Ian Lowery ist schon 2001 gestorben, aber es kommt mir vor, als wäre es erst gestern gewesen. Vielleicht, weil ich erst gestern davon erfahren habe.
Wer war dieser Ian Lowery? Ich habe keinen blassen Schimmer. Wir sind uns nie begegnet, und sein Name sagt mir nicht viel. Als ich von seinem Tod erfuhr, war es also eher ein seufzendes „Ach, schade“ als ein anklagendes: „Gott! Waru-hu-hu-hum?!“ Schade ist es, weil ganz verkehrt kann dieser Ian Lowery nicht gewesen sein. Ich kannte ihn unbekannterweise als Vorsteher der Band King Blank, die 1988 ein Album namens The Real Dirt aufgenommen hatte, das ich damals aus einer Laune heraus kaufte (mir gefiel das Cover – ja, wir Menschen vom Planeten Erde sind so oberflächlich). Damit gehörte ich wohl einer Minderheit an, denn mehr kam da nicht. Und das fand ich schon damals schade, denn The Real Dirt war eine ganze Zeit lang eine meiner absoluten Lieblingsschallplatten, wie ich mich inzwischen wieder erinnere. Mein soziales Umfeld zuckte mit den Schultern, fand die Platte nett aber nicht besonders. Ging mir beim ersten Hören auch so, aber wenn man Ausdauer hat, beißt sie sich in Gehör und Gehirn fest und lässt nicht mehr los. Anfangs klingt sie ein bisschen nach Tante-Emma-Laden: von allem etwas, aber nichts so richtig. Für Rockabilly zu zornig, für Punk zu komplex, für Gothic zu lebendig, für Blues zu weiß. Doch irgendwann macht es Klick und Pling, denn der Groschen ist gefallen, und man weiß: Hier macht jemand, was er machen muss, egal wie man das nennt. Musik eben. Ins Hirn gebissen oder nicht, irgendwann müssen alte Lieblingsplatten für neue Lieblingsplatten Platz machen, und so verschwand The Real Dirt mit der Zeit in meinem Unterbewusstsein. An die Oberfläche gespült wurde sie neulich wieder, als ich meine Vinyl-Schallplattensammlung umtopfte. Plötzlich hielt ich das Album wieder in den Händen, und all die alten Gefühle kamen wieder hoch. Mit Tränen der Rührung in den Augen dachte ich: Ist bestimmt voll der Scheiß. 22 Jahre sind eine lange Zeit, und manche Musik ist exklusiv an ein bestimmtes Lebens- und Zeitalter gekoppelt. Dennoch gab ich King Blank eine Chance zu beweisen, dass ihre Musik vorteilhafter gealtert ist als die von Vadder Abraham, zum Beispiel. Ich zelebrierte den ganzen Haptik-Quatsch mit Entstauben und Nadel auflegen, sinnierte kurz pflichtgemäß über den bösen, kalten technologischen Fortschritt, und war sofort wieder so angetan wie ich es damals erst nach hartnäckiger Hörarbeit war. Ach, Herr Lowery zieht schon ein wenig heftig vom Leder mit seiner Zorniger-Junger-Wilder-Mann-Nummer, aber er hält dabei die rechte Balance zwischen pampiger Ernsthaftigkeit und augenzwinkerndem Humor. Im Nullkommanichts wackelte ich wieder mit meinem kleinen Hintern durchs Kinderzimmer äh Wohnzimmer, wie ich es seinerzeit tat, wenn nach meiner Meinung keiner geguckt hat. Und jetzt ist Ian Lowery also plötzlich tot, seit neun Jahren. Schade. Ich hätte gerne noch mehr von ihm gehört, und mehr über ihn erfahren. Auf der Website seiner Erben gibt es mehrere Dokumente zu Leben und Werk, aber soweit kommt das noch, dass ich längere Texte im Internet lese. Immerhin habe ich in Erfahrung bringen können, dass es noch ein Album mit dem eigenartigen Namen King Blank To von einer gewissen The Ian Lowery Group gibt, das man sich sogar heute noch erschwinglich legal herunterladen kann, wo es The Real Dirt vermutlich nur noch im dreistelligen Eurobereich auf eBay gibt (so billig bekommen Sie meine Platte aber nicht). Vermutlich muss man den Band- und Plattentitel als Ganzes lesen: From King Blank To The Ian Lowery Group. Nur eine Theorie. Tatsache hingegen: Mindestens genauso fesch und fetzig wie The Real Dirt. Die nachfolgende Sendung ist für Zuschauer unter 40 Jahren nicht geeignet. Sie entstand in den 1980ern. Sie enthält ästhetische und dramaturgische Konzepte, die heutige Sehgewohnheiten verunsichern oder gar beleidigen könnten. Bitte