Lieber Journalismus, bitte nehmen Sie sofort Ihren Finger aus meiner Wunde, meine Nippel tun schon genug vom Laufen weh!

Mitunter halte ich mich in der Küche auf, dort läuft immer das Radio. In meinem Radio laufen zum Glück nur gute Sendungen, über Bücher, Revolutionen und Neuerscheinungen der Deutsche Grammophon. Aber manchmal vergreifen sich die Moderatoren im Ton, so wurde unlängst ein Sachbuchautor für einen Journalismus gelobt, „der den Finger in die Wunde legt.“

Ich finde daran nichts Lobenswertes. Hat es irgendeiner Wunde je bei der Heilung geholfen, dass ein Finger in sie gelegt wurde? Sicherlich kann man mit dem in die Wunde gelegten Finger auf diese aufmerksam machen. Aber die meisten Wunden sind ja nicht gerade so gut versteckt, dass ohne Sado-Journalisten niemand etwas von ihnen mitbekommen würde. Sollte ein ordentlicher Journalismus nicht lieber einer sein, der bei Anblick einer Wunde ruft: „Ist zufällig ein Arzt anwesend?!“ Ein Journalismus, der Wunden heilt, oder zumindest zur Heilung von Wunden beiträgt. Das wäre ein Journalismus, den ich mir loben würde.

Es gibt nichts Schrecklicheres als die Phrase vom Finger in der Wunde. Außer Krieg und Hungersnot vielleicht. Oder Schimmel auf dem Pesto, oder das gemeinsame Album von Lou Reed und Metallica. Eigentlich gibt es jede Menge Schrecklicheres als die besagte Phrase, wenn man es genau bedenkt, aber ich reagiere in letzter Zeit häufig voreilig und emotional, weil meine Nippel so sensibel sind.

Sie wissen ja, mir ist da neulich wg. Midlife-Crisis ein Malheur passiert, und jetzt muss ich immer viel laufen, und zwar nach Anleitung, sonst wird das nichts. In meiner Anleitung ist eine Merkliste, was man nicht einzupacken vergessen darf, wenn man sich auf den Weg nach bzw. zum Marathon macht. Ein paar der Dinge leuchteten mir sofort ein (Schuhe, Socken, Seife), aber einen Punkt fand ich doch albern: „Pflaster (Brustwarzen)“. Das war mir zu kinky, ich will schließlich Marathon laufen, nicht CSD-Parade. Eins nach dem anderen.

Aber inzwischen weiß ich: Menschen, die Bücher übers Laufen schreiben, wissen oft mehr über das Laufen als Menschen, die Bücher über das Laufen bloß lesen und hinterher leicht süffisant dumme Witzchen darüber machen.

Meine Brustwarzen tun höllisch weh.

Aber ich habe daraus gelernt und renne nicht mehr ohne Pflaster aus dem Haus. Tatsächlich sind meine Nippel in genau diesem Moment überklebt, und ich fühle mich gut dabei. Ein Foto erspare ich Ihnen. Würde ich selbstverständlich nicht ersparen, wenn ich Hello-Kitty-Pflaster hätte, aber die gibt es leider nicht in Erwachsene-Brustwarzen-Größe. Selbstverständlich habe ich danach gesucht, was ist denn das für eine komische Frage?! Für mein Laufprogramm habe ich aber nur dies aus dem HK-Programm gefunden:

Das Bye-Bye Boo Boo Therapeutic Ice Pack (fantastisch: Bye-bye, Boo Boo! Hello, Kitty!) hilft bestimmt auch, wenn einer einem mal wieder einen Finger in die Wunde gelegt hat. Ich bin für einen Journalismus, der das Hello Kitty Bye-Bye Boo Boo Therapeutic Ice Pack auf die Wunde legt!

