Purple Rain mit Papa

Zwei Aspekte haben mich an vielen Nachrufen auf David Bowie sehr gestört. In nicht wenigen war die Behauptung zu lesen, mit ihm sei nun wirklich der Letzte der „ganz Großen“ gestorben. Gemeint war wohl der Letzte der ganz großen Rock- und Popstars, und damit gemeint war wohl der Letzte der ganz großen männlichen und weißen Rock- und Popstars. Ansonsten wären mir ganz spontan noch Prince und Madonna eingefallen, und weniger spontan wahrscheinlich noch weitere.

Nun bin ich inzwischen konservativ genug, um gelegentlich mit den Augen zu rollen, wenn reflexartig jeder Zeitungsmeldung Sexismus, Rassismus, Ageismus, Ableismus oder Shapismus angedichtet wird, so sie es auf 10 Zeilen nicht schafft, jeden Standpunkt der Welt zu berücksichtigen und jeden Menschen der Welt persönlich anzusprechen. (Sollte ich einen -ismus übersehen haben, entschuldige ich mich in aller Form, das hätte niemals passieren dürfen.) In diesem Fall fand ich die Ignoranz weiter Teile der Musik- und Tagespresse allerdings durchaus zum Ohrenschlackern, unter Umständen sogar zum Aufschreien. Nicht nur sexistisch und rassistisch, sondern auch noch stinkefaul und inkompetent, denn selbstverständlich haben auch etliche große weiße Männer Bowie überlebt. Irgendwo in einem Kornfeld steht Neil Young und sagt mit leisem, hellem Stimmchen: „Hallo?“ (Er meint natürlich: „Hallo? Und was ist mit Bob? Und Leonard? Und Bruce? Und so weiter?“)

Der zweite Aspekt, der mich an vielen Nachrufen störte, war die respektlose Verfehlung des Themas. Vermutlich denkt man als ewigjugendlich-rebellischer Musikjournalist: „Ach, sich nur von Station zu Station in Werk und Leben des Verstorbenen zu hangeln ist langweilig und boring. Ich erzähle lieber von mir, mir, mir, und wie viel mir, mir, mir dieser … äh … Dingsbums bedeutet hat.“ Das gehört sich nicht. So viel Respekt sollte man vor Verstorbenen schon haben, dass man sich selbst für einen kurzen Augenblick zurücknimmt und vom Verstorbenen erzählt, und nicht von den Postern im eigenen Jugendzimmer.

Gleichwohl werde ich es jetzt genau so machen, wenn ich einen vom Prince erzähle. Allerdings tue ich es in meinem eigenen kleinen, unbedeutenden Blog, und nicht im Hauptteil einer überregionalen Tageszeitung. Selig ist der, der den Unterschied kennt.

Zum ersten Mal nahm ich mit dem Lied, vielleicht in erster Linie mit dem Video, 1999 Notiz von Prince. Das Lied gefiel mir sehr gut, die Keyboarderinnen gefielen mir viel besser. Wie sie angezogen waren, wie sie sich bewegten, und wie sie guckten. Wie sie Keyboard spielten, konnte ich nicht beurteilen.

Das erste Prince-Album, das ich mir kaufte, war selbstverständlich Purple Rain. Den Film zum Album sah ich zusammen mit meinem Vater im Kino, was keine gute Idee war. Wir waren früher öfter zusammen ins Kino gegangen, Walt Disney und Bud Spencer, doch mit der Pubertät (meiner) schlief dieser Brauch erwartungsgemäß ein. Purple Rain war der unglückliche Versuch, daran etwas zu ändern. Sicherlich gibt es 80er-Jahre-Filme, die noch ungeeigneter sind, sie als unsicherer Teenager zusammen mit dem Vater anzuschauen. 9 ½ Wochen fällt mir spontan ein. Ansonsten allerdings nichts. Wir sind dann erst wieder zusammen ins Kino gegangen, als ich über 30 war (Herr der Ringe). Über Purple Rain haben wir nie richtig gesprochen. Erwischten wir gemeinsam Prince hin und wieder im Fernsehen, brummte mein Vater nur: „Den gibt’s immer noch?“

Mein liebstes Prince-Album war und ist Around the World in a Day. Weil ich mir mit ‘Condition of the Heart’ jeden jugendlichen Liebeskummer noch tiefer reinreiben konnte. Weil ‚Raspberry Beret‘ zu jeder Jahreszeit so frühlingshaft ist. Weil das Titelstück und ‚Paisley Park‘ so schön hippiemäßig sind, ohne ekelhaft hippiemäßig zu sein. Weil ich mir vorstellen konnte, das Geschlechtsverkehr irgendwie so wie ‚Temptation‘ sein muss. Und das Leben wie ‚Pop Life‘ und ‚The Ladder‘. Und Amerika wie ‚America‘. Nur zu ‚Tamborine‘ ist mir nichts eingefallen. Aber einen Aussetzer hat ja jede Platte.

Zu dieser Zeit fragte mich ein Schulkamerad: „Hörst du eigentlich jeden Tag Musik von Prince?“

Ich sagte: „Ja klar hör ich jeden Tag Musik von Prince!“

Die Antwort war reiner Reflex gewesen. Ich rechnete schnell nach, und stellte fest: Puh, es kommt hin, ich höre wirklich jeden Tag Musik von Prince.

Bis ich das nicht mehr tat. Graffiti Bridge von 1990 war das letzte Album meiner lückenlosen Prince-Phase. Ich verlor vorübergehend das Interesse, weil seine Musik wieder schwärzer wurde, und ich nicht. Wie viele rockorientierten weißen Männer wurde auch ich dann erst im fortgeschrittenen Erwachsenenalter etwas funkier. Tatsächlich brach in den letzten Monaten so etwas wie meine zweite Prince-Phase an. Wegen Überseeumzug beschloss ich, meine Vinyl-Sentimentalität abzuwerfen und stattdessen eine CD-Sentimentalität zu kultivieren. Ich kaufte mir die Prince-Alben, die ich schon hatte, noch mal in kleiner und holte bei der Gelegenheit gleich einige der Alben nach, die ich ihrerzeit nicht mehr gekauft hatte. Die Genialität von Prince offenbart sich, genau wie die von Woody Allen, ja gerade in den schwächeren Werken. Die sind immer noch stärker als die starken Werke der meisten Mitbewerber. Überhaupt haben Prince und Woody Allen vieles gemeinsam. Neben dem geballten Sexappeal ist das vor allem das bewundernswerte Arbeitsethos. Ich glaube nicht, dass Prince wirklich ein Perfektionist war, wie ihm oft so gemein nachgesagt wird. Perfektionisten sind langweilige Erbsenzähler und Erbsenpoliere, die nie etwas gebacken bekommen, weil Perfektion eben unerreichbar ist, und wenn man das merkt, lässt man vor Schreck alle Erbsen fallen und fängt mit Zählen und Polieren wieder von vorne an. Prince derweil hat einiges gebacken bekommen, und langweilig war er ganz bestimmt nicht.

