Japanischer Stehsatz (2): Reise nach Shimotsuma

Habe ich jemals erwähnt, dass mir der Film Kamikaze Girls einigermaßen gut gefällt? Könnte sein, vereinzelt wirft man mir vor, ich kenne gar kein anderes Thema. Stimmt auch, heute ganz sicher nicht. Denn heute erfülle ich mir den großen Traum jedes kleinen Kamikaze-Mädchens: Ich fahre nach Shimotsuma. [Gemeint ist freilich nicht das konkrete Heute, sondern das poetische Heute.]

Sie wissen: Der Film (und der zugrunde liegende Roman und der abgeleitete Comic) heißt im Original Shimotsuma Monogatari, also in etwa ‚Shimotsuma-Geschichte‘, denn in Shimotsuma spielt sich das Meiste ab. Ich bin ein wenig verunsichert, weil es offenbar keinen großen Shimotsuma-Monogatari-Tourismus gibt. Googlet man Shimotsuma bekommt man hauptsächlich Informationen zum Film und vereinzelt zum Ort (Hauptsehenswürdigkeit: McDonald’s-Restaurant mit Wi-Fi). Ich weiß, dass ich nicht der einzige Liebhaber des Films bin, schon gar nicht der einzige westliche, aber ich finde bei zumindest oberflächlicher Recherche keinen aufgeregten Blogger, der schriebe: „Ich war da! It was magic!“ Heißt das, ich muss eine Flagge an einem spitzen Stock mitnehmen und bei der Erdung „Erster!“ rufen? Sowas habe ich gar nicht.

Selbst in Japan ist Shimotsuma kaum bekannt. Erwähne ich gegenüber Tokioter Freunden, dass Shimotsuma Monogatari mein Lieblingsfilm ist, sind sie besorgt, welches Bild Deutschland von Japan hat, wenn solche Filme es hinüber schaffen. Erwähne ich weiter, dass ich vorhabe Shimotsuma zu bereisen, wundern sie sich, dass dieser Ort wirklich existiert.

Tut er aber. Hat schätzungsweise 40.000 Einwohner (Quellen widersprechen einander) und liegt in der Präfektur Ibaraki. Im Film Kamikaze Girls gibt Protagonistin Momoko in einem Off-Monolog eine akkurate Beschreibung, wie man von Shimotsuma mit dem Zug nach Tokio kommt, wo sie gerne einkauft. Man müsste das also nur umgekehrt nachmachen und käme wahrscheinlich von Tokio in Shimotsuma an. Allerdings sind seit dem Film ein paar Jahre vergangen, und das japanische Schienennetz wird unentwegt überarbeitet, weshalb es inzwischen auch anders geht. Außerdem starten wir unsere Reise nicht in der Tokioter Daikanyama-Nachbarschaft, die Momokos Ziel ist. Dort gibt es heute nur Straßencafés mit gegelten Notebook-Posern und die überschätztesten Clubs der Stadt, da haben wir nichts verloren. Unsere Reise beginnt im schönen Sangenjaya, und sie geht so:

Erst nimmt man die Den-en-toshi-Linie bis Shibuya. Man könnte auch laufen. Aber Laufen in diesem Outfit? Ich bitte Sie, das ist doch wohl nicht möglich. In Shibuya bleibt man einfach sitzen, denn hier verwandelt sich die Den-en-toshi-Eisenbahnlinie automatisch in die Hanzomon-U-Bahn-Linie, die man bis Omotesandō nimmt, es ist gleich die nächste Station. Dort steigt man um in die Chiyoda-Linie. Es dauert 29 Minuten bis Kita-Senju. Hier steigt man in den modernen Tsukuba-Express, der 21 Minuten bis Moriya braucht, einer Partnerstadt von Greeley, Colorado und Mainburg, Germany. Jetzt ist man schon eindeutig in Ibaraki, und es gibt erste Spuren von Shimotsuma.

