Fischwoche vs. Japanwoche

Zum Anfang der Woche eine Zusammenfassung der letzten Woche, das waren nämlich zwei Wochen auf einmal: Auf 3sat war Japanwoche, in der Kantine meiner Firma war Fischwoche. Jemand da oben meinte es gut mit mir. Hier das vergleichende Protokoll.

Montag

Fischwoche: Frische Forelle. Ich erwarte selbstverständlich ein großes Becken auf dem Firmenparkplatz und den Chefkoch mit einer Angel zu sehen. Sehe ich aber nicht. Nur Fisch, der aussieht wie freitags, also stark paniert. Da ist noch Luft nach oben.

Japanwoche: Die Dokumentation über das Weltkulturerbe verpasse ich, ich bin noch zu beschäftigt mit Mass Effect, meinem Lieblingsspiel. Voll da bin ich erst zur Reportage über den Schienenverkehr. Es stellt sich heraus, dass japanische Bahnunternehmen bei der Planung von Abläufen, Bahnhöfen und Fahrzeugen offenbar ein Hauptaugenmerk auf die Zufriedenheit des Fahrgastes legen. Davon ist man in Deutschland noch weit entfernt, das hiesige Bahnunternehmen schert sich nicht mal um das Überleben seiner Fahrgäste.

Danach österreichische Nachrichten (man ist national besoffen vom Golden-Globes-Doppelsieg, den auch Deutschland gerne für sich beansprucht), schließlich eine Dokumentation über Ryuichi Sakamoto. Die wollte ich mir eigentlich sparen, aber es ist noch Wein in der Flasche. Ohne dass es Beef gäbe, bin ich kein ausdrücklicher Sakamoto-Anhänger. Seine Filmmusiken haben mich nie groß interessiert, weil mich die dazugehörigen Filme nicht groß interessieren. Seine frühen Popplatten finde ich offen gestanden sogar ziemlich furchtbar, aber das ist nicht schlimm sondern normal. Viele Japaner meines Alters geraten in Verzückung, wenn etwas von Yellow Magic Orchestra gespielt wird, während ich, der ich diese Musik nur retrospektiv kennen gelernt habe, sie bloß unvorteilhaft aus der Zeit gefallen finde. So ist das mit den Soundtracks der Kindheit und Jugend: Man muss wohl dabei gewesen sein. Die Kinder bei uns im Haus schauen auch nur ratlos und besorgt, wenn ich mit meinen Plastikpistolen hinter der Ecke hervorspringe und „Stand and deliver!“ kreische.

Im Filmportrait erweist sich Sakamoto als ein angenehmer Mensch und Gesprächspartner, der sich stets bemüht, auch auf doofe Fragen originell zu antworten. Das ist zwar mitunter etwas krampfig, aber höflich. Gleich anfangs mag Fragesteller Gero von Boehm nicht auf die abgedroschene Frage nach dem Klang der Stadt New York verzichten (findet er so toll, dass er später in anderem Zusammenhang noch mal danach fragt). Wahl-New-Yorker Sakamoto strengt sich sehr an, um schließlich mit einer Antwort über Klimaanlagen zu kommen. Drollig: Japaner finden die USA häufig überklimatisiert, während viele Amerikaner dasselbe über Japan denken. Beide Seiten haben recht.

Ich werde beizeiten noch mal in Sakamoto reinhören. Voreilig gefasste Meinungen zu revidieren ist mein neuestes Hobby.

Fazit: Fernsehen war besser als Essen, eine Seltenheit. Fischwoche vs. Japanwoche Zwischenstand: 0:1.

Dienstag

Fischwoche: Frisches Lachsfilet. Wieder wird die Frische angepriesen, wieder sehe ich nirgendwo einen Angler. Überhaupt sieht das Lachsfilet aus wie die Forelle von gestern, schmeckt auch sehr ähnlich. Erste Kollegen werden unruhig und behaupten, es handele sich in Wirklichkeit in beiden Fällen um Scholle. Man könnte bei den Verantwortlichen nachfragen, aber das könnte ja jeder.

Japanwoche: Vom heutigen Programm bekomme ich nicht viel mit, weil ich am Dienstagabend immer in meinen Debattierklub muss. Als ich nach Hause komme, läuft nur noch Der Wald der Trauer, ein stiller Film über traurige Leute im Wald, der mir spontan gut gefällt, auf den ich mich nach einem einigermaßen schlauchenden Tag aber nicht mehr recht einlassen mag. Stattdessen schaue ich C.H.U.D. (Cannibalistic Humanoid Underground Dwellers) Panik in Manhattan!, damit ich besser schlafen kann.

Fazit: Für heute liegen zu wenige Informationen für eine Beurteilung vor. Ergebnis bleibt unverändert.

Mittwoch

Fischwoche: Es herrscht Einigkeit unter den Mitessern, dass bislang die Japanwoche besser war als die Fischwoche, das könnte sich aber heute ändern, die Fischwoche trumpft auf mit zarter Fischroulade und einem überraschendem Coup: lila Kartoffeln (die müssen so).

Japanwoche: Eine Reportage über russische Fischer auf den Kurilen, eine Inselgruppe, um die sich Japan und Russland gerne streiten. Der Streit ist eigentlich interessanter als die Fischerei, aber das ist nur meine Meinung, und auf die würde ich mich nicht mal selbst verlassen. Ich kann dies und alles Nachfolgende nur mit höchstens einem Auge sehen, weil Wasch- und Schreibarbeiten parallel erledigt werden müssen, und dass der Mensch nicht multitaskingfähig ist, ist wissenschaftlich erwiesen. Lassen Sie sich von Vorgesetzten, Personalern oder Motivationsheinis nichts einreden. Ich sehe noch ein paar Bilder von der Tokioter Spaßinsel Odaiba, auf der ich mal über eine Woche allein gefangen war (für einen Tagesausflug zu zweit ist sie ganz lustig), dann läuft der Horrorfilm Ring – Das Original. Das ist löblich, aber den kann ich schon zweisprachig mitsprechen, deshalb schaue ich Sword of the Stranger. Ist super, läuft aber außer Konkurrenz.

Fazit: Diese Runde geht an die lila Kartoffeln, auch wenn es ein wenig daran liegt, dass der Schiri abends nicht richtig geguckt hat. 1:1.

