmeln. Irgendwas geschrien wird auch. Keiner versteht, was da geschrien wird („Toga, Toga“? „Tora, Tora“?), aber alle machen mit, so gut es geht.

Sportunterrichtsflashback: Mittendrin klatscht mich einer der Aufseher ab. Es kränkt zwar meine Ehre, dass er mich als zu schwächlich erkannt hat, ich bin aber zugleich heilfroh über seine glänzende Auffassungsgabe. Ich habe mich jedoch zu früh geschämt und gefreut, denn er will mich gar nicht meiner Pflicht entbinden, sondern mich nur weiter hinten platzieren. Dort sind nämlich nur Mädchen, die gar nicht richtig mitmachen. Die Gesellschaft hier ist zwar viel charmanter als bei den Angebern da vorne, aber jetzt habe ich das Gefühl, den ganzen Schrein ganz alleine zu tragen. Außerdem stehe ich hier unter ständiger Beobachtung dieses Aufpassers, der es offenbar auf mich abgesehen hat. Immer, wenn ich dabei bin, eine eigene und bequemere Tragetechnik zu entwickeln, quetscht er mich wieder mit starken Händen in die schmerzhafte korrekte Haltung. Wenn jeder Innovationsgedanke, jeder Einfluss von außen im Keim erstickt wird, wird sich nie etwas ändern in diesem Land. Es ist wie in diesem japanischen Sprichwort, das jedem Japaninteressierten schon aus den Ohren rauskommt. Sie wissen schon. Das mit dem hervorstehenden Nagel, der eingeschlagen gehört, wenn er ein guter Nagel sein will. Heute bin ich dieser Nagel. Der Aufpasser soll mal lieber die Damen aus Australien, Europa und ‚Die Staaten‘ darauf hinweisen, dass ab und an die Fingerchen aufs Holz legen nicht als Tragen gilt. Die ganze Last liegt buchstäblich auf meinen Schultern, bzw. meiner rechten Schulter.

Das Ende ist geografisch gesehen überraschend nah. Überspitzt könnte man sagen, dass wir den Schrein nur von hinterm Haus vor das Haus getragen haben. Viel mehr wäre aber auch wirklich nicht drin gewesen. Die ganze Aktion kam einem nicht nur wegen der Anstrengung länger vor, sondern auch, weil sie tatsächlich länger als nötig war. Alle paar Meter wurde angehalten. Nicht etwa um zu verschnaufen, sondern um besonders angestrengt zu wackeln und zu schreien. Hätten wir den Mikoshi ohne viel Theater auf schnellstem Wege ins Ziel gebracht, wären wir schon dreimal fertig. Aber leider geht es um das Theater.

Ich traue mich die Frage, ob wir das Ding auch wieder zurück tragen müssen. Nein, wird uns gesagt, aber wir dürfen, wenn wir möchten. Niemand möchte.

Wie anstrengend war es genau? Es war so anstrengend, dass ich hinterher Schwierigkeiten habe, die Arme hoch genug zu heben, um mir Wasser ins Gesicht zu spritzen. Meine rechte Schulter schmerzt, ist gerötet und gehäutet. Ich will es fotografieren, aber versuchen Sie mal ein Foto von Ihrer eigenen Schulter zu machen. Hört sich einfach an, ja-ha. Ich schreibe diesen Eintrag übrigens mit eintägiger Verzögerung. Eigentlich wollte ich gleich nach dem gestrigen Ereignis reinhauen. Geistig war ich bei vollem Bewusstsein, aber meine Arme schafften es nicht, meine Hände lange genug über der Tastatur zu halten. Und eh Sie mich für verweichlicht halten: Ich bin in Höchstform. Ich renne mehrmals die Woche mehrere Runden um den Kaiserpalast. Eine Runde gilt wegen der günstigen Citylage als so gesund wie eine Schachtel Zigaretten. Ich bin also bestens durchtrainiert und abgehärtet. Aber der Mikoshi hat mich trotzdem kalt erwischt.

Bei der Manöverkritik nach Absetzen des Schreins merken die Frauen und Asiaten an, dass der Mikoshi viel zu hoch getragen wurde. Ich und andere Normalgroße vertreten die Auffassung, dass er viel zu tief hing. Aber es gibt keine ernsthaften Vorwürfe, es wird bei Sekt, Bier und Brezeln gelacht und getan, denn man ist gemeinsam heilfroh, lebendig aus der Sache rausgekommen zu sein. Und eigentlich sind wir uns sowieso alle einig: Es war eine wertvolle Erfahrung, aber, um David Foster Wallace zu paraphrasieren, in Zukunft ohne uns.