Mein erstes Mal in Japan (2): Rockkonzert

Es ist mir ein Bedürfnis, zweierlei zu meinem Maid-Café-Eintrag von neulich nachzureichen. Beim ersten handelt es sich um die Schilderung einer Begebenheit, die ich mir zwar unmittelbar nach meinem Besuch als interessant notiert, aber bei der Schönschrift dann doch vergessen hatte. Und zwar: Gerade als ich das Lokal verließ, kam eine neue Gäste-Clique herein – und die bestand nahezu komplett aus jungen Frauen. Unverdächtigen, recht attraktiven jungen Frauen. Ich will nicht behaupten, dass dadurch auf einen Schlag das Geschlechterverhältnis im Café kippte, aber die Männerquote von zuvor 100% (Personal freilich nicht mitgerechnet) wurde doch beträchtlich gesenkt.

Der zweite Nachtrag ist das Eingeständnis einer faustdicken Lüge meinerseits. Das verräterische Herz böllert nun doch zu heftig gegen die Dielen. Ich habe geschrieben, dass ich am Abend des Tages meines Café-Besuches im Fernsehen eine Folge der Serie ‚Maid Deka‘ gesehen habe. Sie haben es bestimmt längst bemerkt: Das kann gar nicht sein! ‚Maid Deka‘ läuft doch freitags, und das Foto aus dem Maid Café ist eindeutig auf den 2. September 2009 datiert! Und das war ein Mittwoch!

Ja, ich gebe zu, ich habe die Wahrheit für einen dramaturgisch geschmeidigen Abgang geopfert. Und ich würde es wieder tun.

Ich habe die besagte Fernsehserie zwar das eine oder andere Mal gesehen, aber eben nicht an jenem Abend. Tatsächlich habe ich mich nach dem crazy Café keineswegs geschont und ins Private zurückgezogen, sondern – Kaiserüberleitung – habe mich eine weitere persönliche Japan-Premiere getraut: Mein erstes Rockkonzert.

Ticket

Dass ich zuvor kein solches auf japanischem Boden besucht habe, liegt freilich weder an Scham noch an Desinteresse, sondern wirklich lediglich daran, dass gute Reisezeit und gute Konzertzeit nicht immer Schnittmengen haben. Aber diesmal gibt es ein Konzert, das mich interessiert und das günstig liegt: Die Nachfeier zum Erscheinen des Independent-Samplers ‚Kill Your T.V. 09‘ mit mehreren darauf vertretenen Bands, im wesentlichen Gitarrenbands der brummigen Sorte. Es soll im ‚nest‘-Abteil des Club-Komplexes Shibuya O-WEST stattfinden. Auf der Website von Shibuya O-WEST ist eine Karte mit der Lage des Etablissements einzusehen: Püppileicht. Man muss nur scharf am Shibuya 109 vorbei, dann die nächste rechts oder links (je nachdem, an welcher Seite man scharf vorbeigegangen ist), und eigentlich ist man schon da. Das Modekaufhaus Shibuya 109 ist nicht zu übersehen, wenn man in Shibuya ist. Ein kunterbunter Monolith, fliegt man als Tourinaut vorbei, staunt man: „Mein Gott … es ist voller Menschen!“ Vor allem junge Menschen. Betritt man es als über 25-jähriger, sterben bei jedem Besuch ein paar Gehirnzellen. Schuld ist neben der optischen Reizüberflutung die ohrenbetäubende Musik, die die jungen Kunden nicht davon abhält ununterbrochen miteinander zu telefonieren. Bei jungen Menschen sterben die Gehirnzellen übrigens auch, aber in dem Alter ist das ein natürlicher und notwendiger Aspekt der Assimilation, damit man den Rest des Lebens besser meistern kann. Das nur am Rande, ich betrete es ja gar nicht, sondern gehe scharf links daran vorbei. Als hätte ich es geahnt, führt mich die nächste Straße rechts keineswegs zum Ziel. Japaner und ich haben gemein, dass wir leicht zu verstehende Karten komplizierten Karten vorziehen. Wir haben nur eine unterschiedliche Vorstellung davon, wie sich ‚leicht zu verstehen‘ definiert. Ich meine, eine Karte ist gut, wenn jede noch so unwichtige Straße darauf eingezeichnet ist, damit man sich daran orientieren und Abbiegungen abzählen kann. Japaner meinen, eine Karte ist gut, wenn nur die Straßen eingezeichnet sind, die man wirklich benutzt auf dem Weg zum Ziel. Kurzum: Es handelte sich bei der Straße, die ich auf der Karte für ‚die erste rechts nach Shibuya 109‘ hielt, keineswegs um die erste rechts. Sondern ungefähr um die 127. rechts. Die anderen 126 waren nur nicht auf der Karte eingezeichnet, weil man sie ja nicht nehmen muss. Ich verfranse mich ganz schlimm in den Love-Hotel-Hügeln von Shibuya und finde O-WEST erst durch Zufall, als ich längst auf dem Heimweg bin und eigentlich gar keine Lust mehr habe. Habe ich dann aber doch wieder, Erfolgserlebnisse lassen Glückshormone sprudeln.