In die Nachbemerkungen zu meinem gottlob noch nicht gedruckten Roman Shinigami Games hatte ich zuletzt diese leichtfertigen Worte geschrieben:

Irgendwann zwischen dem Ende von ‚Yoyogi Park‘ und dem Anfang von ‚Roppongi Ripper‘ hatte ich aufgehört, beim Schreiben Musik zu hören. Zuerst aus Vergesslichkeit, dann aus Prinzip. Am Ende von ‚Shinigami Games‘ habe ich wieder zaghaft damit angefangen, so schnell kann das gehen. Fast ausschließlich Prince und David Bowie. Ich hoffe, das ist kein böses Omen für Prince.

Ich glaube, es war kein böses Omen. So wichtig nehme ich mein Hörverhalten in so hoher Gesellschaft nicht. Deshalb möchte jetzt enden, muss aber eines noch loswerden: „Ja, Papa, den gibt’s immer noch.“

Wie mir einmal Steve Strange kein Autogramm gab und ich mit Nazi-Jürgen zu entarteter Musik tanzte

Zu den großen Enttäuschungen meiner Kindheit gehört, dass Steve Strange, der Sänger der Band Visage, keine Notiz von mir nahm. Umgekehrt sah das ganz anders aus. Einmal hatte ich genug Geld gespart, um einen selbstadressierten, ausreichend frankierten Briefumschlag an die deutsche Vertretung der Plattenfirma von Visage zu schicken, mit der Bitte um ein Autogramm, die Adresse hatte ich aus der Jugendillustrierten Bravo. Wochen, die sich wie Monate anfühlten, später kam tatsächlich Post, tatsächlich mit einer Autogrammkarte von Steve Strange. Sozusagen. Ich mag heute nicht das cleverste Bürschchen sein und war es damals erst recht nicht, doch schon damals durchschaute ich, dass es sich um lieblosen Schmu handelte. Die Unterschrift war in einem vollkommen unnatürlichen Blau auf das Bild gedruckt, ebenso wenig handgeschrieben wie das Bild handgemalt war. Es handelte sich noch nicht mal um ein anständiges Fotos, sondern um eine Reproduktion des Covermotivs der Single Fade to Grey, des größten Hits der Band (nicht des einzigen, fühle ich mich noch heute genötigt zu ergänzen, um die Gruppe vor Spöttern zu verteidigen).

In derselben Lebensphase hatte ich auf gleichem Wege eine Autogrammkarte der Rockabilly-Showband Stray Cats angefordert, die zwar eine andere Musik als Visage spielte, aber nur unwesentlich weniger Make-up auftrug. Dieser Antrag wurde zu meiner vollsten Zufriedenheit bearbeitet. Ich bekam ein ehrliches Arbeiterklassefoto der drei Musiker mit Motorrad und glamourös-verdreckter Straßenkulisse, auf dem offensichtlich jemand handschriftlich unterschrieben hatte. Ob es wirklich Brian Setzer, Lee Rocker und Slim Jim Phantom gewesen waren, die sich für mich Zeit genommen hatten, oder nur ihre Sekretärin, wie meine zynischen Eltern mutmaßten, ist natürlich schwierig nachzuweisen.

Ich frage mich, was die Sekretärin der Stray Cats heute macht. Ich weiß immerhin, wie ich sie mir vorstelle, zu ihrer aktiven Zeit. Sie trägt Petticoat und Pferdeschwanz, und wenn sie ihre Hornbrille abnimmt, ist sie plötzlich unglaublich sexy. Allerdings, was sie gar nicht weiß: mit der Brille ist sie noch viel sexier.

Als die Jahre ins Land gingen und die Stray-Cats-Unterschriften immer mehr verblassten, zog ich sie mit dem Kugelschreiber eigenhändig nach. Und das ist der Grund, aus dem ich die Episode überhaupt erwähne: ich bin wahrscheinlich nicht der kompetenteste und seriöseste Autogrammsammler, also habe ich es über kurz oder lang auch verkraftet, dass ich von Steve Strange nur eine offizielle Fälschung erhalten habe. Außerdem war Steve Strange Betreiber der elitären Londoner New-Romantic-Disco Blitz, in die nicht jeder reingelassen wurde. Da finde ich es heute sogar besonders goldig, dass so einer nicht jedem Bauerntrottel ein echtes Autogramm gibt.

In den Blitz-Club bin ich nie reingekommen, in den Partykeller des Schullandheims Willingen im Sauerland hingegen schon. Während eines schulischen Zwangsaufenthalts, aufgekratzt von Wandertouren und zu viel Coca-Cola, führte ich dort mit meinem Schulfreund Nazi-Jürgen einen selbstkreierten Ausdruckstanz zu meiner Visage-Kassette auf. Er bestand aus ausschweifenden Arm- und Beinbewegungen und simulierten Zeitlupen. Nazi-Jürgen hatte damals noch nicht diesen Beinamen, und Jürgen hieß er schon gar nicht. Er unterschied sich von anderen Kindern dadurch, dass er große Teile seiner Freizeit in einem Auffanglager der seinerzeit noch nicht verbotenen Wiking-Jugend verbringen musste. Wir wussten damals ja von nichts, deswegen hatten wir anderen Kinder zu seiner seltsamen Freizeitgestaltung kein angespannteres Verhältnis als zu der Freizeitgestaltung der ein oder zwei Exoten, die aktive Pfadfinder-Fähnlein waren: klang langweilig, hat uns nicht weiter interessiert.

Was Nazi-Jürgen und mich neben der Freizeitgestaltung unterschied, war, dass Nazi-Jürgen viel beliebter bei den anderen Kindern war als ich. Typisch Deutschland. So wurde mir nach dem Tanz zugeraunt, Nazi-Jürgen wäre irgendwie cool gewesen, aber ich hätte mich „voll lächerlich“ gemacht. Dabei hatte ich den Tanz erfunden und Nazi-Jürgen hatte sich nur drangehängt, quasi Mitläufer, beziehungsweise Mittänzer!