Diese neuen Besprechungen aus meinem Besprechungslabor legen keinen Finger in die Wunde, sie haben keine Ecken und Kanten, sitzen nicht zwischen Stühlen und sie gehen auch nicht an Grenzen. Sie gehen nur soweit die Nippel tragen:

Film

Haunters

The Man from Nowhere

Paranormal Activity – Tokyo Night

Buch

Laura Joh Rowland: Der Wolkenpavillon

Haruki Murakami: 1Q84 Buch 3

Sie können mich mal gernhaben (ich habe Sie ohnehin gern!)

Sie haben bestimmt bemerkt, dass vor kurzem unter den Beiträgen hier überall Knöpfe aufgetaucht sind, die vorher nicht da waren. Trauen Sie sich, drücken Sie ruhig mal drauf, dann passiert irgendwas! Nein, ich habe nicht angefangen zu twittern, zumal ich nach wie vor nicht so ganz genau weiß, was das eigentlich ist. Und auch zukünftig werde ich netzwerktechnisch asozial bleiben. Aber Ihnen, untertänigst verehrte Leserinnen und Leser, möchte ich fürs erste nicht mehr vorschreiben, was Sie zu tun oder zu lassen haben. Deshalb dürfen Sie mich jetzt durchaus weitertwittern, auch wenn mir die Sache nicht ganz geheuer ist. Und Sie können mich mal liken, Sie wissen schon wo.

Ich werde die Sache mit kritischem Auge beobachten. Sollten die Ergebnisse zu beschämend sein, nehme ich den Unsinn wieder runter. Ich hoffe, das geht.

Wo der Computer schon mal an ist: Es gibt wieder mal anderswo Anderes von mir zu lesen. So habe ich unlängst beim Fünf-Bücher-Projekt den Dicken gemacht. Bitte kaufen Sie meine fünf Bücher und alle anderen fünf Bücher, es ist gleich doppelt für einen guten Zweck (Ihr Lesevergnügen und eine wohltätige Organisation).

Auch für einen guten Zweck: Am nächsten Donnerstag, den 28. Juli, liest Christine Bongartz in Bremen aus meiner Gebrauchsanweisung für Japan, musikalisch begleitet von Naoko Marutani. Alle Fakten hier.

Und es gab neues zu besprechen:

Film

Garden of Sinners Film 2: Morderverdacht Teil 1

Gothic & Lolita Psycho

Kite Liberator – Angel of Death

Monga – Gangs of Taipeh

Buch

Stephen Clarke: Gebrauchsanweisung für Paris

Barry Eisler: Paris is a Bitch / The Lost Coast

Don Winslow: Satori

Who put the H in daijoubu?

Es geht in der Welt weitaus Gewichtigeres schief, aber es ist mir dennoch ein Anliegen: Womöglich haben Sie meinen Essay Das Lächeln hinterm Mundschutz im Japan-Extraheft gelesen, das der Ausgabe 11/12 des Focus beilag, und sich gewundert, dass der Begriff ‚daijoubu‘ darin durchgehend mit einem Fantasie-H zu ‚dahijoubu‘ gemacht wird. Nicht? Ach so. Ich hab mich schon gewundert. Man soll nicht mit dem Finger auf Menschen zeigen, deshalb halte ich meine Handflächen nur abwehrend vor den Körper und sage mit Shaggy: It wasn’t me! In meinem Originalmanuskript findet sich nur die korrekte romanische Schreibweise.

Aber ist in Ordnung.

An anderer Stelle gibt es ein paar neue Filmbesprechungen:

Bad Blood – Fight Without Mercy

City of Life and Death

I Saw the Devil

Kite – Angel of Revenge

Voyage of the Rock Aliens

Aktualisierung 23. 4.: auch das noch

Barfuß durch die Hölle

Crossfire

Fighting Beat 2

Higanjima – Insel der Vampire

Ip Man Zero

Macabre

Hier spricht Doktor Horror!

Im Licht der jüngsten Ereignisse habe ich den Entschluss gefasst, meinen abgelegten Doktortitel bis auf Weiteres wieder zu führen. Es war die schwerste Entscheidung meines Lebens seit dem Abendbrot.