Jetzt kommt ein Bild aus Ring, weil so langsam mal ein Bild kommen muss:

Donnerstag

Fischwoche: Die Belegschaft ist außer Rand und Band, es gibt Spaghetti mit Garnelen. Meine Freude hält sich in Grenzen, denn das ist genau das, was ich immer zuhause mache, wenn mir nichts Besseres einfällt.

Japanwoche: Ärgerlich: Die Dokumentation Von Geishas und Gameboys ist 16 Jahre alt. Dafür kann sie nichts, aber durch die ungenügende Erwähnung dieses Umstands wird dem unbeleckten Zuschauer der Eindruck vermittelt, all die gezeigten kulturellen Trends und gesellschaftlichen Umwälzungen seien brandneu. Noch ärgerlicher ist der bevormundende Ton, den man häufig in solchen Reportagen hören muss. Westliche Beobachter wissen ja immer viel besser als echte Japaner, was echte japanische Kultur ist. Alles, was modern ist, wird hier ohne Fachkenntnis und ohne jede Bereitschaft zum genaueren Hinsehen als eklig amerikanisiert abgetan, nur Geisha, Samurai & Co. gelten als authentisch japanisch. Dass die traditionelle japanische Kultur stark von China, Portugal und sonstwo beeinflusst ist, wird nicht erwähnt. Ist wohl nicht so schlimm wie amerikanische Beeinflussung. Die Tonlage ist die, in der es im Nachkriegsfernsehen häufig besorgt hieß: „Diese jungen Leute und ihre ‚Beat‘-Musik …“

Bei scobel hat Scobel drei Gäste. Einer erzählt hanebüchenen Unsinn, einer drückt sich etwas umständlich aus, einer wird immer abgewürgt, wenn er ansetzt was Vernünftiges zu sagen, und überhaupt hört Scobel am liebsten Scobel scobeln. Okay, diese Urteile sind extrem unfair (außer das zu Scobel, das trifft den Nagel auf den Kopf), da sie sich nur auf die knapp zwei Minuten beziehen, die meine ungeteilte Aufmerksamkeit haben. Ansonsten bin ich stark abgelenkt durch äußere Einflüsse wie Telefon und Internet.

Als Film gibt es Das verborgene Schwert. Ein hervorragender Film, den ich aber kürzlich erst aus freien Stücken gesehen habe, da muss ich ihn mir nicht heute schon wieder vom Fernsehen aufzwingen lassen. Stattdessen gönne ich mir Ichi – Die blinde Schwertkämpferin. Ganz okay, aber ein bisschen wenig Ichi für einen Film namens Ichi – Die blinde Schwertkämpferin. Manchmal kommt mir die dauerhaft Flunsch ziehende Protagonistin auch vor wie Ichi – Die stumme Schwertkämpferin. Dabei schaue ich doch solche Filme teils auch aus spracherzieherischen Gründen. Falls es eine Fortsetzung gibt, heißt die dann eigentlich Ichi Ni? Entschuldigung, kleiner Linguistenscherz.

Fazit: Spaghetti mit Garnelen, Klassiker. Die Fischwoche geht 2:1 in Führung.

Freitag

Fischwoche: Irgendein Fisch in sehr viel Tomatensauce, die sehr gut ist.

Japanwoche: Am Freitagabend kommen selbstverständlich die leichten Themen. Zuerst: Kamikaze. Kann ich nicht gucken, wg. Terminkonflikt. Gegen Jauch kann keine Kamikaze was ausrichten. Danach Börse. Für eine Börsensendung relativ unterhaltsam, auch wenn man sich nicht die Bohne für den Quatsch interessiert. Etwas unseriös: Ein Filmbericht erweckt den Eindruck, als habe der neueste Premierminister Yukio Hatoyama seine berüchtigte Schlagerplatte aktuell zur Aufrüttelung seines Volkes aufgenommen, dabei handelt es sich um eine 20 Jahre alte Fortysomething-Sünde.

Fazit: Die Tomatensauce war schon sehr gut. 3:1 für Fischwoche. Das ist eine ziemliche Überraschung.

Sagte vorhin jemand Kamikaze? Dann kommt jetzt der Trailer für den Spielfilm Kamikaze Girls:

Samstag

Fischwoche: Mit der Arbeitswoche ist freilich auch die Fischwoche offiziell um, aber ich bin findig und mache mir zum Frühstück ein Garnelenbrot mit Meerrettich unten und Jalapenos oben. Herrlich.

Japanwoche: Magere Ausbeute: eine Dokumentation über eine Feuerwerkerin. Interessiert mich nur oberflächlich, schaue ich nur punktuell.

Fazit: Das Brot war besser, erstaunliche 4:1 für die Fischwoche.

Sonntag

Fischwoche: Dachte nie, dass ich das mal sagen würde: Ich kann nicht mehr. Heute gibt es Spaghetti ohne Garnelen, was Besseres fällt mir nicht ein.

Japanwoche: Auf die letzten Meter will es die Japanwoche noch mal so richtig wissen. Es geht schon morgens los, aber da habe ich noch keine Zeit, denn weil die Minusgrade jetzt nur noch einstellig sind, hat die Dauerlaufsaison wieder begonnen. Am Nachmittag bin ich folglich zu kaputt zum Fernsehen. Am frühen Abend bereite ich die Spaghetti zu und kann mich leider nicht auf die Dokumentation über Ringerinnen konzentrieren. Ich werde hellhörig, als „Kaoru, die Spanplatten-Schlampe“ erwähnt wird. Ich hätte gern mehr davon gesehen.

Dann endlich: Takashi Murakami, der kommerziellste Künstler der Welt. Ich liebe Murakami. Er kritisiert das Niedliche durch das Niedliche, das Oberflächliche durch Oberfläche und macht damit einen riesen Reibach von Insassen der „superflachen“ (Murakami) Gesellschaft, die er kritisiert. So verlogen mindestens sollte gute Kunst schon sein. Selbstverständlich besitze auch ich ein paar Murakamis, soll ich mal zeigen?

Hier, meine Murakami-Mappen:

Und meine Buttons:

Es ist Kunst für das tägliche Leben. In einer Mappe transportiere ich die aktuellen Arbeitsbögen meines Japanischkurses, in einer sammle ich auf Reisen lose Blätter, eine hat ihren Zweck noch nicht gefunden, bis dahin bleibt sie originalverpackt und mint. Murakami hat jeden Yen redlich verdient, den ich dafür bezahlt habe.