Meinen Geist konnte das nicht brechen, zumindest nicht ganz, er ist hart wie Kruppstahl. Noch heute, wenn keiner außer meiner Tochter guckt, lege ich manchmal eine meiner Visage-Platten auf (ich habe selbstverständlich alle, auch die neuen) und tanze meinen Visage-Ausdruckstanz, nur für sie. In meinen eigenen vier Wänden kann mir kein Nazi-Jürgen die Show stehlen. Und wenn ich die hysterische Freude im Gesicht meiner Tochter sehe, dann weiß ich: das ist das Alleraufregendste, was sie seit ungefähr einer halben Stunde gesehen hat. Vielleicht werde ich ihr irgendwann die Bewegungen beibringen, wenn sie auf eigenen Beinen stehen kann. Wie ein weiser Wing-Chun-Lehrer und sein unbeherrschter Schüler voll rohem Potenzial, als zwei Silhouetten auf einer Tempelmauer vor Sonnenuntergang. Und dann wird sie selbst eines Tages für ihre Kinder den Visage-Ausdruckstanz ihres Vaters tanzen. Und so wird der Geist von Steve Strange über Generationen in dem Geist unserer Familie weiterleben.

Ich möchte dahingehend aber nicht jetzt schon Erwartungsdruck aufbauen.

Steve Strange starb am vergangenen Donnerstag in Ägypten.

Andreas Neuenkirchen tanzt inzwischen am liebsten zu Night Train.

Nazi-Jürgen lebt heute unter seinem Mädchennamen in Berlin und ist laut Wikipedia „ein deutscher politischer Autor, der der Neuen Rechten zugeordnet wird“. Laut seiner eigenen Homepage stimmt das aber nicht und Wikipedia ist ganz, ganz doof.

Die verschuldeten Idole von Galapagos [Kaiho-Kolumne]

In der aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Eine Geschichte zweier Kuchen zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung.

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Erfinden Japaner etwas, was in Japan ganz wunderbar gedeiht, aber im Rest der Welt keinerlei Überlebenschancen hat, spricht man vom Galapagos-Syndrom, in Anlehnung an die gleichnamige Inselgruppe mit ihrem weltweit einzigartigen Tierleben und Pflanzenvorkommen. Meistens sind damit international nicht kompatible und schwer adaptierbare Technologien gemeint. Es fällt allerdings nicht schwer, den Begriff auf kulturelle und wirtschaftliche Eigenheiten Japans auszuweiten. Zum Beispiel auf den Musikmarkt. Man stelle es sich einmal vor: Japaner kaufen CDs. Deutsche übrigens auch, rund 70 Prozent der bezahlten Musik hierzulande wird weiterhin auf Polycarbonat ausgeliefert. In Japan sind die häufig totgesagten Datenträger jedoch noch beliebter: sie machen 85 Prozent des Musikmarktes aus – mit steigender Tendenz, denn der Downloadmarkt ist mittlerweile rückläufig. Ein krasser Gegensatz etwa zu den USA oder Schweden, in denen Compact Discs nur mehr 40 beziehungsweise 20 Prozent der Verkäufe ausmachen.

Japans Alleinstellung hat zwei Gründe: Sammelleidenschaft und AKB48. Egal, ob das dritte Best-of-Album einer vor zwei Monaten gegründeten Boyband oder die hundertste Neuveröffentlichung von Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band: alles wird schön verpackt, in Übergröße, mit Glitzerschmuck, Bilderbuch und Bonus-DVD, nicht selten bekommt man beim Kauf an der Kasse noch ein Poster in die Tüte und beim Verlassen des Warenhauses einen Button in die Hand gedrückt. Es gibt fast mehr anzuschauen als anzuhören. Das Prinzip solcher Sonderausgaben ist zwar in Deutschland nicht unbekannt, hier wirken sie jedoch häufig so liebevoll gestaltet, als hätte sie sich ein berufsmüder Vermarkter noch schnell zwei Minuten vor dem Wochenende ausgedacht. In Japan wirken sie so, als hätte eine Gruppe von Enthusiasten genau das Produkt entworfen, das sie selbst kaufen würden. Es funktioniert, ich spüre es am eigenen Leib (in erster Linie durch den leichter zu tragenden Geldbeutel). Schnürt unsere japanische Verwandt- und Bekanntschaft Carepakete, lässt meine Frau sich mit Vorliebe Lebensmittel einpacken. Ich mir CDs.

Japans erfolgreichste Mädchenformation AKB48, nach letzter Zählung mit 79 Köpfen weit über das im Namen festgelegte 48er-Limit hinausgeschossen, legt auf den allgemeinen Verpackungswahn noch einen drauf. Ihre CDs beinhalten nicht nur die üblichen Sammlerstücke zum Anschauen, Anheften und Aufkleben, sondern auch Tickets für Auftritte und Stimmzettel zur Wahl des beliebtesten AKB-Mädchens, die zweimal jährlich in der altehrwürdigen Kampfsportarena Nippon Budokan ausgetragen und vom Fernsehen übertragen wird. Je mehr Einfluss man auf die Wahl nehmen möchte, desto mehr Stimmzettel sind vonnöten. Nicht wenige kaufen für diesen Zweck gerne mehr CDs, als für den reinen Musikgenuss genügen würden. Fraglich, ob sich dieses Konzept international adaptieren ließe und Fans dieselbe CD mehrfach kauften, um sicherzugehen, dass ihr Favorit die Wahl zum süßesten Boy von Sportfreunde Stiller gewinnt.

Die sogenannten Idole (japanisiert idoru) sollen Popstars zum Anfassen sein. AKB48 nehmen das mitunter ganz wörtlich. Nicht unbedingt im unsittlichen Sinne, aber inzwischen doch unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen. Regelmäßig ließen sie ihre Fans für Händeschüttel-Sessions anstehen, bis im Mai ein Teilnehmer die Säge zückte und zwei Mitglieder verletzte. Danach wurde das öffentliche Händeschütteln ausgesetzt. Inzwischen findet es wieder statt, mit einem Sicherheitsbeamten pro Mädchen, Sicherheitsabstand und Sicherheitsbarriere zwischen den Schüttelnden. Man könnte raunen, hier offenbare sich die Schattenseite des Idol-Kults. Dabei offenbart sich nur die Schattenseite der Menschheit. Jemand, der den Drang verspürt, andere mit einer Säge anzugreifen, braucht sicherlich nicht eine händeschüttelnde Sing- und Tanztruppe als Auslöser.