Das ‚nest‘ ist ein angenehm kleiner Club im siebten Stock. Die Unisex-Klos ein Stockwerk tiefer lassen sich über eine Brooklyn-mäßige Außentreppe erreichen. Die coolsten Kids stehen natürlich nicht im Club, sondern auf dieser Treppe, rauchen und telefonieren. ‚Kids‘ ist richtig, denn das Publikum ist zu einem sehr großen Teil sehr jung, oder scheint zumindest so. Man möchte sich das ein oder andere Mal direkt runterbeugen, die Hände auf die eigenen Oberschenkel legen und fragen: „Ja, darfst du denn schon so lange aufbleiben?“ Aber dann fällt einem ein: Ist ja gar nicht spät, so ein Punkkonzert geht in Japan schließlich schon um 18 Uhr 30 los, damit jeder noch gut per Bus und Bahn nach Hause kommt. Als Tourist gefällt mir der frühe Anfang, als Berufstätiger dächte ich wohl anders. Aber die meisten hier sind eh zu jung für Berufe.

Die erste Band habe ich wegen Orientierungsschwierigkeiten verpasst, aber ich komme genau rechtzeitig zu dem Auftritt, der mir ohnehin Hauptanliegen war: Mass of the Fermenting Dregs, ein Girl-Rock-Duo mit Quoten-Boy am Schlagzeug. Eigentlich finde ich die gar nicht gut, aber ich wollte das Konzert nutzen, mich eines besseren belehren zu lassen, denn ‚ALLE‘ finden die gut. Die hochgelobten beiden EPs der Band sagten mir nicht viel, ich fand den Sound dünn und die Kompositionen wenig bemerkenswert. Vielleicht aber, so der Gedanke, sind sie live besser, wäre bei dieser Art von Musik kein Einzelfall. Und genau so kommt es: Live hat der Sound mehr Bass und Brett, die Musik haut einem wunderbar eine runter. Sängerin Natsuko Miyamoto interagiert begeistert mit dem Publikum, Gitarristin Chiemi Ishimoto bleibt weitgehend stumm und schüttelt genreimmanent ihr Haar. It’s a beautiful noise, um es mit Metal-Legende Neil Diamond zu sagen.

Da dieses Konzert in der englischsprachigen Veranstaltungspresse der Leserschaft recht warm ans Herz gelegt wurde, wundert es mich ein wenig, dass ich einer von nur sehr wenigen offensichtlichen Ausländern bin. Zwei Amerikaner halten sich an ihren Bierdosen fest (an meiner wär unangenehmer), ein sympathisches italienisches Biker-Paar im fortgeschrittenen Alter kauft euphorisch nach jeder Band den Merchandising-Stand aufs neue leer. Ein Merchandising-Produkt, das ich in Deutschland selten bei Independent-Konzerten sehe, das hier aber sehr beliebt scheint, ist das Handtuch mit Aufdruck. Außerdem anders: Zu Stoßzeiten stehen die Kaufinteressierten gesittet an, anstatt die Verkäufer als brüllende Menschentraube kollektiv zu zerquetschen.

Sagte ich gerade etwas von Bierdosen? Gut möglich, denn Bier wird an der Theke in Dosen verkauft. Hat der japanische Musikliebhaber seine Dose ausgetrunken, wirft er sie in den dafür vorgesehenen Behälter. Man stelle sich das mal in Deutschland vor: Ein Rockkonzert, bei dem pfandloses Dosenbier verkauft wird. Vielleicht würde gar nichts passieren.

Angenehm ist, dass die Menschen wirklich zum Feiern der Musik und Musiker hier sind. In Deutschland scheint dieser Tage die Hälfte der Gäste nur deshalb ein Konzert zu besuchen, um es von vorne bis hinten mit dem Handy oder der Spiegelreflexkamera abzufilmen oder abzufotografieren. Ich finde es bedauerlich, dass die deutschen Konzertveranstalter derart eingeknickt sind vor der Technik und inzwischen so gut wie alles durchgehen lassen. Sie werden sagen: „Ach, wir können den Leuten doch nicht ihre Telefone nehmen!“ Ich sage: Könnt ihr wohl! Könnt sie nehmen, zu Boden schmeißen, drauftreten, und den ehemaligen Handy-Besitzer ohne Becherpfand nach Hause schicken.