Danach eine Doku über Essen in Japan, wurde ja Zeit. Gut und umfangreich, nur der Peter-Lustig-Bob-Ross-Erzählton nervt ein wenig. Anstatt genau zu analysieren, zeige ich ein Foto, auf dem ich Okonomiyaki mache:

Und dann badende Affen und Schluss, jetzt gucke ich noch irgendeinen bekloppten Tomie-Film, dann muss ich ins Bett, und nächste Woche will ich von Fisch und Japan nichts hören.

Fazit: Niemand schlägt Kaoru, die Spanplatten-Schlampe. Heute drei Punkte für Japan. Insgesamt: ein harmonischer 4:4-Gleichstand.

Next-Gen Romcom: Xbox und ich

Plötzlich der Gedanke: Mensch, ich würde auch gerne mal eines von diesen modernen Telespielen spielen, von denen alle immer sprechen. Leider läuft auf meinem Computer nur Monkey Island 2 einigermaßen ruckelfrei. Ich sehe das aber gar nicht ein, dass ich mir nach kaum 20 Jahren schon wieder einen neuen Computer kaufen soll, also habe ich mich für eine Xbox 360 entschieden. Sony ist mir als Konzern emotional unsympathisch.

Beim Auspacken war ich erstmal enttäuscht. Die neue Xbox ist ein bisschen das Gegenteil der alten. Die alte sah auf Fotos aus wie etwas, was nur ein Automechaniker lieben kann, aber in natura … okay, auch nicht viel besser, aber halb so wild wie befürchtet. Die neue hingegen wirkt in der Werbung sehr elegant, sieht aber zuhause aus wie Heizkörper. Macht ja nichts, man guckt ihr schließlich auf die Spiele, nicht aufs Gehäuse. Fünf Spiele habe ich mir auch gleich zugelegt, zwei aus Überzeugung, drei weil sie günstig waren und ich doof bin. Das eine Günstige heißt Fable II, es scheint irgendein Fantasy-Quatsch mit einem Hund zu sein. Ich habe das Handbuch angelesen und war nicht überzeugt. Wahrscheinlich werde ich es nie spielen. Ein Spiel von Software-Legende Peter Dingsbums, Sie wissen schon, der, der im vorindustriellen Zeitalter mal einen Hit hatte und seitdem teure Flops produziert. Eigentlich also ganz sympathisch. Aber trotzdem. Scheinbar anscheinend eines dieser Spiele, die sind, wie das echte Leben ist: Wenn man viel isst, wird man fett. Wenn man was Anständiges lernt, bekommt man einen langweiligen Beruf. Erinnert mich an den historischen 2-Minuten-Hype Shenmue, der vorbei war, als man merkte, dass Milchkaufen im Videospiel genauso aufregend ist wie Milchkaufen im wirklichen Leben. Das ist das Kreuz mit diesen übereifrigen Streber-Spieledesignern. Sie begreifen nicht, dass ein Spiel ein Spiel ist, wenn es etwas Spielerisches hat. Man beschäftigt sich mit etwas, was fern des eigenen Alltags ist. Ich brauche kein zweites Leben, vielen Dank, das erste geht noch. Nicht umsonst wird viel lieber Cowboy & Indianer gespielt als Content Manager & Pediküre. Was kommt als nächstes, Steuererklärung of Duty 5: The Reckoning of Oblivion of Redemption?

Das zweite Spiel, bei dem ich skeptisch war, heißt (und jetzt kommt die Originalität ganz dicke): The Darkness. Es basiert auf einem Comic, der mich seinerzeit extrem gelangweilt hatte, und den ich deshalb nicht mehr zusammenbekomme. Gedanke: Ist als Spiel vielleicht besser. Erkenntnis: Nö, eher im Gegenteil. Wenn ich auf Memmen-Schwierigkeitsgrad schon während des Vorspanns deutlich öfter als fünfmal sterbe, dann spricht das nicht für ein Spielerlebnis, auf das ich mich so richtig freue. Dabei spiele ich Shooter generell so vorsichtig, wie es geht. Permanent geduckt, also wie im richtigen Leben. Früh im Spiel möchte man Erfolgserlebnisse statt Ladezeiten. Sterben kann man später immer noch.

Stellt sich heraus, dass The Darkness von einem langhaarigen Profikiller handelt. Das ist zusätzlich schlecht. Wenn es eine Berufsgattung gibt, die mir total über ist, dann ist das die des Profikillers. Im Erzähluniversum der Unterhaltungsindustrie ungefähr sowas wie der Einzelhandelskaufmann im realen Leben. Man begegnet ihnen an jeder Ecke, und irgendwann ist man es über. Und mit langhaarigen Männern ist das so eine Sache. Ich möchte nicht sagen, was für eine Sache, denn das würde redlichen und klugen langhaarigen Männern, die es durchaus gibt und die mir bekannt sind, vor den Kopf stoßen. Ich lasse also lieber die bewundernswerte Modejournalistin Hadley Freeman sprechen, zitiert aus ihrem Buch Meaning of Sunglasses:

”Name me a single time when long hair has improved a man’s look and I will personally come around to your house and tap-dance naked on your coffee table.”

Ich schließe mich gerne an, falls jemand das eine gute Idee findet (aber nur, wenn Frau Freeman auch wirklich mitmacht). Jedenfalls illustriert dieses Zitat, warum ich den Protagonisten von Darkness abgesehen von seinem unoriginellen Beruf auch optisch nicht recht ernst nehmen kann. Ein weiteres No-Go sind die drittklassigen Scorsese-Dialoge (also quasi Tarantino-Dialoge).

Eines der Spiele, die ich mir aus Überzeugung gekauft habe, ist Dead Space. Man spielt einen Weltraummechaniker, der auf einer Weltraumstation gegen Weltraummonster kämpft. Der Weltraummechaniker heißt Isaac Clarke, was bestimmt der nerdigste Weltraumname aller Zeiten ist (was man aber freilich nur als Riesennerd bemerkt). Man hat Spiele, in denen man durch dunkle Gänge schlurft und in regelmäßigen Abständen von fauchenden Monstern angesprungen wird, schon etwas zu oft gespielt um davon noch feuchte Fingerchen zu bekommen, aber der Spaß ist hier auch ohne die Furcht noch da.

Bis diese blöden Meteoriten kommen.