Ist mir nämlich jetzt erst eingefallen: Ich brauch mir gar keinen Titel zu kaufen, ich hatte mir ja schon mal selbst einen ausgedacht! Bevor ich mit diesem seriösen und einflussreichen Polit-Blog begann, führte ich einen anderen Blog namens Doktor Horror, eine recht monothematische Angelegenheit zu meinem liebsten Steckenpferd, der Horrorunterhaltung, der zweitschönsten Nebensache der Welt nach Waldmeisterbrause. Wegen Burnout und Launenhaftigkeit legte ich den Titel eines Tages ab und löschte den Blog. Mir war auch das alberne Profilbild inzwischen ein wenig peinlich:

Sowas würde ich heute nicht mehr ins Internet stellen. Ich laufe auch nicht mehr so rum, denn ich will mich integrationsfähig zeigen und die Leitkultur nicht gefährden.

Aber meinen völlig aus der Luft gegriffenen Doktortitel, den führe ich jetzt gerne wieder. Denn ich habe gelernt: Berufliche Konsequenzen hin oder her – die breite Masse liebt Scharlatane und Betrüger. Warm werden sie umarmt und bepustet, wo es weh tut. Ins Ohr wird ihnen gesäuselt, dass gar nicht sie die Verbrecher sind, sondern all die anderen, die Intellelle … die Interle … die Inta … diese Oberschlaumeier!, die immer zwanghaft in jedem Verbrechen gleich ein Verbrechen sehen müssen. Ich habe mal durchgezählt: Die breite Masse, das sind ganz schön viele! Millionen! Ich möchte auch von Millionen umarmt, getröstet und verstanden werden, wenn ich mal beim Lügen und Betrügen erwischt werde.

Die Wiederannahme meines Doktortitels ist mit meiner Doktormutter abgesprochen (wir haben uns im Internet kennengelernt).

Bevor Sie mutmaßen: Ja, ich bin auf Droge! Auf einer Droge namens Doktor Horror! Ahahaha!

(Zu viel? Falls Sie sich nun Sorgen machen oder sowas auch haben wollen: Es gibt gar keine Droge namens Doktor Horror, das war nur eine clevere popkulturelle Anspielung, wie wir Blogger sie gerne innerhalb der Blogosphäre machen. Gäbe es diese Droge aber, dürfte nur ich sie nehmen, denn bei Ihnen würde sie zu ähnlich starken Nebenwirkungen führen wie die Droge namens Charlie Sheen. Denken Sie auch an Ihre Kinder.)

Bonus-Feature: Making of Doktor Horror

In einem Koffer auf einem Dachboden in Argentinien wurde noch ein altes, verworfenes Konzept zur Doktor-Horror-Alter-Ego-Visualisierung gefunden:

Da hatte ich mir gedacht: Kann ja keiner erkennen! Hatte ich auch recht gehabt.

Japanischer Stehsatz (3): Drag My Mini Munny To Hell

Vor kurzem sah ich die Gruselklamotte Drag Me To Hell im Fernsehprogramm oder von DVD, ich weiß nicht mehr, sie war gut oder schlecht, ich weiß nicht mehr. Ich weiß nur noch eins, Sie haben es bestimmt schon erraten: Die Heldin, wenn man die unsympathische Schnepfe so nennen möchte, hat einen Mini-Munny-Aufkleber auf dem Armaturenbrett ihres Privatwagens. Damit gehört sie wohl zur kleiner als geplanten internationalen Gemeinde der Mini-Munny-Besitzer. Raten Sie mal, wer noch.

Der Mini Munny ist kein japanisches Produkt, aber er passt dort bestens hin. Ich habe meinen während eines spontanen Kurztrips nach Tokio im letzten Jahr gekauft. Nur kurz zur Omotesando, ein bisschen teuren Quatsch kaufen, schnell wieder wegfliegen und rechtzeitig zu Hause sein, bevor Monk anfängt. Ich wollte eigentlich zeitnah hier von meinem Mini Munny erzählen, aber ich kannte damals noch Schamgrenzen. Gekauft habe ich ihn übrigens im MoMa Store, einem wunderbaren Pop-Art-Schnösel-Refugium in Harajuku, wenn man mal genug davon hat, heimlich Lolitas zu knipsen oder im Oriental Bazaar verzweifelt und aussichtslos nach Mitbringseln zu suchen, die nicht so aussehen, als hätte man sie im Oriental Bazaar gekauft.

