Optimistisch hatte ich geglaubt, das larmoyante Herumhacken auf Menschen, für die es im Leben etwas mehr sein darf als Heim, Herd, Sack, Asche und Industrieplörre, würde den larmoyanten Herumhackern selbst irgendwann langweilig werden. Dem scheint leider nicht so zu sein, deshalb muss ich jetzt doch mal was loswerden: ein Hoch auf die Latte-Macchiato-Mütter, überall! Mögen sie mit ihrer Anmut weiterhin die Stadtbilder verschönern und mit ihren Designerkinderwagen (Bayern: Designerkinderwägen) noch so manchem frühvergreisten Griesgram den Weg verstellen. Und ein Hoch auf ihre Partner, die Craft-Beer-Väter! Auf dass sie sich niemals einreden lassen, ihr Bier sei gar kein echtes Männer-Bier, nur weil mehr Geschmack, mehr Alkohol und kein Hopfenextrakt drin ist.
Wir Latte-Macchiato-Mütter (Craft-Beer-Väter mitgemeint) wurden großgezogen von einer Generation von Jacobs-Krönung-Müttern und Haake-Beck-Pils-Vätern (Bayern: Augustiner-Bräu-Vätern). Wir lieben sie, doch das bedeutet nicht, dass wir alles genauso machen müssen wie sie. Das Herumhacken auf unserem Lebenswandel hat etwas von der Runter-von-meinem-Rasen-Mentalität der Generation vor unserer Elterngeneration, die an dieser Stelle aus dem Jenseits jault: „Jacobs Krönung und Haake Beck Pils? Luxus! Wir hatten damals nur die Spucke der Besatzer zu trinken und mussten uns vorstellen, es wäre Jacobs Krönung und Haake Beck Pils! Und aus uns sind trotzdem zufriedene, tolerante, lebenslustige alte Herrschaften geworden! Äh, Moment mal …“ Wat de Buur nich kennt, dat frett he nich. Die Ablehnung des relativ modernen Genusswandels erinnert auch an das verzweifelte Festklammern an der eigenen Jugend. Alles soll genauso bleiben, wie es immer war, und die Musik von heute ist ja nur noch Boingboingboing, und wer Bier trinkt, das es letztes Jahr noch nicht gab, ist ein Mädchen. Was schön und neu ist, muss schnell mit der Gentrifizierungskeule alt und hässlich geschlagen werden. Speziell die Kritik an den Latte-Macchiato-Müttern geht von der antifeministischen Uralthaltung aus, Frauen müssten mit Einsetzen der Mutterschaft das Frausein einstellen. Sie dürften sich fortan nur noch in den eigenen vier Wänden aufhalten und im Trainingsanzug Jacobs Krönung schlürfen. Andere Interessen als Kinder, Kinder, Kinder sind Zeichen von Selbstsucht und stören da draußen die Greise zwischen 30 und 50, die gerade auf dem Weg in ihre Siff- und Suff-Kneipe sind, in der seit dem 20. Jahrhundert nicht mehr geputzt wurde, was sie so gemütlich und ihre Kundschaft so gut gelaunt macht. Man verwechsle diese Verteidigung ganz normaler Menschen nicht mit Hipster-Verteidigung. Selbstverständlich kann einem das Klein-klein um die neuesten Bier- und Kaffeemarotten auf den Senkel gehen. Vor ein paar Jahren wurde einem noch die Freundschaft gekündigt (richtige Freundschaft, nicht Facebook-Freundschaft), wenn man mal unachtsam ausgeplaudert hatte, man würde zu Hause heimlich Filterkaffee trinken. Die Musik hörte schlagartig auf, alle Scheinwerfer und Blicke waren auf einen gerichtet, und eh man sich versah, saß man ganz alleine da und das Licht ging aus. Inzwischen ist Filterkaffee wieder der letzte Schrei. Natürlich nur mit dem RICHTIGEN Filter und der RICHTIGEN Filterkaffeemaschine. Dieser ganze Kaffeetechnikfetischismus ist natürlich papperlapapp. Ich verrate schnell, was man für guten Kaffee braucht: guten Kaffee. Wenn es sich einrichten lässt noch gutes Wasser (ist in München leider schwieriger zu bekommen als guter Kaffee). Das langt. Dann ist es relativ egal, ob die Maschine drum herum 40 oder 400 Euro gekostet hat (tut mir leid, vielleicht haben Sie den Bon ja noch). Im Großen und Ganzen ist es aber begrüßenswert, dass immer mehr Menschen eher bewusst genießen als gewohnheitsmäßig kippen. Zum Wohle.The Making of Roppongi Ripper
Gerne möchte ich ein paar Schnurren von der Entstehung meines aktuellen Romans Roppongi Ripper teilen. Ehe ich allerdings wieder großspurig eine Serie anfange, an der ich dann doch irgendwann das Interesse verliere, wenn draußen die Sonne oder in seinem Bettchen das Kindlein lacht, mache ich diesmal alles in einem Abwasch.
