Nagoya, mon amour fou [Kaiho-Kolumne]

In der (gerade noch so) aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Japan sucht die Superskandalnudel zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung.

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Neulich ist mir aufgefallen: Ich war schon lange nicht mehr in Nagoya. Als Spötter könnte man nun fragen: Warum auch? Nagoya hat den Ruf, das Hannover Japans zu sein. Etwas provinziell, etwas eigenschaftslos, ein Ort für Dienstreisen ohne Verlängerung. Dieser Wahrnehmung möchte ich zugleich beipflichten und ihr widersprechen. Nagoya ist tatsächlich so etwas wie das japanische Hannover. Allerdings hängt schon bei Hannover die allgemeine Wahrnehmung schief. Hannover ist schön, gemessen an seiner Größe überraschend urban, und von der subkulturellen Agilität könnte sich München gleich ein paar Scheiben abschneiden und wäre immer noch weit hinterher. Mein letzter Besuch Hannovers bestand aus Spaziergehen mit meinen Eltern. Mein vorletzter bestand aus dem Besuchen eines Punk-Konzerts mit einem PKW voller aufgekratzter betrunkener Jugendlicher. Für beides und vieles dazwischen bietet Hannover die ideale Kulisse.

Ich weiß nicht viel über die Underground-Szene Nagoyas, doch ich war von Anfang an angetan von der Unkompliziertheit und Urbanität der Stadt. Dieser Anfang war 2005, als in Nagoya die Weltausstellung Expo stattfand (fünf Jahre nach Hannover, drolligerweise). Genau die wollte ich mir anschauen, weil ich gerade in der ungefähren Gegend war und Gutes darüber gehört hatte (im Gegensatz zu Deutschland hört man in Japan manchmal Gutes über Großveranstaltungen). Meine Abfahrt nach Nagoya hatte sich jedoch verzögert, wodurch mir kaum genügend Zeit für eine ganze Weltausstellung geblieben wäre, wenn ich am selben Tag wieder abreisen wollte. Deshalb entschloss ich mich, die Expo sausen zu lassen und einfach planlos durch die Stadt zu laufen. Eine Stadt, die mir auf Anhieb gut gefiel und zum Weiterlaufen einlud. Danach gefiel sie mir so gut, dass ich beschloss, sie zur Basis meiner nächsten Japan-Reisen zu machen, denn ich war Tokio ein wenig überdrüssig geworden (unser Verhältnis ist inzwischen gekittet und unsere Liebe stark wie nie). Nagoya war mir die perfekte Alternative. In Osaka verlaufe ich mich immer. Sapporo und Fukuoka sind ein bisschen weit weg von allem. Gegen Kobe ist nichts einzuwenden, es hat mich aber nicht ganz mit dem gleichen warmen Bauchgefühl empfangen wie Nagoya. Und Kyoto … Kyoto ist natürlich schön. Es ist verboten, etwas anderes zu sagen. Wäre es nicht verboten, könnte man zugeben, dass Kyoto nur in seinen schönen Ecken schön ist. Wunderschön. Dazwischen ist die Stadt aber recht unattraktiv, was gerade an den strengen Bauvorschriften liegt, die verhindern sollen, dass Kyoto hässlich wird. Hässlichkeit kann ja ein Vorteil sein, eine eigene Form der Attraktivität. Kein Schwein hat irgendwelche Vorschriften erlassen, die Tokio vor der Hässlichkeit bewahren sollten. Das Resultat ist ein ganz wunderbares Monstrum. Kyoto hingegen ist außerhalb seiner ausgewiesenen Schönheitsgegenden recht fad. Nicht hübsch, nicht hässlich. Da kann man auch gleich in Nagoya bleiben, wo es eher so aussieht, wie es in einer japanischen Großstadt aussehen sollte.

Wie genau bin ich neulich dazu gekommen, seit längerem mal wieder an Nagoya zu denken? Für eine meiner Online-Präsenzen stellte ich einen Adventskalender mit Japan-Fotos zusammen, und dabei stieß ich auch auf Zeugnisse meiner Nagoya-Phase. Sofort überkam mich wieder die alte Liebe. Und doch stellte ich am Ende fest, dass ich kein einziges Nagoya-Foto für den Kalender ausgewählt hatte. So sehr ich diese Phase genossen habe, so wenig habe ich es geschafft, meine Liebe in überzeugende Beweisfotos zu verwandeln.

Eine Stadt ist eben mehr als ihre Sehenswürdigkeiten, mehr als der Glanz ihrer Oberfläche, oder die Abwesenheit oberflächlichen Glanzes. Manchmal ist ihr ganz besonderer Reiz schwer abbildbar, bezifferbar, beschreibbar. Manchmal ist es eben das Gefühl, das einen dort überkommt, das Je ne sais quoi. Das Gefühl, nach Hause zu kommen, obwohl man nie dort gelebt hat. Und so stimmt es: Nagoya ist das Hannover Japans. In anderen Worten: Die wohl unterschätzteste Stadt des Landes. Und sie wird es bleiben, denn sie ist etwas für den besonderen Geschmack. Man hat ihn, oder man hat ihn nicht. Man versteht es, oder man wird es nie verstehen.