Mit ihrem eigenwilligen Gesamtkonzept, bei dem es mehr um Pop als um Pop-Musik geht, ebnen AKB48 den Weg für andere, noch eigenwilligere Gruppen des Idol-Genres, denen wohl ebenfalls das größere internationale Publikum (und Verständnis) vorenthalten bleiben wird. Im September stellten sich die Margarines der Öffentlichkeit vor, deren Alleinstellungsmerkmal ist, dass für sie die fetten Jahre vorbei sind. Jedes der neun Mitglieder ist hoch verschuldet. Insgesamt beläuft sich das Minus auf 127 Millionen Yen, teils aus Studentendarlehen, teils einem kostspieligen Lebenswandel verdankt. Im Internet kann der Fan mitverfolgen, wie viel davon durch die Pop-Arbeit schon getilgt wurde. Für den Dezember ist ein Album angekündigt. Wie tröstlich, dass man in Japan mit Musik noch Geld verdienen kann. Selbst wenn es dabei nur am Rande um Musik geht.

Begnadigt: Helene Fischer, Ernst Stavro Blofeld und die Nusswut-Frau

Kurz vor Weihnachten begnadige ich drei von der Öffentlichkeit Verurteilte, die jetzt lange genug gelitten haben.

1. Helene Fischer. Helene Fischer ist jemand, von dem ich so richtig erst Notiz genommen habe, seit ich ein bisschen bei den sozialen Medien, also Facebook, mitmache. Das tue ich seit nicht mal einem Jahr. Mir war der Name natürlich schon vorher hier und da mal untergekommen, aber ich hätte nicht mit absoluter Sicherheit sagen können, ob es sich bei Helene Fischer um eine Fußballspielerin, eine Familienministerin oder eine Fernsehansagerin handelt. Dass ich inzwischen so viel über Helene Fischer weiß, liegt daran, dass in den sozialen Medien, also Facebook, so viel über Helene Fischer geschrieben wird. Und zwar, so scheint es, ausschließlich von Menschen, die Helene Fischer nicht leiden können. Neulich ging sogar die Aufforderung um, man solle sofort alle Freunde entfreunden, die Pegida und/oder Helene Fischer „geliket“ haben. Die einen sind Nazis, da ist Entfreundung eine Selbstverständlichkeit. Aber die andere ist doch bloß eine Schlagersängerin, wenn ich das richtig verstehe. Schlager mag ich nicht. Reggae mag ich auch nicht. Trotzdem käme ich nie darauf, jeden zu entfreunden, der Jimmy Cliff „geliket“ hat.

Jetzt höre ich schon das Gegenargument: „Jahaha – aber wenn du Helene Fischer begnadigst, kannst du auch gleich Unheilig begnadigen! Das ist doch genau der Toleranzwahn, den die-da-oben und ihre Systempresse uns verordnen wollen!“ Ich sage: No, no, no, my darling, ich lasse mir nicht mit der Neoliberalismuskeule kommen. Es verläuft ein gar nicht so feiner Grat zwischen der aufrichtigen Schlagersängerin Helene Fischer und dem unaufrichtigen Schlagersänger Unheilig (ich gehe grammatisch mal davon aus, dass das in Festbesetzung inzwischen nur noch dieser eine Typ ist). Nicht, weil Unheilig einmal in der Gothic-Szene angefangen und irgendwelche Subkulturen verraten und verkauft hätte. Schlager ist ja auch nicht gerade Hochkultur, und die Gothic- und Schlager-Subkultur hatten in ihren unpraktikablen Romantik-Vorstellungen schon immer viele Berührungspunkte. Unheilig ist nicht zu begnadigen, weil Unheilig so tut, als wäre Unheilig etwas Besseres, Poetischeres, Gediegeneres, Geschmackvolleres als gemeiner Schlager. Helene Fischer hingegen bekennt sich zu ihrem Genre. Es ist ein Genre, das man nicht schätzen muss. Die Konsequenz daraus ist, dass man sich nicht weiter damit beschäftigt. Dünkel oder gar Verachtung sind unangebracht. Die Lieblichkeit eines typischen Schlagers ist schließlich nicht mehr Pose als die Rotzigkeit eines typischen Punkrock-Songs, und musikalisch ist Helene Fischer sicher nicht anspruchsloser als GG Allin. Unterm Strich kommt bloß „Geschmackssache“ dabei heraus. Über Geschmack lässt sich zwar herrlich streiten, aber, ach, es ist so ermüdend.

Also: Helene Fischer, begnadigt. Genauso wie:

2. Ernst Stavro Blofeld. Ich lese gerade Ian Flemings James-Bond-Romane, einige erstmals, manche erneut. Das ist kein Vergnügen, ich bin mir gar nicht sicher, warum ich mir das antue. Seien wir ehrlich: Ohne die viel erfreulicheren Filme würde keiner von denen heute noch aufgelegt. Ich bin mir außerdem nicht sicher, ob ich alle schaffen werde, deshalb konzentriere ich mich zunächst auf das Hauptwerk, den Blofeld-Zyklus. Dass der gerade wieder dank der Gerüchte, Christoph Waltz könnte der nächste Film-Blofeld sein, verstärkt im öffentlichen Interesse steht, ist reiner Zufall, ich schwöre.

Man lebt nur zweimal ist der Roman, den James Bond größtenteils als Japaner verkleidet unter Japanern verbringt, selbstverständlich von authentischen Japanern unerkannt. Im viel erfreulicheren Film gibt es diesen unglücklichen Passus ebenfalls, er fällt dort allerdings gnädigerweise kürzer aus. Man lebt nur zweimal ist ebenfalls der Roman, bei dem ich mich dabei ertappte, wie ich Blofeld plötzlich zuzischte: „Töte ihn! Töte ihn! Lass ihn in deinem geheimen Todesgarten elendig verrecken!“

Ich gehöre normalerweise nicht zu den Literaturrezipienten, die sich aus Radaulust oder einer merkwürdigen Auffassung von Nonkonformismus auf die Seite der Bösen schlagen; da könnte ich ja gleich Nazi werden. Aber meine Fresse – was ist dieser literarische Ur-Bond für ein stumpfer, ungehobelter Vollpfosten. Ein weinerlicher Alkoholiker, ein Anti-Intellektueller, ein Anti-Gentleman, kurzum ein Unsympath. Er ist noch nicht mal der wohlfeile Genussmensch, für den ihn viele dank der erfreulich weißgewaschenen Filme halten. Tatsächlich macht er sich ausdrücklich nichts aus Feinschmeckerei. Dass er dennoch ab und an feinschmeckt, liegt einzig daran, dass der Geheimdienst Ihrer Majestät für seine Spesen aufkommt (so im Roman Im Geheimdienst Ihrer Majestät nachzulesen). James Bond ist nichts anderes als eine gehässige, kleine Beamtenseele. Ich bin überzeugt: Ian Flemings James Bond würde Pegida „liken“ (Helene Fischer weiß ich nicht).