Das Hauptquartier der Tokioter Stadtpolizei in Kasumigaseki, wo Inspector Yuka Sato weiterhin arbeitet, wurde bereits anlässlich des Erscheinen des Vorgängerbandes Yoyogi Park ausführlich abgehandelt. In Roppongi Ripper wird ihr Partner Shun Nakashima unter mauscheligen Umständen in das vielbeschäftigte Polizeirevier Azabu in Roppongi versetzt. Es ist Folgendes:Endlich: Sex bei Houellebecq
Kennen Sie den noch?
Eine Geschichte zweier Kuchen [Kaiho-Kolumne]
In der aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Gebratene Ente unter anonymen Genitalien zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung. (Ja, ich habe zum Thema Esskastanienpüreegebäck in diesem Blog schon einmal gearbeitet, aber es ist ja auch ein Thema, dass uns alle irgendwann betreffen kann, deshalb lässt es sich gar nicht oft genug beleuchten. Dass sich die Schilderungen gleicher Ereignisse meines Privatlebens von Text zu Text ein wenig unterscheiden, liegt an gelebter künstlerischer Freiheit und Lügenpresse.)
*** Will man in Deutschland Japanern begegnen, ist eine der sichersten Anlaufstellen die Baumkuchenbäckerei, die es bestimmt in jedem Ort gibt, der auf der Romantikstrecke der führenden japanischen Tourismusunternehmen steht. Ich bin von Haus aus kein Kuchenexperte, deshalb hatte ich keine größeren Gewissensbisse, dass ich den Baumkuchen allenfalls dem Namen nach kannte, bis ich mit einer Japanerin liiert war. Diese Japanerin wiederum war schwer schockiert von meiner Unkenntnis, hielt sie doch Baumkuchen für so stark mit der deutschen Volksseele verbunden wie Volkswagen und Sauerkraut. Als sie zum ersten Mal die Baumkuchenrepublik Deutschland bereiste, war sie ausgestattet mit einem Reiseführer, der gefüllt war mit Abbildungen von Lebensmitteln, von Weißwurst bis Happy Hippo, mit Kontrollkästchen daneben, nach Verzehr anzukreuzen. Beim Abhaken des Baumkuchens in der entsprechenden Spezialkonditorei fühlte ich mich mehr als Tourist als sie, waren die japanischen Kunden doch stark in der Überzahl. Die Beliebtheit des Baumkuchens in Japan ist vermutlich weniger romantisch oder lukullisch begründet, als man annehmen möchte. Durch seine lange Haltbarkeit lässt er sich halt auch ohne Blitzversand in fernere Regionen exportieren und muss dort nach Erhalt nicht sofort blitzverzerrt werden. Inzwischen sind so viele Baumkuchen nach Japan ausgewandert, dass sie dort ihre ganz eigene Kultur entwickelt haben. Es ist eine Kultur, die sich in erster Linie im Untergrund abspielt; nämlich