Ich pack das ni-hi-hi-hicht! Kann das mal jemand für mich machen? Die alle abschießen? Danach kann ich bestimmt wieder alleine. Ich hab längst jeden Stolz verloren, ich würde auch einen Cheatcode nehmen, um die Stelle zu überspringen. Scheint es aber nicht zu geben. Falls doch, bitte schicken Sie. Aber wirklich nur Cheatcode. Keine warmen Worte, Durchhalteparolen oder taktische Verhaltensregeln. Hab ich alles recherchiert, hab ich alles versucht, hat alles nicht gefruchtet. Mal halte ich länger, mal kürzer durch, aber es endet immer damit, dass ich explodiere.

Es ist sehr frustrierend und überhaupt nicht zu tolerieren, wenn ein eigentlich anständiges Spiel durch eine konzeptionell völlig aus dem Rahmen fallende Passage mittendrin aus heiterem Himmel unspielbar wird. Was Spielprinzipien angeht, bin ich puristisch. Ich mag es nicht, wenn ein Egoshooter plötzlich von mir verlangt Auto oder Boot zu fahren, dafür bin ich nicht gekommen. Und ich mag es erst recht nicht, wenn ich mich in einem Nullerjahre-Action-Adventure durch Achtzigerjahre-Spielhallen-Gedrücke daddeln muss. Schade, Dead Space, ich hatte wirklich das Gefühl, dass das mit uns was Ernstes hätte werden können. Aber so nicht.

Im Weltraum hört dich niemand gähnen: Eine noch größere Enttäuschung ist das zweite Überzeugungsspiel, Mass Effect, aber das wenigstens von Anfang an. Immerhin macht das Spiel einem nichts vor. Mein Denkansatz im Vorfeld war: Juhu, ein Science-Fiction(!)-Rollenspiel mit einem eigens dafür (!) kreierten Handlungshintergrund. Kein Elfendrachenzwerge-Mumpitz, keine Übernahme aus Film und Fernsehen, alles neu. Pustekuchen, gar nichts neu. Es ist der übliche Sternenallianzenunsinn, der einem seit den Sechzigern aus den Ohren rauskommt, und der aus unerfindlichen Gründen als humanistisch vorbildlich gilt, obwohl er bloß dumpfste Kolonialherrenmenschenmentalität ausdünstet: Außerirdische sind zwar ganz okay, aber so richtige Menschen sind eben doch nur die Menschen. In der Science Fiction funktioniert die Rassenlehre noch ganz fantastisch: Die von diesem Planeten sind alle gefühlskalte Logiker, die von jenem allesamt gierige Geizhälse. Nur die guten alten Menschen von der guten alten Erde können alle immer alles sein.

Selbst wenn man gewohnheitsmäßig jede Form von Vernunft als „politische Korrektheit“ verunglimpft und sich am Muff von tausend Jahren nicht stört, wird man in Mass Effect wenig Freude haben. Man kann keine zwei Meter laufen, ohne dass einem seitenweise neue, endlos öde Textinformationen zu Politik und Gesellschaft, Flora und Fauna ins virtuelle Logbuch gespeist werden. Die meiste Zeit des Spiels verbringt man mit Lesen. Endlich ein Textadventure, dass die Möglichkeiten der Next-Gen-Konsolen voll ausnutzt.

Ewige sechs Stunden habe ich mich mit Mass Effect rumgeärgert, ehe ich einsah und aufgab. Ich möchte jetzt nicht das bedenkliche Hardcore-Argument hören, dass das Spiel erst „nach 20 Stunden so richtig gut“ wird. Ich glaube, mein Schwein pfeift! So lange kann ich nicht warten, ich bin doch kein Zen-Buddhist. Sechs Stunden sollten reichen um beurteilen zu können, ob etwas Spaß macht oder nicht. Und Spaß finde ich bei Spielen enorm wichtig.

Apropos Spaß: Es gab dann doch noch ein Happy End: Eternal Sonata.

Eternal Sonata ist ein japanisches Fantasy-Rollenspiel, das im Fiebertraum des sterbenden Frédéric Chopin spielt, und das ist genau so gut, wie es sich anhört. Man kann Monster verkloppen und lernen. Nach jedem abgeschlossenen Kapitel kommt ein ziemlich langes Lehrvideo über das Leben von Chopin. Alle Helden und Schurken haben musikalische Namen wie Beat, Jazz, Allegretto. Man kann Partituren sammeln und mit Nichtspielerfiguren jammen. Die Hauptheldin Polka ist aufgerüscht angetan, kämpft mit ihrem tragbaren Sonnenschirm und entschuldigt sich höflich, wenn sie jemandem eine runtergehauen hat. Frédéric kämpft freilich mit dem Taktstock.

Ich möchte nicht behaupten, dass es eine komplett unkomplizierte Beziehung wäre. Manche Abschnitte von Eternal Sonata sind schlicht zickig, bilden sich Gott weiß was ein auf ihre Unübersichtlichkeit. Aber es sind die schönen Momente, die im Gedächtnis bleiben. I like Chopin.

Die Kundendurchleuchtungsmaschinerie eines beliebten Internetversandhändlers hat übrigens festgestellt, dass verdächtig viele Kunden, die mein Buch gekauft haben, auch Eternal Sonata gekauft haben. Das freut mich aufrichtig. Ich wünschen Ihnen viel Vergnügen mit Ihren Einkäufen.

Mein erstes Mal in Japan (2): Rockkonzert

Es ist mir ein Bedürfnis, zweierlei zu meinem Maid-Café-Eintrag von neulich nachzureichen. Beim ersten handelt es sich um die Schilderung einer Begebenheit, die ich mir zwar unmittelbar nach meinem Besuch als interessant notiert, aber bei der Schönschrift dann doch vergessen hatte. Und zwar: Gerade als ich das Lokal verließ, kam eine neue Gäste-Clique herein – und die bestand nahezu komplett aus jungen Frauen. Unverdächtigen, recht attraktiven jungen Frauen. Ich will nicht behaupten, dass dadurch auf einen Schlag das Geschlechterverhältnis im Café kippte, aber die Männerquote von zuvor 100% (Personal freilich nicht mitgerechnet) wurde doch beträchtlich gesenkt.