Die Abneigung gegen diesen James Bond eint also Blofeld und mich. Er kann kein ganz schlechter Mensch sein. Seine Beziehung zu Frau Bunt ist außerdem um einiges anrührender und interessanter als Bonds langweilige Vielweiberei. Ich begnadige ihn hiermit und hoffe, dass das James-Bond-Universum noch zu meinen Lebzeiten in der rechtefreien Zone ankommt, damit ich endlich mein revisionistisches Blofeld-Epos angehen kann, möglicherweise in Versform.

(Kleine Randnotiz und Werbeunterbrechung: Mein liebster Bond-Romanautor ist übrigens Raymond Benson. [Was da gerade so gebumst hat, war ein Fleming-Purist, der mit verkrampfter Hand über der Herzgegend zu Boden gegangen ist.] Benson hat zwar nicht die literarische Bauernschläue, die bei Fleming bei aller Dumpfheit manchmal durchblitzt, dafür machen seine Romane von vorne bis hinten Spaß. Bei Spaßliteratur kein unwesentlicher Faktor. Noch mehr Spaß als seine Bond-Romane machen mir allerdings seine Romane um die Eigenkreation The Black Stiletto.)

3. Die Nusswut-Frau. Alle haben sich sehr aufgeregt oder sich sehr mokiert, je nach Tagesform, als sich neulich eine südkoreanische Fluglinienaufsichtsrätin im Vorfeld eines Fluges von New York nach Südkorea sehr darüber aufregte, dass ihr in der ersten Klasse Nüsse erstens in einem Plastiktütchen und zweitens ungefragt serviert worden waren, was einiges an personellem Heckmeck und eine Flugverspätung zur Folge hatte. Alle, nur ich nicht. Denn eines steht fest: sie hat ja recht. In der ersten Klasse sollte nichts in Plastiktüten serviert werden, und ungefragt sollte gar nichts in gar keiner Klasse serviert werden. Dass man sich darüber aufregt, wenn das nicht klappt, regt mich nicht auf. Mich regt auf, dass man sich darüber aufregt, dass sich darüber jemand aufregt. Ich bin kein Erster-Klasse-Passagier und werde in diesem Leben wohl keiner mehr (es sei denn, das mit dem Blofeld-Versepos klappt; aber dann werde ich wahrscheinlich gleich im Privatjet mein Kätzchen kraulen [das ist kein Euphemismus für etwas Unanständiges, sondern eine hochwertige cineastische Anspielung]). Dennoch bin ich immer gerne dazu bereit, für etwas mehr Klimbim etwas tiefer in die Tasche zu greifen. Dann erwarte ich allerdings auch, dass das Klimbim es emotional wert ist (materiell ist es das nie, doch ich bin ja kein Materialist). Wenn dann eine ungewollte Nuss in Plastik kommt, stimmt mich das missmutig. Ich habe schließlich kaum andere Sorgen.

Was einen Schatten auf diese schöne Geschichte von zivilem Ungehorsam wirft, ist die Zickigkeit, mit der die Nusswut-Frau mutmaßlich zu Werke gegangen ist (wir müssen uns, wie bei allen Weltnachrichten, auf Hörensagen verlassen; wir waren schließlich nicht dabei). Zickigkeit steht selbstverständlich auch in meinem Gesetzbuch unter „V“ wie „Verbrechen“. Eine Erste Klasse ist keine Einbahnstraße – sie fordert nicht nur Erste-Klasse-Flugpersonal, sondern auch Erste-Klasse-Fluggäste. Und erstklassig hat sich die Nusswut-Frau nun ganz und gar nicht aufgeführt (nach allem, was man so hört).

Aber genau das ist ja die Natur einer Begnadigung: Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Also: Nusswut-Frau begnadigt, wenn auch knapp.

Die Verspätung des Fluges wurde für dieses Urteil nicht berücksichtigt. Herrschaftshimmelszeiten, das waren 11 Minuten! Das mag für einen Regionalzug inakzeptabel sein. Bei Interkontinentalflügen wage ich zu bezweifeln, dass 11 Minuten ohne vorherige Nusswut überhaupt auffallen.

Nudeltechno in der Stadt, die ziemlich früh zu Bett geht [Kaiho-Kolumne]

Hatte ich ganz vergessen zu erzählen: Weil es eines Abends beim Stammtisch der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern so gemütlich war, habe ich mich breitschlagen lassen, fortan eine Kolumne für das Vereinsblatt Kaiho zu schreiben. Und irgendwann werde ich auch Mitglied, versprochen.

An dieser Stelle werde ich die Kolumnen mit Zeitverzögerung zweitverwerten. Immer dann, wenn es im Heft eine neue zu lesen gibt, darf alle Welt hier einen Blick auf die alte werfen. Im aktuellen Kaiho lesen geneigte Mitglieder dieser Tage die neuesten Folge Die verschuldeten Idole von Galapagos.

***

Vor ein paar Jahren verbrachte ich einige Nächte in einem Hotel in Ikebukuro. In einer dieser Nächte bezeugte ich, wie eine verhältnismäßig junge Dame mit karibischem Teint, einem roten Glitzerkleid und einem passenden Hut mit beeindruckender Krempe an die Rezeption trat. Sie wirkte ein bisschen, als sei sie gerade frisch aus dem New Yorker Studio 54 herausgetreten, und sie fragte die Rezeptionistin, wo man hier nach der besten Clubbing-Gelegenheit suchen müsse.