in den Glamour-Gourmet-Untergeschossen großstädtischer Kaufhäuser. Dort lässt sich sehen und kosten, dass die japanischen Baumkuchenbäcker mit dem deutschen Gebäck längst getan haben, was japanische Innovatoren gerne mit Importen tun: nicht einfach nur so gut imitieren, dass es so gut wie gar nicht mehr vom Original zu unterscheiden ist, sondern derart weiterentwickeln, dass das Original kaum noch zu erkennen ist. So sei dem japanischen Baumkuchen-Enthusiasten angeraten, vor dem Deutschlandbesuch die Erwartungen etwas herunterzuschrauben. Hat man hier nur die Wahl zwischen Baumkuchen mit Baumkuchengeschmack als ganzer Stumpf, als in Scheiben geschnittener Stumpf oder als in mundgerechte Happen gehackter Stumpf, so gibt es neben der größeren Formenvielfalt im Fernen Osten auch eine größere Geschmacksvielfalt, zum Beispiel Baumkuchen mit Tomaten- oder Spinatgeschmack. Und selbstverständlich ist das alles übersichtlicher portioniert. Eine einzelne deutsche Baumkuchenportion könnte schließlich einer ganzen japanischen Familie als Tagesproviant dienen.Wie mir einmal Steve Strange kein Autogramm gab und ich mit Nazi-Jürgen zu entarteter Musik tanzte
Zu den großen Enttäuschungen meiner Kindheit gehört, dass Steve Strange, der Sänger der Band Visage, keine Notiz von mir nahm. Umgekehrt sah das ganz anders aus. Einmal hatte ich genug Geld gespart, um einen selbstadressierten, ausreichend frankierten Briefumschlag an die deutsche Vertretung der Plattenfirma von Visage zu schicken, mit der Bitte um ein Autogramm, die Adresse hatte ich aus der Jugendillustrierten Bravo. Wochen, die sich wie Monate anfühlten, später kam tatsächlich Post, tatsächlich mit einer Autogrammkarte von Steve Strange. Sozusagen. Ich mag heute nicht das cleverste Bürschchen sein und war es damals erst recht nicht, doch schon damals durchschaute ich, dass es sich um lieblosen Schmu handelte. Die Unterschrift war in einem vollkommen unnatürlichen Blau auf das Bild gedruckt, ebenso wenig handgeschrieben wie das Bild handgemalt war. Es handelte sich noch nicht mal um ein anständiges Fotos, sondern um eine Reproduktion des Covermotivs der Single Fade to Grey, des größten Hits der Band (nicht des einzigen, fühle ich mich noch heute genötigt zu ergänzen, um die Gruppe vor Spöttern zu verteidigen).
Die verschuldeten Idole von Galapagos [Kaiho-Kolumne]
In der aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Eine Geschichte zweier Kuchen zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung.
