Seit geraumer Zeit hört man es nun aus dem Blätterwald rauschen (ich nenne ihn noch immer so, weil Pixelwald so doof klingt): „Diese modernen, anspruchsvollen amerikanischen Fernsehserien, die sind … die sind …, mein lieber Scholli, die sind … DER NEUE ROMAN!“
Schon lange war mir angesichts dieser Unsinnsbehauptung nach einem #Aufschrei, aber ich halte halt nichts von Gebrüll. Doch jetzt kann ich nicht länger schweigen. Der letzte Tropfen für das Fass in meinem Kopf war eine Liste in einer Unsinnszeitung, welche die tollsten Schmöker für den Sommer benannte. Darunter auch der New-York-Schmöker City on Fire von Garth Risk Hallberg. Viel wurde über dieses Buch geschrieben, in 46 Sprachen und mehr. Und das höchste Lob, das dem Listenmacher in der Unsinnszeitung dazu einfiel, war, dass der Roman ihn irgendwie an eine HBO-Serie erinnere. (Mal eben am Rande: Wann ist dieser vom Film schon länger bekannte Schwachsinn, englische Titel nicht mehr mitzuübersetzen, eigentlich im großen Stil auf den Buchmarkt übergeschwappt? Girl on a Train? Oder schon bei About a Boy? Gone Girl? Werden vor allem Titel von Girl-Books nicht mehr translated? Und werden bald auch spanische, chinesische, isländische Titel nicht mehr übersetzt? Oder gleich ins Englische, wie bei Filmtiteln längst Usus?) Ich habe das City-on-Fire-Buch wohlgemerkt nicht gelesen, ich werde das vielleicht in fünf Jahren nachholen. Man hört ja nicht nur Gutes. Bei stark gehypeten Büchern, die mir irgendwie verdächtig vorkommen, wende ich seit einiger Zeit die 5-Jahre-Regel an: Wenn man in fünf Jahren noch vom Buch spricht, versuche ich es mal. Mir ist meine Zeit auf Erden zu kostbar, um sie mit jedem x-beliebigen Sommerschmöker totzuschlagen. Ich kannte mal einen, der lebte in der ständigen Angst, versehentlich mal ein Buch zu lesen, das nicht Epoche macht. Der las sicherheitshalber nur Bücher von Autoren, die schon seit mehreren Jahrzehnten tot waren. So lange kann ich häufig nicht warten. Manche Schriftsteller leben ja auch gegen alle Klischees recht gesund. Und selbst wenn welche doch standesgemäß leben (eine Flasche Rotwein statt Frühstück, und danach wird gesoffen), scheinen Schriftsteller eine überdurchschnittlich hohe Lebenserwartung zu haben, so nicht gerade etwas Dramatisches dazwischenkommt. Liegt vielleicht daran, dass ihrem Berufsalltag die Aspekte abgehen, die in den Alltagen anderer Berufe Magengeschwüre und Schlimmeres verursachen. Mir geht es also nicht um dieses spezielle Buch, sondern um die Traurigkeit des genannten Komplimentes, das, glaube ich, symptomatisch ist: Da hat jemand, wenn er Literatur gegenübersteht, keinen anderen Referenzrahmen als die DVD-Komplettboxen in seinem Ikea-Regal. Und der fühlt sich dabei wahrscheinlich auch noch clever und modern. Man muss ihm und seinen Kumpels im Geiste leider sagen: Wer findet, dass Fernsehserien und Romane vergleichbar oder gar austauschbar seien, versteht weder etwas vom einen, noch vom anderen. Der hat keine Ahnung, dass es in der Literatur nicht nur um Storys geht, sondern auch um Sprache, unter anderem. Und dass es in Romanen Sprache nicht nur in Dialogen gibt. Wer nur liest, weil er sich vom Plot peitschen lässt, der darf sich gerne vom Roman abwenden, denn er hat eh vergebens gelesen. Der Plot ist das banalste Element eines guten Romans. Die blinde Plothysterie ist übrigens auch schuld daran, dass viele junge und greise Menschen nur noch so über Erzählungen sprechen können: „James Bonds neuer Auftrag führt ihn in die Karibik.