Die Rezeptionistin geriet daraufhin gehörig ins Schwimmen. Das mochte ganz unterschiedliche Gründe gehabt haben. Vielleicht war gerade Clubbing gerade ihr Kompetenzgebiet nicht. Vielleicht nahm sie das „hier“ zu lokal, schließlich ist der Glanz von Ikebukuro als Ausgeh-Ort schon fast so lange verblasst wie der des Studio 54 (das stört freilich nicht, wenn man den ganz besonderen Schimmer verblassten Glanzes zu schätzen weiß). Vielleicht hatte sie bei ihrem Hadern aber auch nur die Gesetzeslage im Sinn. Dann hätte ihre Antwort mit einem Blick auf die Uhr lauten müssen: „Ach, das lohnt jetzt sowieso nicht mehr. Gehen Sie lieber morgen gleich nach dem Abendessen los.“

Das Motto der Stadt, die niemals schläft, entlehnen Anhänger diverser Großstädte überall auf der Welt regelmäßig vom rechtmäßigen Besitzer (New York) und veredeln damit ihre eigenen Lieblingsstädte. Ich habe nicht selten gehört, wie das unüberlegt sogar über die japanische Hauptstadt gesagt wurde: Tokio – die Stadt, die niemals schläft. Dabei wäre ein viel passenderer Slogan: Tokio – die Stadt, die ziemlich früh zu Bett geht. Oder falls es unbedingt schlaflos klingen muss: Tokio – die Stadt, die früh aufsteht und keinen Mittagsschlaf braucht. Wenn allerdings in anderen Weltstädten das Nachtleben vornehm spät beginnt, müssen Tokios Nachtfalter schon wieder die Flatter machen. Denn Aufgrund eines Gesetzes, das im Nachkriegsjapan der Prostitution Einhalt gebieten sollte, darf in japanischen Clubs ohne Sondergenehmigung nur bis Mitternacht getanzt werden. Also eine Zeit, zu der westliche Clubber erst so langsam anfangen, sich die Schuhe zu schnüren.

Inzwischen glaubt kaum mehr jemand, dass Tanzen die Einstiegshandlung zur Prostitution ist, doch das Gesetz blieb bestehen. Vermutlich, weil es einfach vergessen wurde. Jahrzehntelang hatte sich niemanden daran gestört – in den Clubs wurden die Nächte durchgetanzt, die Justiz hatte Wichtigeres zu tun. Seit einigen Jahren aber hat man wieder ein strengeres Auge auf das veraltete Spättanzverbot. Um Ruhestörung zu unterbinden, sagt die Polizei. Weil anständige Clubs leichter zu maßregeln sind als unanständige Rotlichtbetriebe, mutmaßen Polizei-Skeptiker. Es ist durchaus keine Unmöglichkeit, eine Sondergenehmigung zu bekommen. Doch das wollen die meisten Club-Betreiber nicht, denn damit würden sie automatisch den fuzoku eigyo zugerechnet, einem dehnbaren Sammelbegriff für irgendwie anrüchige Erwachsenenunterhaltung. Es wäre wie ein Eingeständnis, dass das Gesetz doch irgendwo recht hat.

Immerhin, inzwischen bröckelt die Rechtslage. Eine baldige Reform ist sehr wahrscheinlich, schon jetzt gibt es kreative Wege der Umgehung. Seit 2013 werden Techno-Udon-Partys immer beliebter. Dabei wird gemeinschaftlich der Teig für Udon-Nudeln geknetet, mit Füßen, auf einer Tanzfläche, zu Techno-Beats. Das darf bis spät in die Nacht gehen, denn gegen nächtliche Speisezubereitung gibt es kein Gesetz. Selbstverständlich werden die Nudeln am Ende der Veranstaltung sofort zubereitet und verspeist. Tanzen beziehungsweise Kneten macht halt hungrig.

Trotz juristischem Entgegenkommen und kreativen Umwegen wird Japan in Sachen Club-Kultur wohl noch einige Zeit Entwicklungsland bleiben. Kurios, wenn man bedenkt, wie meilenweit Japan in anderen Aspekten der Popkultur und des modernen Lebens die Nase vorn hat.

Selbst wenn nachts getanzt werden dürfte – wie sollte man hin- und wieder wegkommen? Die öffentlichen Verkehrsmittel machen selbst in Millionenstädten zu Mitternacht Schicht im Schacht, mit Nachtbussen wird nur zögerlich experimentiert (und das gegen den lautstarken Widerstand der Taxiunternehmer). Dabei ist das Tanzen in der Stadt noch immer sehr viel leichter und freier als das Tanzen am Strand. In den Strand-Clubs der Shonan-Region darf Musik seit kurzem nur aus offiziell von regionalen Ämtern verteilten und voreingestellten Lautsprechern kommen. Und auch das nur, wenn es sich nicht um ‚Club-Musik‘ handelt.

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Aktueller Nachtrag: Nach (aber vermutlich nicht wegen) des Erscheinens dieser Kolumne wurden die Gesetze gelockert. Inzwischen darf länger getanzt werden, wenn es im Tanzschuppen heller als in einem Kino ist.

Fußball-Krimi: Deutschland gegen Argentinien jetzt wieder 0:0

Gestern nach Redaktionsschluss ist noch was passiert, was ich für meinen WM-Report nicht mehr berücksichtigen konnte, Sie wissen schon. Im Fußballjargon nennt man es wohl harakiri.

Ich sage es gleich: ich habe den sogenannten Gaucho-Tanz nicht gesehen und habe nicht vor das nachzuholen, ich bin eh total im Rückstand mit Internetvideos (hab noch nicht mal das gesehen, wo sich die ganzen Leute küssen). Ich muss also mit Hörensagen arbeiten, was mir für einen glasklaren, messerscharfen Durchblick vollkommen ausreicht. Gehört habe ich, dass das Ganze wohl auf einem traditionellen Fanritual basiert, das immer durchgeführt wird, wenn einer gewinnt und einer verliert, mit angepassten Variablen. Tradition ist freilich kein Freifahrtschein für jeden Mist. Diesen speziellen Mist finde ich generell albern aber vertretbar, in diesem speziellen Fall allerdings ein wenig unglücklich (vollwertige Empörung spare ich mir lieber für Raketeneinschläge und Lebensmittelskandale auf). Denn selbstverständlich sehen Sieger nicht so aus wie jemand, der sich über Verlierer lustig macht. Bei solchen Gesten macht es durchaus einen Unterschied, von wem und in welchem Rahmen sie kommen. Genauso stimmt es, dass ein Gaucho-Tanz kein Hitlergruß ist, noch nicht mal im Ansatz.