*** Erfinden Japaner etwas, was in Japan ganz wunderbar gedeiht, aber im Rest der Welt keinerlei Überlebenschancen hat, spricht man vom Galapagos-Syndrom, in Anlehnung an die gleichnamige Inselgruppe mit ihrem weltweit einzigartigen Tierleben und Pflanzenvorkommen. Meistens sind damit international nicht kompatible und schwer adaptierbare Technologien gemeint. Es fällt allerdings nicht schwer, den Begriff auf kulturelle und wirtschaftliche Eigenheiten Japans auszuweiten. Zum Beispiel auf den Musikmarkt. Man stelle es sich einmal vor: Japaner kaufen CDs. Deutsche übrigens auch, rund 70 Prozent der bezahlten Musik hierzulande wird weiterhin auf Polycarbonat ausgeliefert. In Japan sind die häufig totgesagten Datenträger jedoch noch beliebter: sie machen 85 Prozent des Musikmarktes aus – mit steigender Tendenz, denn der Downloadmarkt ist mittlerweile rückläufig. Ein krasser Gegensatz etwa zu den USA oder Schweden, in denen Compact Discs nur mehr 40 beziehungsweise 20 Prozent der Verkäufe ausmachen. Japans Alleinstellung hat zwei Gründe: Sammelleidenschaft und AKB48. Egal, ob das dritte Best-of-Album einer vor zwei Monaten gegründeten Boyband oder die hundertste Neuveröffentlichung von Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band: alles wird schön verpackt, in Übergröße, mit Glitzerschmuck, Bilderbuch und Bonus-DVD, nicht selten bekommt man beim Kauf an der Kasse noch ein Poster in die Tüte und beim Verlassen des Warenhauses einen Button in die Hand gedrückt. Es gibt fast mehr anzuschauen als anzuhören. Das Prinzip solcher Sonderausgaben ist zwar in Deutschland nicht unbekannt, hier wirken sie jedoch häufig so liebevoll gestaltet, als hätte sie sich ein berufsmüder Vermarkter noch schnell zwei Minuten vor dem Wochenende ausgedacht. In Japan wirken sie so, als hätte eine Gruppe von Enthusiasten genau das Produkt entworfen, das sie selbst kaufen würden. Es funktioniert, ich spüre es am eigenen Leib (in erster Linie durch den leichter zu tragenden Geldbeutel). Schnürt unsere japanische Verwandt- und Bekanntschaft Carepakete, lässt meine Frau sich mit Vorliebe Lebensmittel einpacken. Ich mir CDs. Japans erfolgreichste Mädchenformation AKB48, nach letzter Zählung mit 79 Köpfen weit über das im Namen festgelegte 48er-Limit hinausgeschossen, legt auf den allgemeinen Verpackungswahn noch einen drauf. Ihre CDs beinhalten nicht nur die üblichen Sammlerstücke zum Anschauen, Anheften und Aufkleben, sondern auch Tickets für Auftritte und Stimmzettel zur Wahl des beliebtesten AKB-Mädchens, die zweimal jährlich in der altehrwürdigen Kampfsportarena Nippon Budokan ausgetragen und vom Fernsehen übertragen wird. Je mehr Einfluss man auf die Wahl nehmen möchte, desto mehr Stimmzettel sind vonnöten. Nicht wenige kaufen für diesen Zweck gerne mehr CDs, als für den reinen Musikgenuss genügen würden. Fraglich, ob sich dieses Konzept international adaptieren ließe und Fans dieselbe CD mehrfach kauften, um sicherzugehen, dass ihr Favorit die Wahl zum süßesten Boy von Sportfreunde Stiller gewinnt.Das war mein Jahr auf Facebook – danke, dass du ein Teil davon warst, Bruce Lee
Im letzten Jahr gab es einschneidende Veränderungen in meinem Leben, zum Beispiel bin ich Facebook beigetreten. Vorher hatte ich meine Verweigerung zu einer Lebenseinstellung hochgejubelt, möglicherweise war sogar einmal die Rede davon, man dürfe mir jederzeit die Kehle durchschneiden, wenn ich doch bei diesem Quatsch erwischt werden sollte. Das nehme ich hiermit zurück: bitte nicht mehr die Kehle durchschneiden. Ich bin Facebook beigetreten, weil ich gehört hatte, dass man damit explosionsartig mehr Bücher verkaufen kann. Das hat sich nicht bestätigt, dafür weiß ich jetzt viel mehr über die Trinkgewohnheiten und das Intimleben meiner Kindheitsfreunde und Arbeitskollegen. Es hat sich also trotzdem gelohnt. An meinen hauptsächlichen Facebook-Erkenntnissen möchte ich Sie an dieser Stelle teilhaben lassen.