Der zweite Nachtrag ist das Eingeständnis einer faustdicken Lüge meinerseits. Das verräterische Herz böllert nun doch zu heftig gegen die Dielen. Ich habe geschrieben, dass ich am Abend des Tages meines Café-Besuches im Fernsehen eine Folge der Serie ‚Maid Deka‘ gesehen habe. Sie haben es bestimmt längst bemerkt: Das kann gar nicht sein! ‚Maid Deka‘ läuft doch freitags, und das Foto aus dem Maid Café ist eindeutig auf den 2. September 2009 datiert! Und das war ein Mittwoch!

Ja, ich gebe zu, ich habe die Wahrheit für einen dramaturgisch geschmeidigen Abgang geopfert. Und ich würde es wieder tun.

Ich habe die besagte Fernsehserie zwar das eine oder andere Mal gesehen, aber eben nicht an jenem Abend. Tatsächlich habe ich mich nach dem crazy Café keineswegs geschont und ins Private zurückgezogen, sondern – Kaiserüberleitung – habe mich eine weitere persönliche Japan-Premiere getraut: Mein erstes Rockkonzert.

Ticket

Dass ich zuvor kein solches auf japanischem Boden besucht habe, liegt freilich weder an Scham noch an Desinteresse, sondern wirklich lediglich daran, dass gute Reisezeit und gute Konzertzeit nicht immer Schnittmengen haben. Aber diesmal gibt es ein Konzert, das mich interessiert und das günstig liegt: Die Nachfeier zum Erscheinen des Independent-Samplers ‚Kill Your T.V. 09‘ mit mehreren darauf vertretenen Bands, im wesentlichen Gitarrenbands der brummigen Sorte. Es soll im ‚nest‘-Abteil des Club-Komplexes Shibuya O-WEST stattfinden. Auf der Website von Shibuya O-WEST ist eine Karte mit der Lage des Etablissements einzusehen: Püppileicht. Man muss nur scharf am Shibuya 109 vorbei, dann die nächste rechts oder links (je nachdem, an welcher Seite man scharf vorbeigegangen ist), und eigentlich ist man schon da. Das Modekaufhaus Shibuya 109 ist nicht zu übersehen, wenn man in Shibuya ist. Ein kunterbunter Monolith, fliegt man als Tourinaut vorbei, staunt man: „Mein Gott … es ist voller Menschen!“ Vor allem junge Menschen. Betritt man es als über 25-jähriger, sterben bei jedem Besuch ein paar Gehirnzellen. Schuld ist neben der optischen Reizüberflutung die ohrenbetäubende Musik, die die jungen Kunden nicht davon abhält ununterbrochen miteinander zu telefonieren. Bei jungen Menschen sterben die Gehirnzellen übrigens auch, aber in dem Alter ist das ein natürlicher und notwendiger Aspekt der Assimilation, damit man den Rest des Lebens besser meistern kann. Das nur am Rande, ich betrete es ja gar nicht, sondern gehe scharf links daran vorbei. Als hätte ich es geahnt, führt mich die nächste Straße rechts keineswegs zum Ziel. Japaner und ich haben gemein, dass wir leicht zu verstehende Karten komplizierten Karten vorziehen. Wir haben nur eine unterschiedliche Vorstellung davon, wie sich ‚leicht zu verstehen‘ definiert. Ich meine, eine Karte ist gut, wenn jede noch so unwichtige Straße darauf eingezeichnet ist, damit man sich daran orientieren und Abbiegungen abzählen kann. Japaner meinen, eine Karte ist gut, wenn nur die Straßen eingezeichnet sind, die man wirklich benutzt auf dem Weg zum Ziel. Kurzum: Es handelte sich bei der Straße, die ich auf der Karte für ‚die erste rechts nach Shibuya 109‘ hielt, keineswegs um die erste rechts. Sondern ungefähr um die 127. rechts. Die anderen 126 waren nur nicht auf der Karte eingezeichnet, weil man sie ja nicht nehmen muss. Ich verfranse mich ganz schlimm in den Love-Hotel-Hügeln von Shibuya und finde O-WEST erst durch Zufall, als ich längst auf dem Heimweg bin und eigentlich gar keine Lust mehr habe. Habe ich dann aber doch wieder, Erfolgserlebnisse lassen Glückshormone sprudeln.

Das ‚nest‘ ist ein angenehm kleiner Club im siebten Stock. Die Unisex-Klos ein Stockwerk tiefer lassen sich über eine Brooklyn-mäßige Außentreppe erreichen. Die coolsten Kids stehen natürlich nicht im Club, sondern auf dieser Treppe, rauchen und telefonieren. ‚Kids‘ ist richtig, denn das Publikum ist zu einem sehr großen Teil sehr jung, oder scheint zumindest so. Man möchte sich das ein oder andere Mal direkt runterbeugen, die Hände auf die eigenen Oberschenkel legen und fragen: „Ja, darfst du denn schon so lange aufbleiben?“ Aber dann fällt einem ein: Ist ja gar nicht spät, so ein Punkkonzert geht in Japan schließlich schon um 18 Uhr 30 los, damit jeder noch gut per Bus und Bahn nach Hause kommt. Als Tourist gefällt mir der frühe Anfang, als Berufstätiger dächte ich wohl anders. Aber die meisten hier sind eh zu jung für Berufe.

Die erste Band habe ich wegen Orientierungsschwierigkeiten verpasst, aber ich komme genau rechtzeitig zu dem Auftritt, der mir ohnehin Hauptanliegen war: Mass of the Fermenting Dregs, ein Girl-Rock-Duo mit Quoten-Boy am Schlagzeug. Eigentlich finde ich die gar nicht gut, aber ich wollte das Konzert nutzen, mich eines besseren belehren zu lassen, denn ‚ALLE‘ finden die gut. Die hochgelobten beiden EPs der Band sagten mir nicht viel, ich fand den Sound dünn und die Kompositionen wenig bemerkenswert. Vielleicht aber, so der Gedanke, sind sie live besser, wäre bei dieser Art von Musik kein Einzelfall. Und genau so kommt es: Live hat der Sound mehr Bass und Brett, die Musik haut einem wunderbar eine runter. Sängerin Natsuko Miyamoto interagiert begeistert mit dem Publikum, Gitarristin Chiemi Ishimoto bleibt weitgehend stumm und schüttelt genreimmanent ihr Haar. It’s a beautiful noise, um es mit Metal-Legende Neil Diamond zu sagen.