schließen Sie zunächst Ihre eigenen Augen und halten dann die anwesender Kinder zu, aber hören Sie hin. Rowland S. Howard ist auch so ein Toter. Einer von denen, wie ich nun erfahren muss, die trotzdem munter weitermachen. Im Mai wohl ist das neue Album erschienen, ich bekam es erst jetzt mit, ich war im Mai sehr beschäftigt. Howard scheint im Tode viele Freunde zu haben, wenn man sich das Internet so durchliest. Da möchte man sich mit der Eifer- und Geltungssucht des klassenbewussten Musikliebhabers schützend vor ihn werfen und fauchen: Aber ich fand den schon gut, bevor er gestorben ist! Dabei ist mir verhältnismäßig egal, dass er Gründungsmitglied von The Birthday Party war. Hand aufs Herz: Die Birthday-Party-Platten übernehmen im Regal in erster Linie repräsentative Aufgaben. Das Beste an The Birthday Party war, dass daraus Nick Cave & The Bad Seeds wurden, und das Beste an Nick Cave & The Bad Seeds ist, dass daraus Grinderman geworden sind, die wiederum so klingen wie The Birthday Party, wenn The Birthday Party Humor gehabt hätten. Mit Humor wird nämlich doch ein Schuh draus. Aber das alles hat wenig mit Rowland S. Howard zu tun. Nach The Birthday Party spielte er in einigen anderen unantastbaren Bands, mit denen ich ebenfalls nie richtig warm wurde, es liegt vermutlich an mir. Aber dann nahm er im Jahr 2000 sein erstes richtiges Soloalbum mit dem unnötig rabaukigen Titel Teenage Snuff Film auf, eines der weltweit drei bis zehn besten Alben, die man für Geld kaufen kann. Das neue Soloalbum, Pop Crimes, ist so etwas wie eine gelungene Fortsetzung: Vielleicht (aber auch nur vielleicht) nicht ganz auf der Höhe des ohnehin unerreichbaren ersten Teils, in jedem Fall aber ein schöner Nachschlag von dem, was man durch den Vorgänger zu schätzen gelernt hat. Beide Alben ergehen sich in romantischer Verbitterung und sehen das Ganze recht locker. Musikalisch über weite Strecken so elegisch, dass man sich in düsterer Gemütlichkeit mit jedem Ton einzeln beschäftigen kann. Beide Alben beinhalten über Eigenkompositionen und Klassiker-Covers hinaus auch eine Verbesserung eines Achtzigerjahregassenhauers. Bei Teenage Snuff Film war es ‚White Wedding’, hier ist es – ausgerechnet – ‚Life’s What You Make It’. Klingt in Howards knurrender Schnodderigkeit, als würde man es jetzt erst verstehen, ob man will oder nicht. Nach gewissenhafter Recherche (Wikipedia) stelle ich fest, dass Pop Crimes in Howards Heimat Australien bereits 2009 ein paar Monate vor seinem Tod erschienen ist und nur im Rest der Welt posthum nachgereicht wurde. Schön, dass er die ersten warmen Worte von Lokalpresse und angetanen Kollegen noch mitbekommen hat. Rowland S. Howard erinnert mich immer ein wenig an Marc Moreland († 2002). Nicht nur, weil auch Letzterer auf seinem Soloalbum Take It to the Spotlight (VÖ 2002) mit ‚Bette Davis Eyes‘ einen Hang zur Schlagermusik einer geschmacklich ambivalenten Dekade zeigte. Bei Howard wie bei Moreland kann man sich bei ihren Coverversionen nie ganz sicher sein, ob sie Beleidigung oder Huldigung sind, was viel spannender ist als die feige Ironisierung oder kriecherische Werktreue, die solche Unterfangen in der Hand kleinerer Geister haben. Stärker noch eint beide Künstler, dass sie in jungen Jahren die zweite Geige in Bands spielten, die heute nostalgisch verklärt werden. Howard in The Birthday Party, Moreland bei Wall of Voodoo. Letztere verkläre vor allem ich nostalgisch. Man könnte sagen: Wall of Voodoo ist meine Birthday Party. So sind wir jungen Dinger. Marc Moreland klingt auf Take It to the Spotlight kranker und kaputter als Rowland S. Howard. Man kann in Howards Pop Crimes mit dem heutigen Wissensstand auch einiges an Krankheit und Todesgewissheit hineinhören, realistisch gehört aber klingt er gerade so kokett kaputt, wie er schon geklungen hat, als es ihm noch zu gut ging. Ein Glück, denn so lieben wir ihn, und so wollen wir gedenken. Marc Morelands Schwanengesang