Ein Mini Munny ist eine potenziell niedliche Figur mit großem Kopf und kleinen Körper, aber ansonsten ohne alles, denn man muss sie selbst anmalen, mit Gesicht und Ausdruck und Kleidung und was ein Mini Munny noch so braucht.

In der optisch und haptisch schönen gelben Pappschachtel befindet sich der Munny selbst in der gewählten Farbe (ich: Pink natürlich, als alter Gruftie), der benötigte Anmal-Stift, ein seltsamer Aufkleber, ein noch seltsameres ‘Hello-My-Name-Is‘-Kontaktanbahnungsnamensschild nach amerikanischen Vorbild (für Gemeindetreffen der Mini-Munny-Besitzer?) und ein Überraschungs-Accessoire (bei mir Mütze).

Vielleicht hätte ich mit dem Anmalen warten sollen, bis ich zu Hause bin und Kaffee getrunken habe und ordentlich am Schreibtisch sitze, anstatt gleich im Suff Reisefieber auf dem Hotelbett liegend den Stift zu schwingen. Vielleicht wäre mir dann was Originelles eingefallen, und ich hätte nicht wieder das gemacht, was ich immer mache. Vielleicht hätte ich dann auch nicht die Rückseite so obszön gestaltet, dass ich sie im Internet unmöglich zeigen kann.

Aber ich muss den kleinen Racker wohl lieben, wie er ist. Er steht heut auf meinem Schreibtisch, mit dem Rücken zur Wand. Zwischen dem WordPress-Buch, das ich nie lese, und der Wagner-The Great-Operas-From-The-Bayreuth-Festival-CD-Box, die ich nie höre.

Die nächste Anschaffung, die ich tätige, überlege ich mir ganz, ganz genau.

Die Nachrichten: I’m still here

Hier war in letzter Zeit ein wenig himmlische Ruhe eingekehrt, weil ich meine musikalische Karriere vorantreiben musste (Abb. unten).

Inzwischen habe ich mich aber rundherum rasieren lassen und konzentriere mich wieder ganz auf meine Kernkompetenz: Blöd gucken.

Zuletzt:

The Disappearance of Alice Creed
Gallants
Symbol

Windstruck

Wird fortgesetzt.

Update 3. 11.: Auch das noch!

Sword with no Name
Wir sind die Nacht

Zugabe 10. 12.

The Last Days of Emma Blank
Solomon Kane
The Vampire Diaries
Fast vergessen 2. 1.

14 Blades
Merantau – Meister des Silat
Mulan – Legende einer Kriegerin
The Treasure Hunter
Dracula – Mythen und Wahrheiten (Vorsicht: Buch!)

Satoshi Kons Franzen-Obama-Merkel-Erbsensuppe-Massaker

Manchmal, vor allem freitagnachts, überkommt es mich, und ich mache total abgefahrenen crazy stuff. Jetzt zum Beispiel ziehe ich mir voll den neuen Franzen rein, Alter. Ich tue dies in einer Weise, von der ich hoffe, dass Jonathan Franzen sie gutheißt, oder sie zumindest nicht als Affront und Herabwürdigung seiner Arbeit auffasst. Ich öffne vorher eine Flasche nicht ganz billigen Rotweins, lege eine von meinen beiden Klassik-CDs ein, und wenn ich beim Lesen auf eine amüsante Spitze stoße, halte ich die Finger vor den Mund und mache ein kleines Roger-Willemsen-Hühühü. Yeah, checkt das aus, Kids! Bücher rocken! (Ich hatte übrigens neulich 8 von 10 Punkten im Spiegel-Online-Jugendsprache-Test, hühühü).