Da dieses Konzert in der englischsprachigen Veranstaltungspresse der Leserschaft recht warm ans Herz gelegt wurde, wundert es mich ein wenig, dass ich einer von nur sehr wenigen offensichtlichen Ausländern bin. Zwei Amerikaner halten sich an ihren Bierdosen fest (an meiner wär unangenehmer), ein sympathisches italienisches Biker-Paar im fortgeschrittenen Alter kauft euphorisch nach jeder Band den Merchandising-Stand aufs neue leer. Ein Merchandising-Produkt, das ich in Deutschland selten bei Independent-Konzerten sehe, das hier aber sehr beliebt scheint, ist das Handtuch mit Aufdruck. Außerdem anders: Zu Stoßzeiten stehen die Kaufinteressierten gesittet an, anstatt die Verkäufer als brüllende Menschentraube kollektiv zu zerquetschen.

Sagte ich gerade etwas von Bierdosen? Gut möglich, denn Bier wird an der Theke in Dosen verkauft. Hat der japanische Musikliebhaber seine Dose ausgetrunken, wirft er sie in den dafür vorgesehenen Behälter. Man stelle sich das mal in Deutschland vor: Ein Rockkonzert, bei dem pfandloses Dosenbier verkauft wird. Vielleicht würde gar nichts passieren.

Angenehm ist, dass die Menschen wirklich zum Feiern der Musik und Musiker hier sind. In Deutschland scheint dieser Tage die Hälfte der Gäste nur deshalb ein Konzert zu besuchen, um es von vorne bis hinten mit dem Handy oder der Spiegelreflexkamera abzufilmen oder abzufotografieren. Ich finde es bedauerlich, dass die deutschen Konzertveranstalter derart eingeknickt sind vor der Technik und inzwischen so gut wie alles durchgehen lassen. Sie werden sagen: „Ach, wir können den Leuten doch nicht ihre Telefone nehmen!“ Ich sage: Könnt ihr wohl! Könnt sie nehmen, zu Boden schmeißen, drauftreten, und den ehemaligen Handy-Besitzer ohne Becherpfand nach Hause schicken.

Mag sein, dass das Fotografieren und Mitschneiden bei Michael Jac Madonna noch heute verboten ist. Aber bei den Kurkonzerten, auf denen ich mich bewege, herrscht inzwischen überall gestresstes und stressiges Knipsen und Filmen, ohne dass es uniformierte Stiernacken mit Funkgerät juckt. Man weiß heutzutage ja auch gar nicht mehr, was man überhaupt darf oder nicht darf. Das liegt an der Abschaffung der vorproduzierten Eintrittskarte. Früher hatten Konzerteintrittskarten vorne drauf ein farbiges Bild eines Monsters mit einer Axt oder einer Gitarre, und auf der Rückseite standen allerlei kleingedruckte Verbote. Heute gibt es Konzertkarten nur noch als Print-on-Demand-Abreißzettel mit Künstlername, Ort, Datum und Uhrzeit. Man macht sich nicht die Mühe, alle Verbote in die Druckmaschine einzugeben.

Glauben soll man bitte nicht, dies sei der Beginn eines Lamento darüber, dass es sie nicht mehr gäbe, die schönen Dinge. Es gibt im Gegenteil immer mehr schöne Dinge, man muss nur die Augen ein bisschen aufsperren, dann sieht man sie. Der Verlust der bibliophilen Konzertkarte ist zu verkraften, wenn man aus dem Pinnwand-Alter raus ist. In Sachen musikalischer Stilrichtungen werde ich mit zunehmendem Alter immer offener, in Bezug auf die Präsentation von Musik zunehmend puristischer. Was mich am Tod des Tonträgermarktes ein wenig traurig stimmt, ist der Verlust von Plattengeschäften. Auf Platten selbst, ob groß oder klein, schwarz oder silbern, kann ich aber gut verzichten. Der Cover-Artwork-Unsinn und Sammler-Editionen-Schwachsinn kaschiert nur, ist eitles Blendwerk, hat nichts mit Musik zu tun. Ach, da höre ich schon wieder einen heulen: „Aber … aber … Plattencovers sind doch eine Kunstform, noch dazu eine in der Kunstformengeschichte sträflich vernachlässigte!“ Darauf sage ich: Vernachlässigt – papperlapapp! Jedes Jahr müllen Hunderte Plattencover-Ausstellungen ansonsten grundanständige Museen zu, in den Museumsshops liegen Tausende Plattencover-Bildbände (Zahlen geschätzt), man komme mir nicht mit der Rede von der vernachlässigten Kunstform. Ich mag das nicht mehr sehen. Irgendwann ist eine Banane nur Banane. Liegt ja außerdem auch ohne Platte jedem Künstler frei, Kunstwerke im Format 30 x 30 cm zu schaffen. Wenn die gut werden, schaue ich sie mir an. Musik aber kaufe ich wegen der Musik.

Mehr noch als mich die Filmerei auf Konzerten stört, quält mich die Frage, was die Filmer hinterher damit anfangen. Kann mir keiner erzählen, dass man sich das unscharfe, übersteuerte Gewackel jemals wieder ansieht. Früher, zu BRD-Zeiten, als alles noch verboten war, konnte man mit solchen Aufnahmen Geld machen. Aber heute würde niemand in einer Jugendzeitschrift annoncieren: „Biete einen Videomitschnitt eines kompletten Konzertes der französischen Kneipensängerin Berry, aufgenommen am ersten Herbstabend 2009 in München, also als sie noch cool war, bevor ‚ALLE‘ sie gut fanden. Auf der Tonspur ist es mir gelungen, die Bestellvorgänge an der Theke besser herauszuarbeiten als den Gesang der quirligen Grinsekatze aus dem schönen Paris, und die Farben schwanken zwischen ausgebrannt und verwaschen, weil die Lichtverhältnisse bei Konzerten Laienfilmer und ihre Ausrüstung regelmäßig überfordern. Abzugeben gegen 200 Mark in Briefmarken, eine Videokopie des Spielfilms ‚Ein Zombie hing am Glockenseil‘ (höchstens 5. Generation) und eine Bravo-Kissogram-Karte des New-Romantic-Paradiesvogels Steve Strange.“ Würde heute keiner machen. Hätte nämlich schon jemand gratis bei Youtube hochgeladen, woraufhin es bald ein angemeldeter Nutzer mit fünf Sternen bewertet und folgenden Kommentar dazu geschrieben hätte: „alter kuck mal der ausschnitt von die alte HECHEL ROFL HECHEL ;-p“ Kurze Zeit darauf wiederum hätte ein Youtube-Systemadministrator Video und Kommentar gelöscht, weil sich eine US-amerikanische Hausfrau und Mutter, die in dieser Eigenschaft auch Mitglied eines diesbezüglichen Interessendurchsetzungsverbandes ist, beschwert hätte, dass das Video wegen dem Ausschnitt von die Alte not appropriate for family viewing sei. Sowas könne man vielleicht im liederlichen Paris oder im roten München tragen und zeigen, aber in den USA weckt der Anblick schlimme Erinnerungen an das dunkelste Kapitel der jüngeren US-Geschichte. Ich sage nur: Garderobenfehlfunktion.