Ich weiß nicht, wofür „Gruppen“ da sind Ich freue mich zwar, dass mir die anderen Mitglieder des Bruce-Lee-Fanclubs jeden Morgen ein paar Hundert Fotos von Bruce Lee auf die Startseite klatschen, zum Beispiel solche:Begnadigt: Helene Fischer, Ernst Stavro Blofeld und die Nusswut-Frau
Kurz vor Weihnachten begnadige ich drei von der Öffentlichkeit Verurteilte, die jetzt lange genug gelitten haben.
Luther, Twin Peaks, hallo Jar Jar Binks (oder: ah, la nostalgie, cette petite mort)
[Sicherheitshinweis: Wie jeder aussagekräftige Sekundärtext geht auch dieser auf den Inhalt seines Primärtextes ein. Oder, im Mimimi-Memmen-Duktus: Spoiler-Warnung.]
Keine Fernsehnachricht hat mich in diesem Jahr so begeistert wie die Ankündigung der vorletzten Woche, es solle zwei neue Folgen Luther geben. Zwei richtige neue Folgen, Folgen aus der Zukunft, keine sinnlose Prequälerei, wie es wohl mal angedacht war. Womit ich nicht sagen möchte, dass alle Prequels sinnlos wären. Allenfalls die allermeisten. Ausnahmen gibt es bestimmt. Wir machen weiter nach einer kurzen Werbeeinblendung.Nudeltechno in der Stadt, die ziemlich früh zu Bett geht [Kaiho-Kolumne]
Hatte ich ganz vergessen zu erzählen: Weil es eines Abends beim Stammtisch der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern so gemütlich war, habe ich mich breitschlagen lassen, fortan eine Kolumne für das Vereinsblatt Kaiho zu schreiben. Und irgendwann werde ich auch Mitglied, versprochen.
An dieser Stelle werde ich die Kolumnen mit Zeitverzögerung zweitverwerten. Immer dann, wenn es im Heft eine neue zu lesen gibt, darf alle Welt hier einen Blick auf die alte werfen. Im aktuellen Kaiho lesen geneigte Mitglieder dieser Tage die neuesten Folge Die verschuldeten Idole von Galapagos. *** Vor ein paar Jahren verbrachte ich einige Nächte in einem Hotel in Ikebukuro. In einer dieser Nächte bezeugte ich, wie eine verhältnismäßig junge Dame mit karibischem Teint, einem roten Glitzerkleid und einem passenden Hut mit beeindruckender Krempe an die Rezeption trat. Sie wirkte ein bisschen, als sei sie gerade frisch aus dem New Yorker Studio 54 herausgetreten, und sie fragte die Rezeptionistin, wo man hier nach der besten Clubbing-Gelegenheit suchen müsse. Die Rezeptionistin geriet daraufhin gehörig ins Schwimmen. Das mochte ganz unterschiedliche Gründe gehabt haben. Vielleicht war gerade Clubbing gerade ihr Kompetenzgebiet nicht. Vielleicht nahm sie das „hier“ zu lokal, schließlich ist der Glanz von Ikebukuro als Ausgeh-Ort schon fast so lange verblasst wie der des Studio 54 (das stört freilich nicht, wenn man den ganz besonderen Schimmer verblassten Glanzes zu schätzen weiß). Vielleicht hatte sie bei ihrem Hadern aber auch nur die Gesetzeslage im Sinn. Dann hätte ihre Antwort mit einem Blick auf die Uhr lauten müssen: „Ach, das lohnt jetzt sowieso nicht mehr. Gehen Sie lieber morgen gleich nach dem Abendessen los.