Mag sein, dass das Fotografieren und Mitschneiden bei Michael Jac Madonna noch heute verboten ist. Aber bei den Kurkonzerten, auf denen ich mich bewege, herrscht inzwischen überall gestresstes und stressiges Knipsen und Filmen, ohne dass es uniformierte Stiernacken mit Funkgerät juckt. Man weiß heutzutage ja auch gar nicht mehr, was man überhaupt darf oder nicht darf. Das liegt an der Abschaffung der vorproduzierten Eintrittskarte. Früher hatten Konzerteintrittskarten vorne drauf ein farbiges Bild eines Monsters mit einer Axt oder einer Gitarre, und auf der Rückseite standen allerlei kleingedruckte Verbote. Heute gibt es Konzertkarten nur noch als Print-on-Demand-Abreißzettel mit Künstlername, Ort, Datum und Uhrzeit. Man macht sich nicht die Mühe, alle Verbote in die Druckmaschine einzugeben.

Glauben soll man bitte nicht, dies sei der Beginn eines Lamento darüber, dass es sie nicht mehr gäbe, die schönen Dinge. Es gibt im Gegenteil immer mehr schöne Dinge, man muss nur die Augen ein bisschen aufsperren, dann sieht man sie. Der Verlust der bibliophilen Konzertkarte ist zu verkraften, wenn man aus dem Pinnwand-Alter raus ist. In Sachen musikalischer Stilrichtungen werde ich mit zunehmendem Alter immer offener, in Bezug auf die Präsentation von Musik zunehmend puristischer. Was mich am Tod des Tonträgermarktes ein wenig traurig stimmt, ist der Verlust von Plattengeschäften. Auf Platten selbst, ob groß oder klein, schwarz oder silbern, kann ich aber gut verzichten. Der Cover-Artwork-Unsinn und Sammler-Editionen-Schwachsinn kaschiert nur, ist eitles Blendwerk, hat nichts mit Musik zu tun. Ach, da höre ich schon wieder einen heulen: „Aber … aber … Plattencovers sind doch eine Kunstform, noch dazu eine in der Kunstformengeschichte sträflich vernachlässigte!“ Darauf sage ich: Vernachlässigt – papperlapapp! Jedes Jahr müllen Hunderte Plattencover-Ausstellungen ansonsten grundanständige Museen zu, in den Museumsshops liegen Tausende Plattencover-Bildbände (Zahlen geschätzt), man komme mir nicht mit der Rede von der vernachlässigten Kunstform. Ich mag das nicht mehr sehen. Irgendwann ist eine Banane nur Banane. Liegt ja außerdem auch ohne Platte jedem Künstler frei, Kunstwerke im Format 30 x 30 cm zu schaffen. Wenn die gut werden, schaue ich sie mir an. Musik aber kaufe ich wegen der Musik.

Mehr noch als mich die Filmerei auf Konzerten stört, quält mich die Frage, was die Filmer hinterher damit anfangen. Kann mir keiner erzählen, dass man sich das unscharfe, übersteuerte Gewackel jemals wieder ansieht. Früher, zu BRD-Zeiten, als alles noch verboten war, konnte man mit solchen Aufnahmen Geld machen. Aber heute würde niemand in einer Jugendzeitschrift annoncieren: „Biete einen Videomitschnitt eines kompletten Konzertes der französischen Kneipensängerin Berry, aufgenommen am ersten Herbstabend 2009 in München, also als sie noch cool war, bevor ‚ALLE‘ sie gut fanden. Auf der Tonspur ist es mir gelungen, die Bestellvorgänge an der Theke besser herauszuarbeiten als den Gesang der quirligen Grinsekatze aus dem schönen Paris, und die Farben schwanken zwischen ausgebrannt und verwaschen, weil die Lichtverhältnisse bei Konzerten Laienfilmer und ihre Ausrüstung regelmäßig überfordern. Abzugeben gegen 200 Mark in Briefmarken, eine Videokopie des Spielfilms ‚Ein Zombie hing am Glockenseil‘ (höchstens 5. Generation) und eine Bravo-Kissogram-Karte des New-Romantic-Paradiesvogels Steve Strange.“ Würde heute keiner machen. Hätte nämlich schon jemand gratis bei Youtube hochgeladen, woraufhin es bald ein angemeldeter Nutzer mit fünf Sternen bewertet und folgenden Kommentar dazu geschrieben hätte: „alter kuck mal der ausschnitt von die alte HECHEL ROFL HECHEL ;-p“ Kurze Zeit darauf wiederum hätte ein Youtube-Systemadministrator Video und Kommentar gelöscht, weil sich eine US-amerikanische Hausfrau und Mutter, die in dieser Eigenschaft auch Mitglied eines diesbezüglichen Interessendurchsetzungsverbandes ist, beschwert hätte, dass das Video wegen dem Ausschnitt von die Alte not appropriate for family viewing sei. Sowas könne man vielleicht im liederlichen Paris oder im roten München tragen und zeigen, aber in den USA weckt der Anblick schlimme Erinnerungen an das dunkelste Kapitel der jüngeren US-Geschichte. Ich sage nur: Garderobenfehlfunktion.