Aber ich schweife ein wenig ab. Wir sind nicht im liederlichen Paris, und nicht im roten München, sondern im griebigen Tokio.

Die Bands nach Mass of the Fermenting Dregs spielen in der Mehrheit etwas, für das ich jetzt mal den Begriff Krawatten-Punk als geflügeltes Wort etablieren möchte, also harte aber disziplinierte Musik, dahinter stecken mehr Gedanken als nur ‚Rülps‘, die Frisur sitzt. Baller-Musik für Kunststudenten, wie es mir gefällt. Mindestens einmal ins Publikum springen ist für jeden Act Pflicht. Da hin und wieder doch mal jemand ein Foto knipst, lege auch ich meine Scheu ab und knipse Gitarrist und Sänger der letzten Band, nachdem sie ins Publikum gesprungen sind um dort weiterzuspielen. Wie Laien-Konzertfotos so sind, sind auch meine nichts geworden. Eines sei hier abgebildet, die Pfeile markieren Musiker.

Rock
Diese letzte Band, die ich für mudy on the 昨晩 halte (bin mir aber nicht sicher und nach fruchtloser Recherche zunehmend unsicherer), übertreibt es ein wenig mit der Publikumstuchfühlung. Ständig dieses Geschrei: „Shibuyaaa!“ Beim ersten Mal schreie ich begeistert zurück: „Yeeeaaah!“ Will sagen: „Yeah! Ich bin auch Shibuya! Ich sage es laut und stolz!“ Aber irgendwann wird aus dem Shibuyaaa-Gegröle doch nur lästige Anbiederung. Wir wissen schließlich, wo wir sind, und dass wir die Coolsten sind, weil wir da sind, wo wir sind.

Falls es sich bei der anbiedernden Gröl-Bande nicht um mudy on the 昨晩 handelte, und davon gehe ich beinahe aus, bitte ich mudy on the 昨晩 in aller Form um Entschuldigung. Liebe mudy on the 昨晩, ihr seid bestimmt ganz toll und gar nicht anbiedernd.

Bonus-Track
Mein zweites Mal in Japan: Rockkonzert

Mir hat das Kill-Your-T.V.-Konzert so viel Spaß gemacht, dass ich am nächsten Tag noch mal hingehe. Ist ein anderes Konzert unter anderem Motto, aber ebenfalls im Shibuya-O-WEST-Komplex und zufällig ebenfalls mit einer Band als Headliner, die auch auf der Compilation von gestern vertreten ist: OGRE YOU ASSHOLE. Ich hielt den Namen zuerst für einen typisch japanischen Unsinnsnamen, er geht aber zurück auf ein Zitat aus dem amerikanischen Filmklassiker ‚Die Rache der Eierköpfe‘.

Diesmal findet alles im ‚crest‘ statt im ‚nest‘ statt. Der Club ist noch etwas kleiner, dafür ist ein lauschiges Alternativ-Café vorgeschaltet. Wieder sind viele Kinder da, nicht wenige sehen so aus, als würden sie ihre Freizeit eher in der außerschulischen Handarbeits-AG als auf Punkkonzerten verbringen. Und gerade dieser Umstand rührt mich sehr. Hier scheint es kein Coolness-Diktat zu geben. Alle stehen ja offenbar auf die gleiche Musik, also können sich auch alle verstehen. Da muss keiner keinem die Unterhose langziehen oder den Kopf in der Kloschüssel waschen.

Die erste Band ist ein ganz erstaunliches Trio mit zwei Schlagzeugen und zwei Macbooks. Ihre Musik setzen D.V.D in Echtzeit als Computergrafiken um, die hinter ihnen auf einer Leinwand zu sehen sind. Zuerst denke ich: Ach, so ein Konzept-Scheiß. Aber dann bin ich hin und weg. Als dramatischer Höhepunkt wird per Musik Pong gespielt.

Hernach spielen die liebenswerten Uri Gagarn ein kräftiges Krawatten-Punk-Set mit verschmitzten Ansagen. Das wird mit CD-Kauf belohnt. Hinterher muss ich feststellen, dass das wieder so eine Band ist, die live mehr bringt.

OGRE YOU ASSHOLE sind leider ein zu souveräner Headliner. Die können schon was, aber um es britisch zu vergleichen: Es klingt zu häufig doch zu sehr nach Coldplay als nach Sex Pistols. Ich weiß, das ist gemein, ich bin sonst auch nicht so. Aber nach zwei überaus sympathischen und einigermaßen originellen Bands ist die Pop-Punk-Routine von OGRE YOU ASSHOLE doch etwas enttäuschend. Ich fordere: Uri for headliner!

MP3 rettet das Album-Format

Ich weiß noch nicht, ob digitale Musik die Musikindustrie vernichten wird oder nicht, ich bin doch kein Hellseher, fragen Sie mich später noch mal. Eines aber weiß ich: Musik-Downloads sind ein Glücksfall für das klassische Album-Format. Finde ich. Und ich bin der einzige realistische Maßstab, den ich ansetzen kann, alles andere wäre reine Spekulation. Ich gehe doch nicht extra in den Keller und werf das Internet an, um mir dann ein einziges Lied runterzuladen. Was soll ich mit dem machen? Das fliegt dann irgendwo rum, und am nächsten Tag weiß ich gar nicht mehr, dass ich es habe.

Mein unterbezahlter Dateimanager sagt mir, dass ich im Jahre 2004 ernsthaft mit dem Kauf rein digitaler Musik begonnen habe. Damals habe ich mir auch ein paar einzelne Lieder gekauft, es waren sentimentale Lieder, es gab Gründe, frage nicht. Jedenfalls wollte ich daraus eine Abspielliste mit sentimentalen Liedern erstellen, denn sentimental geht immer, dachte ich, die Liste wird Ausmaße annehmen, mein lieber Scholli, und die kann ich dann immer hören, wenn ich mich in tröstendem Selbstmitleid suhlen möchte.