Im simplen aber sympathischen Futterhof des Bahnhofs Moriya isst man vorsichtshalber eine Nudelsuppe und trinkt ein Bier, weil man nicht weiß, was einen kulinarisch und überhaupt in Shimotsuma erwartet. Gut gestärkt steigt man in die Joso-Linie, die einen in 42 Minuten nach Shimotsuma bringt. Man fährt mit ihr immer tiefer in das sagenumwobene Land, in dem es keine Ausländer gibt. Commodore Perrys Schwarze Schiffe kamen nur bis Yokohama.

Und dann ist man auch schon da. Der wiedererkennbare Bahnhof bestätigt sofort, dass der Film vor Ort gedreht wurde. Viele Szenen spielen am und im Bahnhof mit seinen zwei Gleisen und einem Häuschen. Zu spät fällt mir ein, dass eigentlich der ganze Film davon handelt, dass man aus Shimotsuma unbedingt weg will, wenn man einigermaßen fit in der Birne ist. Und ich wollte da unbedingt hin? Vielleicht nicht richtig nachgedacht.

Der Bahnhof macht in der Totalen nicht viel her, aber die Details machen mich glücklich. Dieser Fernseher im Wartebereich wird von Regisseur Tetsuya Nakashima im Film immer wieder verwendet für angeberische Überleitungen und ironische Kommentierung der Handlung:

Jetzt läuft da allerdings nichts.

Hier sitzt Momoko mehr als einmal:

Hat mich jemand beim Fotografieren beobachtet, denkt der bestimmt: „Wie rührend! Dieser alte Mann hat noch nie in seinem Leben Plastikstühle gesehen.“ Ist aber unwahrscheinlich, dass mich jemand beobachtet hat. Überhaupt werde ich in Shimotsumas Straßen weitaus seltener schräg gemustert als anderswo in Japan. Dafür müsste erstmal jemand auf den Straßen unterwegs sein. Würde vielleicht helfen, wenn zumindest ein einziges Geschäft geöffnet hätte. Gut, dass ich vorher gegessen habe.

Statt geöffneter Geschäfte gibt es Kohlköpfe. Im Film ein wiederkehrendes Motiv als Symbol für Land und Leute.

Viele Szenen in Kamikaze Girls spielen an Bahnübergängen wie diesem (Beispielabbildung):

Apropos Bahnübergang: Zielstrebig habe ich mich vom Bahnhof in den unattraktiveren Teil des Ortes aufgemacht. In der anderen Richtung haben durchaus ein paar Geschäfte geöffnet. Allerdings nicht dieser Pachinko-Salon.

Es könnte der sein, in dem die Mädchen im Film spielen. Sieht inzwischen aus, als hätte da schon länger niemand mehr gespielt.

In der örtlichen Filiale der Gebrauchtmedienhandelskette Book-Off möchte ich mir gerne die japanische DVD von Shimotsuma Monogatari als Andenken kaufen. Haben sie aber nicht! Stattdessen gibt es – ungelogen – Spinnweben vor dem Regal mit den japanischen Filmen. Keine Halloween-Deko-Spinnweben, sondern Real-Deal-Vernachlässigungsspinnweben.

Ich habe Momoko von vornherein gut verstanden, aber ich verstehe sie jetzt sogar besser.

Ich bin ohne Flachs mittelschwer schockiert, dass man hier touristisch rein gar kein Kapital aus dem Kultstatus von Buch und Film schlägt. Gut, es handelt sich unterm Strich um Shimotsuma-Schmähwerke, aber das sollte man mit Humor nehmen, wenn man daran verdienen kann. Es müssen nicht gleich goldene Statuen von Momoko und Ichigo sein, aber Pappfiguren für Photo-Ops auf den Plastikstühlen im Bahnhofsgebäude sollten ja wohl drin sein.

Das Waldrestaurant und die Jusco-Filiale habe ich leider nicht gefunden. Aber ich habe auch nicht lange gesucht, denn ich wollte nicht riskieren, Züge und Anschlusszüge zu verpassen. Ich zähle auf Ihr Verständnis.

Aus gegebenem Anlass: Trailer Kamikaze Girls (Wiederholung)