Aber ich schweife ein wenig ab. Wir sind nicht im liederlichen Paris, und nicht im roten München, sondern im griebigen Tokio.

Die Bands nach Mass of the Fermenting Dregs spielen in der Mehrheit etwas, für das ich jetzt mal den Begriff Krawatten-Punk als geflügeltes Wort etablieren möchte, also harte aber disziplinierte Musik, dahinter stecken mehr Gedanken als nur ‚Rülps‘, die Frisur sitzt. Baller-Musik für Kunststudenten, wie es mir gefällt. Mindestens einmal ins Publikum springen ist für jeden Act Pflicht. Da hin und wieder doch mal jemand ein Foto knipst, lege auch ich meine Scheu ab und knipse Gitarrist und Sänger der letzten Band, nachdem sie ins Publikum gesprungen sind um dort weiterzuspielen. Wie Laien-Konzertfotos so sind, sind auch meine nichts geworden. Eines sei hier abgebildet, die Pfeile markieren Musiker.

Rock
Diese letzte Band, die ich für mudy on the 昨晩 halte (bin mir aber nicht sicher und nach fruchtloser Recherche zunehmend unsicherer), übertreibt es ein wenig mit der Publikumstuchfühlung. Ständig dieses Geschrei: „Shibuyaaa!“ Beim ersten Mal schreie ich begeistert zurück: „Yeeeaaah!“ Will sagen: „Yeah! Ich bin auch Shibuya! Ich sage es laut und stolz!“ Aber irgendwann wird aus dem Shibuyaaa-Gegröle doch nur lästige Anbiederung. Wir wissen schließlich, wo wir sind, und dass wir die Coolsten sind, weil wir da sind, wo wir sind.

Falls es sich bei der anbiedernden Gröl-Bande nicht um mudy on the 昨晩 handelte, und davon gehe ich beinahe aus, bitte ich mudy on the 昨晩 in aller Form um Entschuldigung. Liebe mudy on the 昨晩, ihr seid bestimmt ganz toll und gar nicht anbiedernd.

Bonus-Track
Mein zweites Mal in Japan: Rockkonzert

Mir hat das Kill-Your-T.V.-Konzert so viel Spaß gemacht, dass ich am nächsten Tag noch mal hingehe. Ist ein anderes Konzert unter anderem Motto, aber ebenfalls im Shibuya-O-WEST-Komplex und zufällig ebenfalls mit einer Band als Headliner, die auch auf der Compilation von gestern vertreten ist: OGRE YOU ASSHOLE. Ich hielt den Namen zuerst für einen typisch japanischen Unsinnsnamen, er geht aber zurück auf ein Zitat aus dem amerikanischen Filmklassiker ‚Die Rache der Eierköpfe‘.

Diesmal findet alles im ‚crest‘ statt im ‚nest‘ statt. Der Club ist noch etwas kleiner, dafür ist ein lauschiges Alternativ-Café vorgeschaltet. Wieder sind viele Kinder da, nicht wenige sehen so aus, als würden sie ihre Freizeit eher in der außerschulischen Handarbeits-AG als auf Punkkonzerten verbringen. Und gerade dieser Umstand rührt mich sehr. Hier scheint es kein Coolness-Diktat zu geben. Alle stehen ja offenbar auf die gleiche Musik, also können sich auch alle verstehen. Da muss keiner keinem die Unterhose langziehen oder den Kopf in der Kloschüssel waschen.

Die erste Band ist ein ganz erstaunliches Trio mit zwei Schlagzeugen und zwei Macbooks. Ihre Musik setzen D.V.D in Echtzeit als Computergrafiken um, die hinter ihnen auf einer Leinwand zu sehen sind. Zuerst denke ich: Ach, so ein Konzept-Scheiß. Aber dann bin ich hin und weg. Als dramatischer Höhepunkt wird per Musik Pong gespielt.

Hernach spielen die liebenswerten Uri Gagarn ein kräftiges Krawatten-Punk-Set mit verschmitzten Ansagen. Das wird mit CD-Kauf belohnt. Hinterher muss ich feststellen, dass das wieder so eine Band ist, die live mehr bringt.

OGRE YOU ASSHOLE sind leider ein zu souveräner Headliner. Die können schon was, aber um es britisch zu vergleichen: Es klingt zu häufig doch zu sehr nach Coldplay als nach Sex Pistols. Ich weiß, das ist gemein, ich bin sonst auch nicht so. Aber nach zwei überaus sympathischen und einigermaßen originellen Bands ist die Pop-Punk-Routine von OGRE YOU ASSHOLE doch etwas enttäuschend. Ich fordere: Uri for headliner!