“„Ey, hättest du nicht Spoiler-Warnung sagen können?!?!?!“ Gute Literatur ist nicht an Plot-Twists gelegen, sondern an überzeugenden Figuren und wertigen Themen. Figurenentwicklung ist etwas, das in Fernsehserien nicht stattfindet, gerade in offiziell anspruchsvollen nicht. Tony Soprano ist in der letzten Folge derselbe wie in der ersten. Er und andere seines Schlages mögen zwischendurch mal aus der Rolle ausbrechen. Doch sie alle haben einen Reset-Knopf, der jedes Mal gedrückt wird, bevor die Zuschauer Gefahr laufen, sich mit etwas neuem auseinandersetzen zu müssen. Die einzige nennenswerte Ausnahme scheint mir Buffy im Bann der Dämonen. Bis zum Ende der Serie hat wirklich fast jede Figur mindestens eine entscheidende Wandlung mit bleibenden Resultaten durchgemacht. Das scheint mir das Erstaunlichste an dieser ohnehin sehr erstaunlichen Serie. Viel erstaunlicher als die sonst gern positiv hervorgehobenen flotten Sprüche äh geistreichen Dialoge oder die gelegentlichen erzählerischen Experimente. Fernsehserien stellen also keine Gefährdung für den Roman dar. Für den Kinofilm sind sie es, entgegen beliebter Zeitgeistmeinungen, ebenfalls nicht. Selbst wenn ihre Anmutung ein wenig ‚filmischer‘ geworden ist, fühlt sie sich nach wie vor in erster Linie dem Innenraum und der Großaufnahme verpflichtet. Das verdeutlicht ein langfristiger Selbstversuch in meinem Haushalt. Nach der Geburt des Kindes sahen seine Mutter und ich eine gescheite Weile lang ausschließlich einzelne Fernsehserienfolgen, weil uns für Längeres mal die Zeit, mal die Wachsamkeit fehlte. Als wir uns eines Abends doch mal wieder für einen fürs Kino produzierten Spielfilm entschieden hatten, war es eine ästhetische Offenbarung. Fernsehserien sind heute visuell bestimmt interessanter, als sie es vor 40 Jahren freitags um 20 Uhr 15 im ZDF waren. Deshalb war der empfundene Unterschied zwischen Fernsehen und Film keineswegs so, als würde man nach Jahren in der Besenkammer endlich auf ein großes, freies Feld treten. Gleichwohl war es so, als trete man nach Monaten im Wohnzimmer endlich mal wieder hinaus auf die Straße mit all ihren Möglichkeiten. Wir hingen als Fernsehenthusiasten ja selbst dem Irrglauben an, dass Fernseh- oder Kinoproduktion heute schauwertig keinen großen Unterschied mehr macht. Der Unterschied ist allerdings nach wie vor gewaltig genug. Wer es nicht glaubt, kann den Test mit einfachen Mitteln zu Hause selbst durchführen. Erst mal ein Kind machen (notfalls adoptieren, es muss aber so klein wie möglich sein), der Rest ergibt sich von alleine. „Aber die Geschichten! Die Geschichten, vertrackt und trickreich über mehrere Staffeln erzählt, die sind doch viel komplexer als in Spielfilmen!