derweil gerät immer wieder zu einem musikalisch begleiteten Alter-Mann-Gebrabbel darüber, dass der Ehrliche der Dumme ist & die da oben sowieso machen was sie wollen & nirgendwo darf man mehr rauchen & die jungen Leute heutzutage. Man muss nicht jedes Gebrabbel abnicken, aber dem Sound kann man sich schlecht entziehen. Der Wall-of-Voodoo-Sound war eben kein Zufall, sondern zu keinem geringen Anteil das Werk von Gitarrist Moreland mit seiner Gleichzeitigkeit der derzeit modernen New-Wave-Beeinflussung und einer furchtlosen und ehrlichen Country-Verbeugung. Hurra, wir leben noch Wo wir gerade bei Wall of Voodoo sind und krampfhaft einen lebensbejahenden Ausklang für diesen deprimierenden Eintrag suchen: Die beiden Sänger der Band sind noch recht munter. Stan Ridgway veröffentlicht Ende August sein neues Soloalbum. Wenn es so wird, wie die letzten sieben sind, wird es ein Meisterwerk (keine Sorge, auf der Bühne wird er ‚Camouflage‘ bestimmt trotzdem noch spielen, wenn man nur penetrant genug grölt). Wie man noch tiefer unter dem Radar der Öffentlichkeit fliegen kann als Stan Ridgway, hat der zweite Wall-of-Voodoo-Sänger Andy Prieboy vorgemacht, auch wenn seine beiden Soloalben Upon My Wicked Son und Sins of Our Fathers zu den weltweit zwei bis fünf besten Alben gehören, die man für Geld kaufen kann. Er tingelte viele Jahre vorwiegend durch die USA mit seinem Musical White Trash Wins Lotto, der Geschichte von Axl Rose bzw. „jemanden wie Axl Rose“ (Anwalt). Prieboy, einer der weltweit besten ein bis drei Liedermacher, hat sich heute in seinem Malibu Ghraib Studio eingeigelt und legt hin und wieder auf seiner Website ein Ei. Dort findet sich auch eine Version des Songs ‚Shine‘, auf der Stan Ridgway die Mundharmonika bläst. Der Umstand klingt erstmal nicht ungewöhnlich, wo die beiden doch in derselben Band gewesen waren. Ist aber doch ungewöhnlich, weil selbstredend keine vernünftige Band mehr als einen Sänger braucht. Ridgway und Prieboy sind sich zu Voodoo-Zeiten nie begegnet, der eine hatte den anderen abgelöst. Dann gab es ca. 2006, lange nachdem die letzte Wall-of-Voodoo-Besetzung sich unter Alkoholeinfluss und ohne ordentliche Auflösung schlicht aus den Augen verloren hatte (Prieboys Darstellung), ein Foto, das Fans der Band augenblicklich die Pupillen hochdrehen und in Zungen sprechen ließ. Uneingeweihte sahen darauf nur zwei grau melierte Herren beim Sonntagsspaziergang und zuckten mit den Schultern, aber ich und die beiden anderen Wall-of-Voodoo-Historiker wussten: Das sind Andy Prieboy und Stan Ridgway auf demselben Foto! Scheibenkleister, ich wollte es hier zeigen, aber ich kann es ums Verrecken nicht wiederfinden. Weder zuhause noch im Internet. Es ist, als hätte es nie existiert. Aber ich habe es gesehen, damals! Ich habe es Bekannten gezeigt, und sie haben mit den Schultern gezuckt, so als würden sie nicht begreifen, dass das das coolste Foto der Nullerjahre ist. Ist es aber. Wo immer es sein mag. Die Geschichte hinter dem Foto war weniger schön als seine schlichte Existenz. Ridgway ging damals Klinkenputzen für eine Wall-of-Voodoo-Wiedervereinigung, die dann kurzzeitig im Vorprogramm von Cindy Lauper (lebt) stattgefunden hat, obwohl kaum einer mitgemacht hat (neben Marc Moreland war auch Trommler Joe Nanini schon tot, und Marcs notorisch ungesunder Bassisten-Bruder Bruce Moreland war so zerstritten mit Ridgway, dass er gar nicht erst gefragt wurde). Genau so gut hätte Billy Corgan sich Smashing Pumpkins nennen können. Oder Andrew Eldritch sich Sisters of Mercy. Oder David Bowie sich Tin Machine. Oder Lou Reed sich Lou Reed. Schwamm drüber, wir alle haben mal klamme Tage. Das neue Ridgway-Album wird bestimmt toll, die neuen Prieboy-Songs sind es schon. Und damit wären wir zurück im Reich der Lebenden und verabschieden uns – nur für heute – mit dem schönsten Reim Rowland S. Howards:You’re good for me like coca-cola
I don’t get any younger, you don’t get any older