Viele schöne Dinge geschehen jeden Tag, doch manchmal muss ich seufzen. In letzter Zeit hat das häufig mit Krimis zu tun. Wenn sich hoch angesehene Gelegenheitskrimiautorinnen vom Genre distanzieren („War alles nur Spaß!“ – Isabel Allende). Wenn hoch angesehene Vollzeitliteraturkritikerinnen das Genre für nicht ganz vollliterarisch nehmen („Man muss einfach die Latte ein bisschen tiefer hängen – mein Gott, es ist ein Krimi!“ – Iris Radisch). Wenn Katzenkrimiautoren und -autorinnen im Verein ausflippen (Sie wissen schon). Ich muss seufzen, weil es so anstrengend ist. Es ist so anstrengend, immer wieder dasselbe zu erklären. Immer wieder das zu erklären, was erkenntnismäßig banal weil selbstverständlich sein sollte. Zu erklären, dass Literatur Literatur ist, egal ob sie Polizisten, Astronauten, Kriegsflüchtlinge, Reedereifamilien oder Content Manager als Protagonisten hat. Zu erklären, was dabei die Aufgabe von Literaturkritik ist. Zu erklären, dass Scheiße stinkt. (Ich bin eigentlich kein Freund von Fäkalsprache, aber der Satz hatte mit ‚Scheibenkleister‘ nicht das gewünschte Geschmäckle.) Viele Menschen wissen das wirklich noch nicht, so hat es den Anschein. Weil das Erklären aber so anstrengend ist, seufze ich meist nur und verlasse mich darauf, dass jemand anderes sich die Mühe schon machen wird, wie zum Beispiel Zoë Beck es in der Krimi-als-Halbliteratur-Debatte getan hat, und ich dann einfach nur noch kurz beipflichten muss, bevor ich essen oder fernsehen gehe.
Tief in mir weiß ich, dass das keine anständige Haltung ist. Dass das so nicht geht. Deshalb hole ich jetzt einmal tief Luft und erkläre das, was wohl Erklärungsbedarf hat, selbst wenn mir die Gründe dafür schleierhaft sind, und selbst wenn andere es auch schon erklärt haben. Vielleicht macht es ja tatsächlich die Masse. 1. Worum es in der Kriminalliteratur geht Das ist eigentlich ganz einfach. In der Kriminalliteratur geht es um das, was Menschen sich und anderen antun. Es geht um die Schnittmenge und die Differenzmenge von Gesetz und Gerechtigkeit. Es geht um persönliche und gesellschaftliche Vorstellungen von Sitte und Moral. Es geht um den Blick in eigene Abgründe und in die anderer. Es geht um Liebe, Hass, Wirtschaft und Politik. Es geht um Schuld und Sühne, um Leben und Tod. Wenn das keine vollliterarischen Themen sind, muss ich wohl noch mal nachsitzen. 2. Worum es bei Literaturkritik geht Selbstverständlich braucht es für anständige Literatur mehr als nur ein hochwertiges Thema. Ein gewisser sprachlicher Anspruch sollte ebenso erfüllt werden, wie ein kunstvolles Variieren oder Brechen erzählerischer Regeln vonnöten ist. Es gibt qualitative Unterschiede zwischen Jerry Cotton und David Peace, genauso wie es in der erotischen Literatur qualitative Unterschiede zwischen Henry Miller und 50 Shades of Grey gibt. Es ist Aufgabe der Literaturkritik, fundiert auf diese hinzuweisen. Es ist nicht Aufgabe der Literaturkritik, Latten automatisch niedriger zu hängen, wenn irgendwo ‚Krimi‘ steht. ‚Fundiert‘ ist das Schlüsselwort. Wer über Literatur urteilt, muss sich mit Literatur auskennen. Wer sie produziert, ebenso. Wer sich auf der einen oder anderen Seite mit Kriminalliteratur beschäftigt, muss sich mit Kriminalliteratur auskennen. Wer glaubt, Krimi (oder Science-Fiction, oder erotische Literatur, oder Naturlyrik) sei ein seichter Zeitvertreib, wird auf diesem Gebiet nur Seichtes zustande bringen, als Autor wie Kritiker. Das bringt uns zu den schreibenden Touristen in der Welt der Genreliteratur. Sie sind uns willkommen, Touristen sind toll. Solange sie sich zu benehmen wissen und aus den richtigen Gründen reisen. Die Science-Fiction ist mehr noch als die Kriminalliteratur ein beliebter Tummelplatz für Schreiber aus anderen Disziplinen, die schnell mal vorbeischauen, weil sie meinen, Science-Fiction sei einfach. Oder sie haben einen noch