Die Älteren unter uns erinnern sich vielleicht: 2001 wurde Jonathan Franzen holterdipolter berühmt, weil er sein Buch Die Korrekturen nicht von Oprah Winfrey loben lassen wollte, und weil es tatsächlich so großartig war, wie alle und Oprah sagten. Seine Haltung brachte dem Autoren seltsamerweise nicht den Ruf eines aufrechten Künstlers ein, sondern den eines elitären Schnösels, und so kamen bald die Kläffer, die die unwahre Behauptung verbreiteten, Die Korrekturen sei in echt gar nicht gut. Wer sich gerne mit vermeintlichen Minderheitenmeinungen brüstet, variierte das Gerücht dahingehend, dass Die Korrekturen bloß überbewerteter Hype sei, Franzens gefloppter Erstling Die 27ste Stadt hingegen ein verkanntes Meisterwerk. Das wäre schön, würde es stimmen, ich habe selbst gerne Minderheitenmeinungen. Tatsache ist aber leider doch, dass Die 27ste Stadt eine einzige Plackerei und Die Korrekturen eine einziges Vergnügen ist.

Bei seinem Neuen, Freiheit, hatte Franzen wieder ungefragt prominente Hilfe bei der Publicity: Barack Obama wurde noch vor offiziellem Erscheinen des Schmökers von geschickt platzierten Paparazzi bei der Lektüre erwischt. Bei Präsident Obama muss ich immer an Kanzlerin Merkel denken, und in diesem Zusammenhang insbesondere an das, was der unsterbliche Christoph Schlingensief mehrfach und richtig über sie gesagt hat, nämlich dass sie völlig kulturlos sei. Sie watschelt zwar mitunter fröhlich in Bayreuth und Salzburg herum, verfügt aber merklich in keinster Weise über das Rüstzeug oder auch nur das Interesse, das zu verarbeiten, was sie dort sieht und hört. Und das stört mich ungemein, denn sie ist ja auch meine Kanzlerin. Ich habe sie nicht gewählt, das war der Bundestag, aber ich erkenne das Wahlergebnis an. Über ihre Politik kann man sich nicht großartig aufregen, die ist halt, wie Politik so ist: Mal so, mal so. Frisur, Fashion und Physiognomie auch schnurzpiepe, ich zitiere frei Max Goldt: Ich wünsche mir keine hübsche Kanzlerin, ich wünsche mir eine gute Kanzlerin. (Vielleicht war es auch nicht Max Goldt, und vielleicht ging es auch ganz anders. Hauptsache, die Aussage ist vernünftig.) Und ich wünsche mir eine Kanzlerin, die hin und wieder mit der Nase in einem Buch erwischt wird, vorzugsweise in einem literarischen, oder auf vergleichbare Weise ein Grundinteresse an Kunst und Kultur glaubhaft signalisiert. Faktisch ist sie schließlich mein Staatsoberhaupt, da hat man nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Man komme mir nicht mit dem Papperlapapp von Bundespräsident und Bundestagspräsident. Ich war gerade in Japan stationiert, als sich in Deutschland der letzte Bundespräsident abgeschafft hat. Da habe ich erst gemerkt, wie schwierig es selbst den interessiertesten Zuhörern zu verklickern ist, was ein Bundespräsident soll. Nichts, eigentlich. Auf seiner Abschiedsparty kann man eine interessante Interpretation eines Oldies durch eine Militärkapelle hören, aber ob das den ganzen Verwaltungsaufwand wert ist, weiß ich auch nicht. Kanzlerin und Außenminister hingegen geben nicht nur Musikwünsche ab. Sie vertreten mich im In- und Ausland, und damit fühle ich mich im Moment nicht ausreichend vertreten.

Ach, jetzt habe ich „Christoph Schlingensief“ gesagt, dabei wollte ich doch bis auf Weiteres darauf verzichten, gerade weil die Versuchung dieser Tage so groß ist. Versuchungen widerstehe ich normalerweise mit Genuss, das ist mein Phantomkatholizismus. Jeder, der Schlingensief einmal begegnet ist, erzählt nun gerne davon unter dem Vorwand des Gedenkens. Dabei geht es meist nicht um die Würdigung dieses feinen Mannes, sondern um die Pinselung des eigenen Bauches. Ich, ich, ich bin Schlingensief übrigens auch einmal begegnet. Sie wollen wissen, wie das war? Hm, ach so … Ich erzähle es Ihnen trotzdem. Gut war es, er hat Erbsensuppe gegessen. Ich nicht, ich hatte schon zu Hause gegessen.