“ Nein, sind sie nicht. Serien dehnen, verdünnen und repetieren ihre Geschichten lediglich so lange, bis der Einstellungsbescheid kommt. Dann muss plötzlich alles ganz schnell sinnvoll zu Ende gehen. Das tut es in den seltensten Fällen, weil Geschichten Fernsehautoren eben nicht so wichtig sind, wie ihnen oft von wohlmeinenden (und nicht sehr aufmerksamen) Zuschauern unterstellt wird. Heute rümpft man gern die Nase über Opas wöchentliche Fernsehserie, in denen verlässlich in 45 Minuten ein Mörder gefasst, ein Monster getötet, ein Konflikt gelöst wurde, und nächste Woche dann wieder von vorne. Tatsächlich ist diese Form des Geschichtenerzählens weitaus anspruchsvoller als das unverbindliche Strecken und Verstricken von Handlungssträngen, bis ohnehin jeder die Übersicht über jedes einzelne Detail verloren hat. In Opas Fernsehen musste jede Woche aufs Neue eine Geschichte mit Hand und Fuß erzählt werden, und die musste glaubhaft machen, dass es sich nicht um denselben Mörder, dasselbe Monster, denselben Konflikt wie letzte Woche handelte. Wer etwas von Literatur versteht (also anders als der gemeine Fernsehkritiker oder Sommerschmökerlistenanleger), der weiß, dass die Kurzgeschichte die Königsdisziplin ist. Roman kann jeder. Ein Roman darf mal durchhängen, sich vorübergehend verlaufen. Die Kurzgeschichte hingegen kann sich keine einzige Schwachstelle, kein falsches Wort leisten. Zugegeben, der Vergleich hinkt ein wenig, denn Literatur und Fernsehen sind ja eben nicht dasselbe, wie ich schon sagte, dumdidum. Am liebsten ist mir heute das offiziell mittelmäßige Fernsehen. Also Serien mit maskierten und kostümierten Protagonisten, die man bei entsprechender Sozialisation aus Comicheften kennt. Ich würde gerne mehr Comics lesen, doch geht es nicht. Ich habe es verlernt, Bild und Text gleichzeitig die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken, und das sollte der ernsthafte Comicleser schon tun. Ich weiß nicht, ob ich ein neues Gehirn oder eine neue Brille brauche, irgendwas funktioniert da jedenfalls nicht mehr richtig. Film und Fernsehen sind zum Glück weniger anspruchsvolle Medien als das Comicheft. Sie sind so leicht konsumierbar, dass sogar ich es schaffe. Beim offiziell anspruchsvollen Fernsehen war schon seit Jahren nichts mehr dabei, was mich ähnlich dauerhaft bei der Stange halten konnte wie Grüner Pfeil und Roter Blitz und alle ihre Freunde.
Wenn du ausgerechnet „Breaking Bad“ ausgelassen hast, dann hast du eigentlich den Prototyp der Serie ausgelassen, die das bietet, was am nähesten an Figurenentwicklung drankommt. Die Serie nimmt sich atemberaubend viel Zeit für ihre Figuren. Ich würde fast behaupten, die Stärke und Faszination liegt darin, die ganze Zeit hindurch etwas über die Figuren zu lernen. Gerade die beiden Hauptdarsteller sind da äußerst gekonnt eingesetzt: Der abgehalfterte Chemielehrer, auf den ersten Blick so bodenständig und spießig, wie ein Lehrer es nur sein kann, der im Laufe der Serie Stück für Stück unter Beweis stellt, dass er auf eine erschreckend banale Weise skrupellos ist. Ohne dass er meiner Erinnerung nach jemals einen einzigen Menschen tötet. Skrupellosigkeit äußert sich eben nicht in den großen Gesten, sondern in Alltagshandlungen. Und dem diametral entgegen gesetzt als Partner der Kleinkriminelle, der in genau denselben Situationen unter Beweis stellt, dass er der eigentlich moralisch Handelnde ist, was aber weder von der Gesellschaft so richtig wahrgenommen noch respektiert wird. Ich wurde auch vom Thema Drogenhandel erst abgestoßen, aber gib der Serie mal eine Chance. Sie zeigt auch auf eindrucksvolle Weise, was Kamera kann. Diese Serie will gar kein Buch sein (obwohl sie in vielen Aspekten näher am Buch ist, als andere), sie setzt bewusst Kamera, Licht, Ausschnitt, Perspektive ein.