verheerenderen Grund: Sie meinen, Science-Fiction sei zu schade für Science-Fiction-Autoren. Sie haben da eine tolle Idee, etwas Wichtiges zu sagen über Gentechnik/künstliche Intelligenz/Überwachungsstaat und packen das flugs in einen Science-Fiction-Roman, obwohl sie doch eigentlich Suhrkamp-Fiction-Autoren sind. Das Feuilleton reagiert interessiert bis begeistert über soviel Mut (bei Schauspielerinnen gibt es ein ähnliches Phänomen, den viel beschworenen ‚Mut zur Hässlichkeit‘; also wenn eine mal eine Brille aufsetzt). Im Lager erfahrener Science-Fiction-Leser hingegen wird mit großem Gähnen reagiert: Die Ideen der Touristen sind nicht neu, sie wurden von gewohnheitsmäßigen Science-Fiction-Autoren schon vor Jahren genauer und origineller verarbeitet. Nur weiß man das nicht, wenn man sich mit Science-Fiction nicht auskennt. Damit muss man sich aber auskennen, wenn man welche schreiben will. Oder über sie schreiben will. Es hilft nicht, aus Bequemlichkeit für sich selbst einfach die Latte tiefer zu hängen. Nun mag man darauf hinweisen, dass echte Science-Fiction (oder echter Krimi, oder …) viele Vollliteraturleser über das sprachliche Niveau abschreckt. Stimmt – grauenhaft, was uns da teilweise zugemutet wird. Vieles ist wirklich allzu grundlos kunstlos. Genauso wie in höher angesehenen Gattungen vieles grundlos verschwurbelt ist. Genauso wie mancher Krimi sprachlich brillant ist. Mit schlecht geschriebener Literatur darf und soll man hart ins Gericht gehen, da gilt kein „ist doch bloß Krimi“. Genauso muss gute Kriminalliteratur als gute Literatur anerkannt werden. Ein Literaturkritiker muss, muss, muss das wissen. Zoe Bëck weist im schon erwähnten Artikel auf eine angesichts jüngster Entgleisungen im Katzenkriminalistenlager wieder akut gewordene Gretchenfrage hin: Trennung oder Nichttrennung von Werk und Autor? Sie nennt beispielhaft die amerikanischen Bestsellerautoren John Grisham und Michael Crichton, die sich in ihren politischen Ansichten einigermaßen konträr gegenüberstehen bzw. -standen, was sich in ihrem Werk niederschlägt. Man kann das nicht wegdiskutieren; es überhaupt zu diskutieren ist eine weitere Aufgabe der Literaturkritik. Autoren und Leser, die behaupten, was sie schreiben beziehungsweise lesen, sei doch „bloß reine Unterhaltung!“, sind in der Regel die, die man am genauesten im Auge behalten sollte. Ich kann allerdings ein Stück weit Entwarnung geben: andere Meinungen sind nicht per se ansteckend. Wer sich seiner eigenen Ansichten sehr sicher ist, muss keine Angst davor haben, Bücher zu lesen, in denen andere Ansichten vorkommen. Ich persönlich entwickle auf meine alten Tage ein gewisses Faible für Spionagekrimis vor internationaler Kulisse. Unter den Autoren und Protagonisten ist leider selten ein liberaler Geist zu finden. Es stört mich ein bisschen, hindert mich aber nicht. Übrigens kenne ich (flüchtig) ein paar Hallodris, die ich (grob) der autonomen Szene zurechnen würde. Die gucken jeden Sonntag mit religiösem Eifer Tatort. Wenn Tatort vorbei ist, mobilisieren sie wieder gegen „Bullenschweine“. Trennung von Fiktion und Fakt ist machbar, Herr Nachbar. Folgt man Autoren länger, kann man überdies bisweilen interessante Wandlungen feststellen. Thriller-Autor Barry Eisler beispielsweise war anfangs seiner Karriere ein recht strammer Republikaner im amerikanischen Sinne, inzwischen ist er eine Art liberaler Aktivist, im amerikanischen Sinne fast schon unamerikanisch. Wenn einer innerhalb eines vernünftigen Rahmens eine andere politische Meinung vertritt als ich, dann sehe ich ihm das für gewöhnlich nach, denn sowas kommt in einer Demokratie nun mal vor. Bei der Frage, ob einer eher auf Arbeitnehmer- oder Arbeitgeberseite steht, kann man die Latte etwas tiefer hängen, um Menschen geht es auf der einen wie der anderen Seite. Vertritt ein Autor konservative Ansichten auf eine spannende und