Jetzt ist uns in dieser Woche auch noch Satoshi Kon entglitten, der beste Trickfilmregisseur der Welt, einer der kreativsten Filmemacher überhaupt, ganz unabhängig von der Wahl der Mittel. Wir saßen nie zusammen über einer Erbsensuppe. Umso bedauerlicher, dass wir es nun auch nicht mehr tun werden. Zumindest nicht in dieser Welt. Aber bis wir alle gemeinsam von der großen Erbsensuppe des Himmels kosten, erfreuen wir uns hier und jetzt an Satoshi Kons irdischem Werk, ab sofort vielleicht mit ein klein wenig Wehmut. Es ist quantitativ überschaubar, Kon starb niederschmetternd jung, aber qualitativ schier unfassbar. Und so sagen wir im Gedenken alle im Chor:

„Das ist mein Gehirn!“

„Und das ist mein Gehirn auf Anime!“

TETSUO III: KRACHMACHER

Eigentlich wollte ich nichts über TETSUO THE BULLET MAN schreiben, weil sich spontan gar keine Meinung einstellen wollte. Aber als nach ein paar Stunden mein Gehör zurückkehrte, fingen langsam auch die anderen Sachen in meinem Kopf wieder an zu funktionieren.

Normalerweise bin ich dagegen, Filmtitel u. ä. durchgehend in Versalien zu schreiben, aber bei TETSUO THE BULLET MAN sehe ich keine andere Möglichkeit. Ich kann mich gerade noch beherrschen, nicht drei Ausrufezeichen anzuhängen. Einer Tokioter Stadtillustrierten erzählte der Hauptdarsteller Eric Bossick stolz, bei der Vorführung des Films auf dem Tribeca-Filmfestival in New York wären zum ersten Mal in der Festivalgeschichte die Lautsprecher durchgeknallt. Der Filmvorführer in Shibuyas renommiertem Cinema Rise, wo ich zuhören durfte, wollte wohl ausprobieren, ob er das auch hinbekommt, und ich würde sagen, viel hat nicht gefehlt. Möglicherweise wurde vom Verleih verfügt, dass immer alle Zeiger im roten Bereich sein müssen, sonst macht es keinen Spaß.

Für alle, die nur Avatar kennen: TETSUO THE BULLET MAN ist der dritte Teil der Tetsuo-Reihe von Regisseur bzw. Multikünstler Shinya Tsukamoto. Die Filme setzen einander nicht direkt fort, sondern variieren jedesmal dieselbe Prämisse eines Mannes, der sich in eine Maschine verwandelt und Unheil anrichtet, nachdem ihm selbst Unheil widerfahren ist. Erzählerische Stringenz ist dabei weniger wichtig als provokante Ästhetik und ungewöhnliches Sounddesign. Der erste Film der Reihe, Tetsuo, ist mir flauschige Nostalgie, weil es der erste Film war, den ich bewusst als japanischen Film wahrnahm. Ich hatte bestimmt schon andere mit Riesenmonstern und Schwertkämpfern gesehen, aber das war in einem Alter gewesen, als man sich noch nicht drum scherte, wo die Filme herkamen. Tetsuo begeisterte mich und andere wie mich und überzeugte uns noch vor der bevorstehenden Manga- und Anime-Invasion davon, dass diese Japaner ja alle verrückt sein müssen. Wir waren jung. Heute weiß ich freilich, dass nicht nur nicht alle Japaner Filme wie Tetsuo machen, sondern die meisten Japaner diese Filme noch nicht mal kennen. Und sich am Kopf kratzen, wenn sie mit ihnen konfrontiert werden.