Heute, rund 5 Jahre später, ist sie 3 Lieder lang. Wenn Sie es für Ihre Hausaufgaben genau wissen müssen: ‚Tiny Tears‘ von Tindersticks, ‚Dry Your Eyes‘ von The Streets und ‚Someday We’ll Know‘ von New Radicals.

Nicht, dass ich mir nie andere sentimentale Lieder heruntergeladen hätte, aber sie waren immer in einem Albumzusammenhang. Und wenn ich den Albumzusammenhang habe, brauche ich keinen anderen Zusammenhang. Wenn mir was gefällt, klicke ich auf ‚Album kaufen‘. Man kann doch In-Unserer-Schnelllebigen-Zeit nicht jeden Song einzeln evaluieren und dann womöglich noch Abspiellisten erstellen, damit es sich lohnt. Wer hat denn dafür Muße?  

Früher, als Musik noch in erster Linie auf physischen Tonträgern verkauft wurde, habe ich mir durchaus hin und wieder Singles gekauft, Vinyl wie CD. Inzwischen kommt das gar nicht mehr in die Tüte. Muss auch nicht, denn seit physische Tonträger marginalisiert sind, sind Alben richtig gut geworden. Früher hatte sogar jedes insgesamt geniale Album ein oder zwei Gurkenlieder gehabt. Das traut sich heute kein ernst zu nehmender Künstler mehr. Sonst laden sich die ‚Kids‘ nur einzelne ‚Songs‘ runter, und die Gurken bleiben liegen.  

Glücklicherweise sind Alben im Zuge der totaldigitalen Revolution auch wieder kürzer geworden. Die CD hatte da viel kaputt gemacht. Weil rund 80 Minuten drauf passten, waren viele Künstler und sogar einige ihrer Kunden der Meinung gewesen, man müsse die Zeit vollmachen, wolle man die Kunden nicht verschaukeln bzw. sich vom Künstler verschaukelt fühlen. Deshalb wurde die Welt verseucht mit unwürdigen Neuabmischungen eigentlich unverbesserlicher Meisterlieder, ermüdendem Instrumentalquatsch, Demoversionen, die niemanden was angehen, und Gurkenliedern 2.0, die in der Frühzeit der Tonaufnahme auf keine Single-B-Seite gekommen wären. Inzwischen sind beglückend viele Alben sogar inklusive Frühkäufer-Bonus-Material wieder bei einer Dreiviertelstunde angekommen. Genau die richtige Zeit um einen einzulullen, aber nicht lang genug, um einen zu langweilen.

Natürlich kann mit der neuen Darreichungsform auch Schindluder getrieben werden. Das äußert sich in der Unsitte, drei Knallerlieder auf einem Album nach vorne zu packen, und der Rest ist Schnarch. Sowas hat es früher nicht gegeben, gibt es aber heute ziemlich häufig. Es ist mir zwar peinlich, aber um der Aufklärung Willen gebe ich zu, dass ich im Sommer 2008 auf das Sommer-Hit-Wunder The Ting Tings hereingefallen war, weil mir die ersten drei Lieder ihres Albums beim Reinhören recht gut gefallen hatten. Also das ganze Album runtergeladen, das ganze Album gehört, und schnarch. Und jetzt hockt es auf meiner Festplatte und verhöhnt mich. Denn die drei guten Lieder waren freilich auch nicht gut. Ohrwürmer halt. Wie Würmer so sind, erst ganz lustig, dann doch nur Aasfresser.

Aber der Kunde ist nicht blöd. Fällt er einmal drauf rein, fällt er vielleicht auch noch ein zweites Mal drauf rein (dumdidum, The Kills, Midnight Boom, dumdidum), aber ein drittes Mal sicher nicht. Die Anzahl der Alben, die ich versehentlich wegen ihrer betrügerischeren Dramaturgie komplett gekauft habe, ist geringer als die der Lieder in meiner Sentimental-Abspielliste.

Hin und wieder äußern sich auch Musiker zum Thema Song-vs.-Album im volldigitalen Zeitalter. Man sollte nicht auf sie hören. Musiker wissen gemeinhin weniger über Musik als Musikhörer, denn die müssen schließlich damit leben. Billy Corgan, heute einziges Mitglied der Smashing Pumpkins, behauptet gerne, dass das Album tot sei, und man lieber hier und da mal einen Song veröffentlichen solle, sinngemäß. Ich habe das eine Weile mitgemacht, denn ich mag prinzipiell die aufgelösten Pumpkins lieber als die Band von damals, aber die letzten dieser Hier-Und-Da-Songs waren leider recht schwach, deshalb gerät mir das ganze Smashing-Pumpkins-Ding zusehends in Vergessenheit. Woran ich mich hingegen gut erinnere ist das letzte Album. Kein Meisterwerk, aber auch kein Beinbruch, auf jeden Fall des Erinnerns werter als die gefolgten virtuellen ‚EPs‘ und ‚Singles‘. Twix hieß früher Raider, Billy Corgan hieß früher Andrew Eldritch, und bei dem hat man irgendwann auch das Mitverfolgen aufgegeben. Ein Album hier und da hätte den Lauf dieser Geschichte vielleicht verändert.

Ein Mitglied der Gruppe Kraftwerk äußerte sich neulich genau gegenteilig, aber genauso fragwürdig. Der Herr (er hat einen Namen, aber ich kann mir die Kraftwerk-Namen nie merken) war hoch erfreut darüber, dass man die zeitlichen Fesseln der CD abgestreift hatte und nun Alben machen könne, die mehrere Monate Spielzeit haben. Sinngemäß. Oder waren es nur Tage? Jedenfalls zu lang, wenn man mich fragt.

Und dennoch erscheint mir diese Herangehensweise nicht ganz uninteressant. Ich weiß noch nicht, ob ich meinen Jahresurlaub dafür opfern werde, ein neues Kraftwerk-Album anzuhören, aber ich finde es gut, wenn Künstler neue Wege gehen. Ich muss ja nicht jeden Weg ganz mitgehen. Vielleicht lade ich mir dann nur ein Lied runter.