intelligente Art, lese ich das gerne, denn ich lese gerne spannende und intelligente Bücher. Außerdem gibt es kaum Langweiligeres, als immer nur Autoren zu lesen, die alles ganz genau so sehen wie man selbst. Anders sieht das aus, wenn Autoren Menschenverachtendes verbreiten, sei es in ihrem Werk oder in ihrem Reden. Damit kommen wir zur erstaunlichsten Erkenntnis der heutigen Unterrichtseinheit: 3. Scheiße stinkt (wissenschaftlich erwiesen, statistisch belegbar) Das wird man ja wohl noch sagen dürfen. Michael Crichton lese ich nicht mehr, weil mich sein leicht durchschaubares Handwerksvertrauen irgendwann langweilte. Sein krauses konservatives Weltbild hat damit nichts zu tun, das kann ich mit einem altersmilden Lächeln abtun. Akif Pirincci, Sibylle Lewitscharoff, Orson Scott Card hingegen lese ich nicht mehr, weil ihre irren Äußerungen zu Frauen, Homosexuellen, Zuwanderern und anderen Menschenskindern auf keine Kuhhaut gehen. (Bei Pirincci können wir uns noch ein bisschen an die Theorie klammern, dass das Ganze nur ein experimenteller Satire-Scherz mit schlecht versteckter Kamera ist, wie damals, als Joaquin Phoenix Rapper werden wollte. Aber ich fürchte, diesmal wird es keine Erlösung mit nervösem Lachen geben.) Das hat nichts mit der sogenannten political correctness, dem imaginären Lieblingssündenbock des Stammtischs, zu tun, sondern mit gesundem Menschenverstand. Es ist egal, ob all die jüngst geäußerten Ansichten der betreffenden Autoren alle ihre Werke durchdringen oder nicht. Ich möchte auch die alten Texte nicht neu lesen, um nach Frühwarnzeichen zu suchen, die mir zunächst entgangen sein könnten. Text und Texter sind nicht zu trennen, das ist ein Grundprinzip künstlerischen Schaffens. Man kann ein Werk ebenso wenig unabhängig von seinem Schöpfer betrachten, wie man es unabhängig betrachten kann von der Zeit und der Kultur, in der es entstanden ist. Da muss ein jeder für sich selbst Grundsatzentscheidungen fällen. Ich könnte es grundsätzlich nicht über mich bringen zu sagen: Die Autorin äußert sich zwar menschenverachtend, aber Schwamm drüber, wo doch ihr Katzenbuch so putzig ist. Selbst mit der Deutschen Lieblingsthema, „mein Geld“, ließe sich argumentieren. Liebend gerne zahle ich in die GEZ-Kasse, allein der Sonntagnachtkrimi im ZDF ist es mir wert, jedoch nicht in die Tantiemen-Kassen windiger Demagogen. Die Zeit hatte sich unlängst die Mühe gemacht, Verteidiger von Pirinccis Unsinnsschrift zu besuchen und zu verstehen. Bei denen kristallisieren sich zwei Gemeinsamkeiten heraus: sie haben das Buch, dem sie uneingeschränkt beipflichten, noch nicht gelesen, und sie haben den Eindruck, dass Zeit-Schreiber und vermutlich ein Großteil ihrer Leser außerhalb der Realität leben, denn sonst würden sie ja wissen, dass ausländische Schlägerbanden längst ganze Hauptstadtteile unter ihre Kontrolle gebracht hätten und bald auch den Rest der Republik. Es werden Beispiele genannt, an denen wohl was dran ist. Allerdings: Für jedes von ausländischen Rüpelbanden terrorisierte Freibad lässt sich mit Sicherheit ein von Skinheads national befreites Provinzkaff ausmachen. Ich kann nicht behaupten, dass mir das weniger Sorgen bereitet. Mit Realitäten ist das immer so eine Sache. Wenn einer Ausländisches und Ausländische um sich herum eher als Bereicherung denn als Bedrohung wahrnimmt, lebt er dann nicht in der Realität? Lebt er in einem Alternativuniversum, einer Paralleldimension, im obersten Stock eines Elfenbeinturms auf einem goldenen Honig-Planeten am äußersten Rand der Milchstraße? Nö, ich nicht. Ich lasse mir nicht absprechen, dass meine Realität weniger real ist als die anderer, nur weil sie nicht von lebensbedrohlichen Extremsituationen geprägt ist. Gehe ich rechts aus dem Haus, komme ich vorbei an einer Alte-Herren-Säuferkneipe, fest in deutscher Hand. Gehe ich links aus dem Haus, komme ich an einem