Den zweiten Film, Tetsuo II: Body Hammer, mochte ich nicht sonderlich. Schon die Tatsache, dass er in Farbe war, empfand ich als hollywoodmäßigen Ausverkauf. Wir waren jung. Dennoch wartete ich hibbelig auf den angekündigten Flying Tetsuo. Ein fliegender Tetsuo?! Kann man sich sowas vorstellen?! Kann man, aber der Film kam nie.

Es brauchte 17 Jahre, bis Shinya Tsukamoto sich an einen neuen Tetsuo-Film machte. Weil Tsukamoto besonders im Ausland einen Oh-diese-verrückten-Japaner-Kultstatus hat, wurde TETSUO THE BULLET MAN gleich zu 99,9% in Englisch gedreht, und den Rest der Tonspur durften Nine Inch Nails vollballern. Ob man mit dieser Verwestlichung einverstanden ist oder nicht: In 17 Jahren können Erwartungshaltungen ganz schön monströse Ausmaße annehmen. Zumal Tsukamoto zwischenzeitlich dies- und jenseits des Mainstreams bewiesen hat, dass er mehr als ein One-Hit-Wonder oder One-Trick-Pony ist (bitte schauen Sie Gemini – Tödlicher Zwilling, macht sonst niemand).

Einer der schlimmsten Füll- und Übergangssätze aus dem Baukasten der ungelernten Hobby-Filmkritik lautet: Die Geschichte ist schnell erzählt. Und wenn schon! Ob eine Geschichte schnell erzählt ist oder nicht, sagt rein gar nichts über ihren Gehalt aus. Meistens noch nicht mal über ihre Handlung, allenfalls über ihren Nacherzähler. Wer auf jeden Teenie einzeln eingeht, kann aus der Geschichte von Freitag, der 13. Teil 4 – Das letzte Kapitel einen mehrseitigen Schulaufsatz zaubern. Wer gehässig sein will oder nicht viel Platz hat, kann Robert Altmans Short Cuts in einem Satz zusammenfassen, es ist lediglich ein Minimum an Analysefähigkeit und schreiberischen Geschick vonnöten.

Das Problem von TETSUO THE BULLET MAN ist nicht, dass die Geschichte in groben Zügen schnell erzählt ist: Mann verwandelt sich zu seiner eigenen Überraschung in einen Kampfroboter und rächt den Tod seines Sohnes. Das Problem ist, dass die Geschichte nicht nur grobe Züge hat, sondern zwischen der kreischenden und donnernden Mensch-Maschine-Körperhorror-Action auch noch erzählen will, wie es dazu kommen konnte, und wie die Familie jetzt damit umgeht. Das menschliche Drama wird getragen (bzw. eben nicht) von Fließband-Dialogen, die oft fremdpeinlich sind. Und glaubwürdiger wird die Story mit Sicherheit nicht dadurch, dass der Maschinenmensch durch vergilbte Dokumente mit sepiafarbenen Fotos und altmodisch geschwungener Handschrift fummelt, aus denen er erfährt, dass seine Eltern schon lange an Maschinenmenschen arbeiteten. Wenn wir davon ausgehen, dass der Film in unserer Gegenwart spielt, und der Protagonist so alt ist wie sein Darsteller (Mitte 30), dann kommen diese Aufzeichnungen ungefähr aus den 1970ern? Vordigitales Zeitalter sicherlich, aber hatte man noch keine Farbfotos und Schreibmaschinen? Ich erinnere mich nicht mehr genau.