Alternativ wäre auch das Spin-Off „Better Call Saul“ ein Einstieg. Gleiches Konzept, überraschend viele ruhige Einstellungen, und man kann einer Figur dabei zusehen, wie sie auf der Suche danach ist, wer sie ist, welcher Charakter sie sein will, und was genau Moral eigentlich bedeutet.
Im Grunde gibt es ja, rein schematisch, heutzutage mindestens drei Arten von Serien: Die „Monster/Crime of the Week“-Sorte, die du beschreibst, die episodenhafte, die jedes Mal in Kurzgeschichtenform den Reset-Knopf drückt. Dann diejenigen, die jede Woche ein Thema erzählen, aber im Hintergrund den größeren Plot ablaufen lassen („Desperate Housewives“ oder eben früher auch schon Buffy), und dann mittlerweile Serien, die gar nicht so recht mehr Serien sein wollen, sondern groß angelegte Filme. Breaking Bad, Outlander, The Last Kingdom sind ja nicht verständlich, sobald man eine einzige Episode auslässt, und teilweise passiert in einzelnen Teilen auch wenig, es muss nicht immer mit Cliffhanger enden, die alten Vorgaben sind komplett aufgelöst. Kein Wunder, dass mit neuen Abspielformaten wie Streaming man auch gar nicht mehr gezwungen ist, eine Woche zu warten. Was für eine absurde Vorstellung und Beschränkung eigentlich.
Game of Thrones zeigt wunderbar auf, was der Unterschied zwischen Autoren und Regisseuren ist. Die Serie begann ganz akzeptabel als Buch-Adaption, aber je länger es ging, desto mehr verlor sie sich in den Gesetzmäßigkeiten des Kinos: Es braucht Knalleffekte, Überraschungen, Cliffhanger… ob die Charaktere der Figuren dazu passen – nebensächlich. GRRM geht ja im Buch völlig anders mit seinen Figuren um, da sind große Entwicklungslinien zu erkennen, die von der Serie einfach mal zum Wohle eines kurzen Schockers komplett zerhauen werden, und man sich bei genauerem Hinterfragen nur denkt: „Hä? Wieso hat er das jetzt gemacht?“ Eine Frage, die zum Blockbuster-Film ja heutzutage schon dazu gehört, und die man dann schulterzuckend beantwortet mit „Ist halt Film“. Einem Buch würde man so etwas selten durchgehen lassen. Aber ein Buch kann natürlich auch Innensicht vermitteln, Emotionen, Gedanken, die Schauspieler auch bei allergrößter Kunst in diesem Maße nie rüberbringen können.
Was die seltsamen Namen bei GoT angeht: Geht mir bei diesen Japan-Krimis ganz genauso. 😉
Der wahre Grund, warum ich ‚Breaking Bad‘ nicht gesehen habe, ist eher der, dass es mich nach ca. 2 Folgen noch nicht überzeugt hatte. Das klingt zwar hochgerechnet auf die ganze Serie nicht nach viel, aber es ist insgesamt schon Spielfilmlänge. Möglicherweise versuche ich es mal mit ‚Better Call Saul‘, der Hauptdarsteller ist mir noch aus ‚Mr. Show‘ in guter Erinnerung, und rolle die Sache gegebenenfalls von hinten auf. Es ist ja auch nicht so, dass ich das Fernsehen geringer schätze als den Roman, ich schätze es nur anders, und mich stört diese ständige Gleichsetzung Serie=’Der Neue Roman‘. Habe ausgerechnet heute ein paar Folgen Literarisches Quartett nachgeholt, und da wurde schon wieder davon angefangen …
Genauso stört es mich übrigens, wenn gewisse literarische Erzählmethoden reflexartig als „filmisch“ bezeichnet werden, obwohl tatsächlich der Film sie von der Literatur geklaut äh ausgeliehen hat.