türkischen Café vorbei. Beides koexistiert friedlich, keins von beiden stört mich, keins von beidem reizt mich zur Einkehr. Zusammenrottungen des jeweiligen Stammpublikums kommen zu Hauptgeschäftszeiten vor beiden Etablissements vor. Schlendere ich dann provokationslos daran vorbei, gibt es nur bei einem der beiden Häuser gelegentliche Pöbel-Kommentare: bei der urdeutschen Absturz-ab-Nachmittag-Kneipe. Damit kann ich leben, so tolerant bin ich. Vor ein paar Jahren portraitierte eine Tageszeitung den dazugehörigen Münchner Stadtteil, Moosach. Dort war die Einschätzung eines Einwohners zu lesen, man fühle sich dort mittlerweile „wie in Klein-Istanbul“. Da dachte ich: Toll! Istanbul! Die pulsierende, exotische Metropole am Bosporus, Schmelztiegel von Orient und Okzident! Selbst in der Klein-Version schien mir das verheißungsvoller als das etwas verschlafene und bäuerliche Bild, das ich selbst von meiner Nachbarschaft hatte. Seitdem habe ich einen anderen Blick auf Moosach, und ich möchte mich herzlich bei dem in der Zeitung zitierten Miteinwohner bedanken, dass er mir die Augen für die Schönheit und Exotik Moosachs geöffnet hat. Kürzlich hatte ich Besuch von einem deutschen Verwandten, der schon längere Zeit in den USA lebt und einiges an Deutschland zu bemängeln hatte, zum Beispiel dass ihm im Dallmayr-Haus der coffee to go verweigert wurde. Aber nach einigem Gemecker wurde er ganz rührselig und wollte doch noch eine positive Seite Deutschlands hervorheben: „Dass hier so viele Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturkreisen so harmonisch zusammenleben, das ist wirklich schön.“ Das wunderte mich gerade von einem Beinahe-Amerikaner zu hören, proklamiert dieses Völkchen die Erfindung des Völkergemisches doch normalerweise für sich, und es war mir schon fast ein wenig zu blauäugig. Um ein Haar hätte ich mich stammtischtypisch in die Gegenposition begeben, nur um das nicht so undifferenziert stehen zu lassen (selbstverständlich nicht im Furor gegen Zugereiste, sondern gegen die Querulanten, die mit denen ein Problem haben). Stattdessen dachte ich nach und musste feststellen: im Vergleich zu den meisten Ländern, die ich im Laufe meines bisherigen Lebens einigermaßen kennengelernt habe, stimmt das. Ressentiments, Ghettoisierung, verbale und physische Auseinandersetzungen gibt es hüben wie drüben. Nur drüben, in West wie Ost, meistens um einiges extremer. Das ist kein Grund für einen Orden an der deutschen Brust oder ein Ausruhen auf Lorbeeren. Die Arbeit von uns Gutmenschen ist nicht getan, solange es noch Schlechtmenschen gibt. Aber es ist Grund genug, mal ein wenig die Luft anzuhalten oder tief durchzuatmen und über den eigenen Tellerrand zu schauen, bevor man ein Buch oder einen Leserbrief oder ein Flugblatt oder eine Spiegel-Online-Kolumne oder einen Facebook-Kommentar schreibt oder am Stammtisch oder sonst wo die Stimme erhebt. Ärgern darf man sich trotzdem über einiges, ist ja ein freies Land. Akif Pirincci ärgert sich mit Vorliebe über Rot-Grün. Ich fühle deinen Schmerz, Bruder. Auch ich finde es komplett inakzeptabel, dass die SPD Thilo Sarrazin nicht achtkantig rausgeworfen hat. Ich werde den Grünen nie verzeihen, wie diebisch sie sich über Fukushima gefreut haben. Kreuze werde ich bei beiden nie wieder machen können, was aus mir einen Spontan- und Spaßwähler gemacht hat, denn Nichtwählen darf ich als Produkt meiner Erziehung nicht. Zuletzt habe ich mein Kreuz bei der Rosa Liste gemacht, die werden schon niemandem schaden, auch dem Fundament meiner Ehe nicht. Sarrazin und irgendwie auch Akif Pirincci (Sippenhaft) haben mich also zum aktiven Unterstützer eines irren Homosexuellen-Kults gemacht. Dafür vielen Dank, ich fühle mich sehr wohl dabei. PS: Aus kindischer Respektlosigkeit habe ich durchgehend bewusst darauf verzichtet, auf der Tastatur nach dem Sonderzeichen-C in Pirincci zu suchen.