Die Erklärungs- und Beschwichtigungsversuche der Anhänger, die sich ihre Freude am Fußball nicht nehmen lassen mögen, kann ich gut verstehen, denn sie erinnern mich an mich, wenn Morrissey oder Michel Houellebecq mal wieder den Mund aufmachen. Schon während sie Luft holen, formuliert man ein stilles Stoßgebet: Bitte, bitte … nichts über Hühnerhaltung, Massenmord, Sextourismus oder den Islam. Aber es kommt, wie es immer kommt, und hinterher sagt man: Aber … aber … sie singen doch so engelsgleich (Morrissey) und schreiben so schöne Bücher (beide). Und diese Rechtfertigungen sind gar nicht ganz so halt- und hilflos, wie sie klingen. Manche Menschen können sich halt in unterschiedlichen Foren und Formen unterschiedlich gut ausdrücken. Mir ist in meinem persönlichen Umfeld kein leidenschaftlicher Mensch bekannt, der sich beim Vertreten seiner Ansichten nicht schon einmal im Ton vergriffen hätte. Selbstverständlich hat Morrissey prinzipiell recht damit, dass Tierleben gewürdigt und geschützt gehören. Selbstverständlich hat Houllebecq ganz allgemein recht damit, dass Religion auch Nachteile und Prostitution auch Vorteile hat. Was habe ich schon Witze über Japaner gemacht. Was hat meine Frau schon Witze über Deutsche gemacht. Gottlob war das Fernsehen nie dabei. Wenn gar nichts anderes hilft, kann man auch mal Kunst von Künstler trennen: Er ist zwar ein Arsch, aber ich freue mich schon aufs nächste Lied/Buch/Spiel; das kann er wie kein zweiter. Darüber hinaus ist stets zu bedenken: Es gibt nichts Langweiligeres, als sich nur mit Menschen zu befassen und zu umgeben, die alles genau so sehen, formulieren und machen wie man selbst. Das macht träge und einfältig.

Jetzt spielen also Schweini, Poldi und wie sie alle heißen in derselben Liga wie Morrissey und Michel Houellebecq? Weltmeister der kulturellen Kommunikation? Wollte ich das damit sagen? Keine Ahnung, aber was ich auf jeden Fall sagen muss: Meine Fresse, was waren die Argentinier für schlechte Verlierer! Im Grunde ist ihnen jeder Spott von jedem zu gönnen. Die haben mit der Unsportlichkeit angefangen. So, wie Messi bei der Siegerehrung geguckt hat, guckt man einfach nicht bei einer Siegerehrung. So sehen keine traurigen Verlierer aus, so sehen bockige Kleinkinder aus.

Trotzdem zeigt die deutsche Mannschaft keine Größe, wenn sie genauso kleinkindisch kontert. Ich hätte einen Vorschlag zur Güte: Wir haben uns ja nun schon alle genug gefreut, das kann uns keiner mehr nehmen. Erklären wir doch einfach das Finale für ungültig und Holland zum Weltmeister. Oder (besser) Costa Rica. Argentinien und Deutschland schicken wir ohne Abendessen auf ihre Zimmer, wo sie mal über die ganze Sache nachdenken können. Zur Aufheiterung spricht das Wort zum Donnerstag Onkel Mo, hier mit Tante Pam:

New Model Army grüßt Paul Walker

Ein bisschen aus Neugier, ein bisschen aus vorauseilender, infantiler Schadenfreude habe ich mir kürzlich das neue Album von New Model Army gekauft. Meine Schadenfreude konnte nicht befriedigt werden, mein Geld war gut angelegt, es ist ein schönes, kleines, entspanntes Alterswerk geworden von jemandem, der große Alterswerke nicht nötig hat. Textlich viel Pathos, musikalisch wenig Patina. Schon beim ersten Hören war mir der Song ‚Knievel‘ positiv aufgefallen. Sofort dachte ich: Falls die Filmserie Fast and Furious sich mal entscheiden sollte musikalisches Neuland zu betreten, würde sich dieses Stück anbieten.

Drum wollen wir es heute kurz enteignen und für mindestens drei Minuten Paul Walker gedenken. Sieht so aus, als wurde das Video aus Gründen der Gerechtigkeit von Youtube entfernt. Drum an dieser Stelle das offizielle Paul-Walker-Abschiedsvideo. So viel Sentimentalität muss sein.

Evil Knievel kann das Lied morgen zurück haben.

Die Fast and Furious-Filme wird man noch in 10, 50, wahrscheinlich 100 Jahren gerne sehen. Sie werden nicht mehr modern sein, aber charmant gealtert, wie es nur herzensgute B-Movies können. Das Haltbarkeitsdatum von Independent- und Kunstkino ist meist schnell überschritten. Was man einmal genial und bewegend fand, ist einem ca. fünf Jahre später ein bisschen unangenehm. Arthouse-Filme beschreiben immer nur eine sehr spezifische, vorübergehende innere Befindlichkeit von Individuen oder Massen, die man irgendwann nicht mehr recht nachvollziehen kann, beziehungsweise der man entwachsen wird. Die Themen, die B-Movies wie The Fast and the Furious verhandeln (Kameradschaft, Brüderlichkeit, sticking it to the Man, Eierkuchen) sind hingegen zeitlos. Sie versuchen uns nicht krampfhaft zu erklären, wie wir leben, sondern sie erzählen uns spielerisch, wir leben wollen. Diese Mischung aus zeitlosen Sehnsüchten und schnell veraltetem, schnell nostalgisch verklärbarem Dekor macht den Reiz guten Unterhaltungskinos aus. Paul Walker ist wichtiger Teil des nächsten cineastischen Klassiker-Kanons.

Ich hab ihn von Anfang an nicht gemocht. Diese stahlblauen Augen. Dieser Wuschelkopf. Männer ohne stahlblaue Augen und Wuschelkopf mögen halt keine Männer mit stahlblauen Augen und Wuschelkopf. Aus Neid dichten sie ihnen gewisse Unzulänglichkeiten an, zum Beispiel einen Mangel an Intelligenz und Talent, weil es schließlich nicht möglich sein darf, dass jemand gutaussehend UND klug ist.

Keine Ahnung, was Paul Walker in seinem Wuschelkopf hatte. In der Fast and Furious-Serie ist er mir jedenfalls doch noch ans Herz gewachsen. Einen Mangel an Talent werde ich ihm also nicht absprechen können, verdammt.

Nun ist er unsterblich, sein Gesicht darf rechtens neben Steve McQueen und Bruce Lee in einen Fels gemeißelt werden. Das ist ein bisschen tröstlich. Schöner wäre, wenn er noch ein bisschen länger sterblich geblieben wäre.

It always bothers me to see people writing ‚RIP‘ when a person dies. It just feels so insincere and like a cop-out. To me, ‚RIP‘ is the microwave dinner of posthumous honors.
— Lou Reed

8 Gründe, warum am Tag des Jüngsten Gerichts vermutlich doch nicht alle Seelen gerettet werden können (ein künstlich aufgeblasenes Fragment)

Letzte Woche haben meine Frau und ich einen ziemlichen Bock geschossen. Wir tun zwar immer so, als hätten wir das Savoir-vivre mit silbernen Löffeln gefressen, aber das Konzert der Münchner Symphoniker mit dem japanischen Meisterpianisten Nobu Tsujii haben wir nach der Hälfte verlassen. Nicht aus Protest oder Missfallen, sondern weil wir zu blöd waren, eine Pause von einem Ende zu unterscheiden.