Darüber kann man aber direkt hinwegsehen, wenn man davon ausgeht, dass sich der ganze Tetsuo-Wahnsinn in einer Realität außerhalb der Realität abspielt. TETSUO THE BULLET MAN ist durchgehend im typischen Tetsuo-Stil inszeniert, also hektische Kamera, schnelle und assoziative Schnitte, Old-School-Spezialeffekte, und alles im Takt des Industrial-Beats. TETSUO THE BULLET MAN ist zwar in Farbe gedreht, aber die Farbe wurde dermaßen zurückgedreht, dass sie nur selten, dann aber effektiv, auffällt. Dass audiovisuelle Donnern macht jedem Spaß, der schon mal Spaß an einem Tetsuo-Film hatte. Die schwache Story macht nichts. Es sind die Dialoge, über die man trotz allem schlecht hinweghören kann. Der Film ist nachahmenswerte 79 Minuten kurz. 69 oder noch ein bisschen weniger hätten es womöglich auch getan, Kürze ist keine Sünde. Dies ist die Art von Film, wo ich ganz Mann bin: Das ganze Gequatsche raus, Hauptsache der Typ wird Kampfroboter und macht Kampfrobotersachen.

Und jetzt bitte Flying Tetsuo. Meinetwegen mit Musik von Einstürzende Neubauten oder Napalm Death oder beiden, aber bitte ohne Worte oder wie dieser Weiberkram heißt.

Meine süßesten Totenschädel

Huch, was sind wir in letzter Zeit monothematisch gewesen. Aber es waren ja auch tolle Tage. Die sind jetzt vorbei, wir glänzen ab sofort wieder mit eigener Leistung und widmen uns angenehmeren Themen, z. B. Totenköpfe. Als neulich im DACH-Oberschichtenfernsehen Japanwoche war (wir berichteten), sagte dort der Künstler Takashi Murakami sinngemäß so etwas wie, dass der Totenkopf in der westlichen Kultur düster besetzt sei, in Japan hingegen häufig als süßer Fratz daherkäme. Der westliche Teil des Statements stimmt nur bedingt, spätestens seit Johnny Depp ist auch bei uns der stilisierte Totenkopf zum Ironie-Glamour-Symbol für vieles vom Damenhut bis zum Beruhigungssauger geworden. Aber gegen Japan ist Deutschland tatsächlich noch Totenkopfentwicklungsland. Drüben muss man sich derzeit schwer anstrengen, irgendeinen Gebrauchs- oder Genussgegenstand zu finden, auf dem kein Schädel abgebildet ist. Ich möchte drei Beispiele vorstellen, ohne die mein Haushalt einfach nicht mehr derselbe wäre. Diese drei hegen keinerlei Anspruch darauf, die originellste Verwendung von Totenköpfen aller Zeiten zu repräsentieren. Es handelt sich lediglich um drei Exemplare, die mir ganz persönlich ans Herz gewachsen sind.

Totenkopf-Filzuntersetzer

Damit macht Trinken gleich noch mal soviel Spaß, und man hat die Konsequenzen stets vor Augen. Insbesondere für Hochprozentiges geeignet. Die Untersetzer stammen aus der Halloween-Promotion eines 100-Yen-Shops. Als dummdreister, unreflektierter Anti-Amerikanist bin ich zwar gegen die Halloweenisierung der außeramerikanischen Welt, aber hier konnte ich nicht widerstehen. Vor so niedlichen Totenköpfen muss jede Kulturkritik in die Knie gehen. Außerdem hat man, untypisch für Japan, ja nicht extra draufgeschrieben: „LET’S HAPPY HALLOWEEN, ISN’T IT!“ Obwohl das eigentlich auch ziemlich cool wäre. Totenkopfuntersetzer kann man zu jeder Jahreszeit verwenden, sie werden Bewirtungsgästen immer ein Lächeln um die Züge zaubern.

Totenkopf-Ohrhörer (Attrappe)

In einer koreanischen Geek-Mall gekauft, es handelt sich aber um ein japanisches Produkt Made in China. Man kann das große Meer, über das die Ohrhörer gekommen sind, in ihnen noch prächtig rauschen hören. Zum Musikhören sind sie dadurch völlig ungeeignet, aber Show-Hören sah nie cooler aus.

Totenkopf-Notizblock

Für besonders süße Abschiedsbriefe. Nimmt die goldige Schleife dem Schädel den Schrecken, oder ist es der modische Glitzerlook? Ebenfalls aus dem 100-Yen-Shop, war also günstiger als Vergleichbares von Damien Hirst, wo man häufig auch für den Namen mitbezahlt.