“ Das Motto der Stadt, die niemals schläft, entlehnen Anhänger diverser Großstädte überall auf der Welt regelmäßig vom rechtmäßigen Besitzer (New York) und veredeln damit ihre eigenen Lieblingsstädte. Ich habe nicht selten gehört, wie das unüberlegt sogar über die japanische Hauptstadt gesagt wurde: Tokio – die Stadt, die niemals schläft. Dabei wäre ein viel passenderer Slogan: Tokio – die Stadt, die ziemlich früh zu Bett geht. Oder falls es unbedingt schlaflos klingen muss: Tokio – die Stadt, die früh aufsteht und keinen Mittagsschlaf braucht. Wenn allerdings in anderen Weltstädten das Nachtleben vornehm spät beginnt, müssen Tokios Nachtfalter schon wieder die Flatter machen. Denn Aufgrund eines Gesetzes, das im Nachkriegsjapan der Prostitution Einhalt gebieten sollte, darf in japanischen Clubs ohne Sondergenehmigung nur bis Mitternacht getanzt werden. Also eine Zeit, zu der westliche Clubber erst so langsam anfangen, sich die Schuhe zu schnüren. Inzwischen glaubt kaum mehr jemand, dass Tanzen die Einstiegshandlung zur Prostitution ist, doch das Gesetz blieb bestehen. Vermutlich, weil es einfach vergessen wurde. Jahrzehntelang hatte sich niemanden daran gestört – in den Clubs wurden die Nächte durchgetanzt, die Justiz hatte Wichtigeres zu tun. Seit einigen Jahren aber hat man wieder ein strengeres Auge auf das veraltete Spättanzverbot. Um Ruhestörung zu unterbinden, sagt die Polizei. Weil anständige Clubs leichter zu maßregeln sind als unanständige Rotlichtbetriebe, mutmaßen Polizei-Skeptiker. Es ist durchaus keine Unmöglichkeit, eine Sondergenehmigung zu bekommen. Doch das wollen die meisten Club-Betreiber nicht, denn damit würden sie automatisch den fuzoku eigyo zugerechnet, einem dehnbaren Sammelbegriff für irgendwie anrüchige Erwachsenenunterhaltung. Es wäre wie ein Eingeständnis, dass das Gesetz doch irgendwo recht hat. Immerhin, inzwischen bröckelt die Rechtslage. Eine baldige Reform ist sehr wahrscheinlich, schon jetzt gibt es kreative Wege der Umgehung. Seit 2013 werden Techno-Udon-Partys immer beliebter. Dabei wird gemeinschaftlich der Teig für Udon-Nudeln geknetet, mit Füßen, auf einer Tanzfläche, zu Techno-Beats. Das darf bis spät in die Nacht gehen, denn gegen nächtliche Speisezubereitung gibt es kein Gesetz. Selbstverständlich werden die Nudeln am Ende der Veranstaltung sofort zubereitet und verspeist. Tanzen beziehungsweise Kneten macht halt hungrig. Trotz juristischem Entgegenkommen und kreativen Umwegen wird Japan in Sachen Club-Kultur wohl noch einige Zeit Entwicklungsland bleiben. Kurios, wenn man bedenkt, wie meilenweit Japan in anderen Aspekten der Popkultur und des modernen Lebens die Nase vorn hat. Selbst wenn nachts getanzt werden dürfte – wie sollte man hin- und wieder wegkommen? Die öffentlichen Verkehrsmittel machen selbst in Millionenstädten zu Mitternacht Schicht im Schacht, mit Nachtbussen wird nur zögerlich experimentiert (und das gegen den lautstarken Widerstand der Taxiunternehmer). Dabei ist das Tanzen in der Stadt noch immer sehr viel leichter und freier als das Tanzen am Strand. In den Strand-Clubs der Shonan-Region darf Musik seit kurzem nur aus offiziell von regionalen Ämtern verteilten und voreingestellten Lautsprechern kommen. Und auch das nur, wenn es sich nicht um ‚Club-Musik‘ handelt. *** Aktueller Nachtrag: Nach (aber vermutlich nicht wegen) des Erscheinens dieser Kolumne wurden die Gesetze gelockert. Inzwischen darf länger getanzt werden, wenn es im Tanzschuppen heller als in einem Kino ist.