Eine Geschichte von Mann und Frau im Supermarkt

(Monat der bildlosen Sprach- und Medienkritik, Episode IV)

Geh ich letzte Woche Supermarkt, steht da Kind. Mitten im Gang, mir den Rücken zugewandt den Weg versperrend, möglicherweise mesmerisiert vom Obstangebot bei uns im Westen oder den Preisunterschieden bei Radieschen. Es war nicht weiter tragisch, Kindern räume ich uneingeschränktes Steh- und Starrrecht ein. Sie müssen in ihrem eigenen Tempo und von ihrem eigenen Standpunkt aus die Welt wahrnehmen und begreifen lernen dürfen. Sie können noch nicht wissen, dass die Welt hinter ihrem Rücken weiterexistiert und dort einer sein könnte, der vorbei möchte. Tragisch ist dieses Unwissen nur, wenn Erwachsene es an den Tag legen, was leider einerseits auch häufig der Fall ist, zum Glück andererseits hier nicht das Thema ist. Die Situation wurde außerdem schnell von der Mutter (nehme ich an) deeskaliert, die dem Kinde mütterlich bestimmt sagte: „Lass doch mal den Mann da durch!“

Das Kind wich, ich ging da durch, die Welt drehte sich weiter. Doch irgendetwas störte mich. Irgendetwas an dem, was die Mutter gesagt hatte. Ich kam allerdings ums Verrecken nicht drauf, was es war. Das fehlende ‚bitte‘ war es nicht, es war schließlich keine Bitte. Es ging um eine Selbstverständlichkeit ohne Verhandlungsspielraum, nicht um den Vorschlag des Tuns eines Gefallens. Am Ton war auch nichts auszusetzen. Keine Spur von der Hysterie, mit der Mütter sonst häufig mit ihren Kindern im Supermarkt umspringen, wenn die es wagen, sich kindgerecht zu verhalten. (Ja, ja – hier quatscht einer, der selber keine hat. Und wissen Sie was? Der hat trotzdem recht.) Der Ton war vernünftig, angenehm autoritär, kein bisschen diktatorisch. Geht doch.

Bald hatte ich meinen diffusen Unmut vergessen, war von anderen Fragen bewegt. Wein oder Wasser? Jever oder Fun? Kann man Nudeln mit Ebly essen, oder wäre das Hartweizenoverkill?

Irgendwelche Antworten wurden gefunden. Als ich an der Kasse war, trat in entgegengesetzter Abfertigungsrichtung eine Ex-Einkäuferin an den Kassierer heran, sie hatte wohl eine Reklamation. Um den Abfertigungsfluss nicht länger als nötig aufzuhalten, rief der Kassierer einen vorübergehend untätigen Kollegen herbei: „Kannst du bitte mal der Frau helfen?“

Wieder gefiel mir etwas nicht. Dabei auch hier: Ton und Umgang auf allen Seiten tadellos. Weder war die Reklamistin eine wilde Furie, noch war der Kassierer einer von denen, deren Körpersprache und Tonfall unmissverständlich kommunizieren: „Pah, eigentlich bin ich gar kein Supermarktkassierer! Eigentlich habe ich In-der-Nase-Bohren und Löcher-in-die-Luft-Starren auf Lehramt studiert!“ Alle schienen glücklich darüber, miteinander interagieren zu dürfen. Es war der reinste Hippie-Supermarkt.

Dann wachte ich auf. Sinnbildlich gesprochen. Tatsächlich war ich noch immer im Hippie-Supermarkt und alles war wie vorher. Aber ich wusste jetzt, was mich störte. Mann? Frau? Müsste das nicht „Herr“ und „Dame“ heißen? Mann und Frau sind Begriffe aus der Biologie, gut geeignet zur Geschlechtsbestimmung der Spezies. Spricht man jedoch von Einzelpersonen, noch dazu von anwesenden, ist die Respektform wohl kaum zu viel verlangt.

„Aber, aber!“, mischt sich der Kassierer ein, denn jetzt befinden wir uns tatsächlich in einem Traum (im Hintergrund tanzt ein Zwerg rückwärts, wie in jedem Traum). „Bei meinem Einbürgerungstest habe ich gelernt, dass der mittelhochdeutsche Begriff ‚Frau‘, vom mittelalterlichen ‚frouwe‘, durchaus eine ehrenvolle Anrede ist, es hieß nämlich ursprünglich so viel wie ‚Gebieterin‘, kann also neben dem Herrn bestehen. Unterschieden wird nicht so sehr zwischen Dame und Frau, sondern zwischen Frau und Weib. Beim ‚Mann‘ haben Sie allerdings recht, Digger.“

Mit pfiffiger Retoure, die einem immer erst Tage später einfällt, hätte der Dialog mit der vermuteten Kindesmutter sich folgendermaßen anhören können:

Mudder: „Lass doch mal den Mann da durch!“

Icke: „Für Sie immer noch: der Herr da!“

Gut, dass einem so was nie spontan einfällt, denn selbstverständlich wäre das meinerseits hochgradig unhöflich gewesen. Lieber die Klappe halten und eine Woche später was in den Blog murmeln.