Zu unserer Verteidigung: Die Sitte der Saufpause, insbesondere bei klassischen Konzerten, war uns durchaus geläufig. Allerdings war bei speziell diesem schon das, was sich nur als erster Block herausstellte, von einer befriedigenden, geldwerten Länge gewesen. Außerdem hatte der ganze Verbeugungs- und Rausgehen-und-wieder-reinkommen-Zirkus der Hauptakteure so etwas Finales gehabt. Wir waren durchaus zufrieden und hatten nicht das Gefühl, etwas verpasst zu haben, als wir schon in der Kneipe saßen und zwei nicht schlechte Plätze in der Philharmonie leer blieben.

Ich bin also vermutlich nicht die allerhöchste Instanz, wenn es um Ratschläge für einen gediegenen Klassikkonzertbesuch geht. Trotzdem möchte ich mich gern daran versuchen, denn die Episode erinnert mich an einen skizzierten aber nicht ins Reine geschriebenen Text, den ich vor ein paar Monaten in einem fremden Land wütend mit einem gelben Bleistift in ein rotes Notizbuch kritzelte, hier:

(Eigentlich schreibe ich nicht gerne mit Bleistift, aber ich habe es mir inzwischen angewöhnt, weil eines Tages ominöse blaue Kugelschreiberflecken auf unserem Ku-Klux-Sofa erschienen waren. Angeblich bin ich es gewesen und der Bleistift wurde zur Bedingung gemacht.)

Meine Frau und ich waren nach Prag gereist, weil es einer der wenigen Orte der Welt war, an denen wir beiden kleinen Kosmopoliten noch nie gewesen waren. Speziell zog es uns in den Smetana Saal, da dort meine Schwiegermutter schon einmal vor unserer Zeit auf ihrer einsaitigen Koto gespielt hatte (Schwiegermutter nicht im Bild):

(Soll ich noch etwas mehr mit meiner Schwiegermutter prahlen? Bitteschön: „Sie hat sogar schon für den Kaiser von China gespielt!“ Nein, das war gelogen. Aber das hier stimmt: „Sie hat sogar schon für die Kaiserin von Japan gespielt!“ Es gibt Fotobeweise. Deren Verbreitung steht mir nicht zu, aber ich habe sie gesehen.)

Wir hätten uns den Saal auch ohne Ton anschauen können, aber weil wir das Savoir-vivre mit silbernen Löffeln gefressen haben, entschlossen wir uns zu einem anständigen Konzertbesuch. Die Prager Philharmoniker gaben ein buntes Smetana-Potpourri, was man halt so gibt für Touristen wie uns, die nicht so recht wissen, was sie hören wollen. Es war sehr schön, ich habe mir später eine CD gekauft von diesem Smetana.

Die Hölle allerdings, das waren die anderen. Ich schämte mich für die Menschheit. Im Hotel zählte ich unter dem Titel, der über diesem Eintrag steht (ohne das in Klammern), in besagtem Notizbuch die Unmenschlichkeiten runter, die ich während des Konzertes in den Zuschauerrängen mit eigenen Augen gesehen und Ohren gehört hatte:

  • 1. Kaugummi kauen
  • 2. Fotografieren
  • 3. Mit Blitz
  • 4. Rascheln mit Einkaufstüten aus Plastik
  • 5. Überhaupt Plastiktüten in einen Konzertsaal bringen
  • 6. Kurze Hosen tragen (Mann)
  • 7. Sportschuhe tragen (Frau)(ginge für Mann natürlich auch nicht, wurde aber keiner erwischt, diesmal)
  • 8. Mit dem Smartphone hantieren
  • Ich weiß, das klingt nach meinem üblichen Gejammer über den üblichen Sittenverfall. Das macht es allerdings nicht weniger furchtbar oder wahr. Einer meiner schlimmsten Tage ist immer noch der, an dem in Münchner Bussen die Schilder mit den durchgestrichenen Handys abmontiert wurden. Vielleicht war das der Tag, an dem die Menschheit sich selbst aufgegeben hatte. Ab da waren selbst Plastiktüten im Konzertsaal keine Dystopie mehr.

    Ich hatte diese Notizen zunächst für mich behalten, weil erstens sowieso immer nur die wenigen nicken, die eine Belehrung nicht nötig haben, während die anderen (Hölle) eh unbelehrbar sind, und weil mir zweitens jede Gelegenheit fehlte. Die beiden neuen Bücher ließen mir keine Ruhe, sie schrien jede Nacht durch. Inzwischen ist aber das eine aus dem Haus und das andere zahnt immerhin nicht mehr.

    Apropos rotes Notizbuch und gelber Bleistift: Prag ist selbstverständlich genau der richtige Ort, wenn man in Sachen schriftstellerischer Prätention mal so richtig durchdrehen möchte. Es war mir im Urlaubsrausch nicht zu peinlich im offiziellen Künstler-Café Slavia diese Fotografie anfertigen zu lassen:

    Und das hier erst: Mit dem Gemälde des Absinth-Trinkers, der von der Muse besucht wird. (Ich habe natürlich ebenfalls eine Flasche Absinth im Duty-Free-Shop gekauft, wie sich das für den verwegenen Abenteuerreisenden geziemt, doch ich habe mich noch nicht getraut davon zu nehmen.)

    Ich werde diese Bilder niemals jemandem zeigen.

    Apropos Klassiker-Konzert: Diese Woche war ich bei Nick Cave and the Bad Seeds und es wird wohl das letzte Konzert von Nick Cave gewesen sein, das ich in einem derartigen Rahmen besucht habe. Seien Sie unbesorgt, weder folgt hier die Altpunker-Nörgelei, dass der feine Herr heutzutage auf der Bühne nur noch Lieder singt, anstatt sich im gemeinsam mit dem Publikum Erbrochenen zu aalen, noch gibt es gesundheitliche Gründe. Herr Cave und ich sind beide mopsfidel und das Konzert war als solches eine einzige Freude. Ich gehe nicht davon aus, dass es sich vom Konzert des Vorabends und Folgeabends in anderen Städten sonderlich unterschieden hat, aber Routine ist kein Schimpfwort. Es gibt kaum etwas Erbaulicheres, als einem guten Routinier bei der Routine zuzusehen und Nick Cave ist ein großartiger Routinier.

    Das Publikum war ebenfalls in Ordnung, keine Plastiktüte weit und breit. ALLERDINGS: Nie wieder werde ich mich für einen Künstler, der STIL mit vier Großbuchstaben zu buchstabieren weiß wie kein zweiter, in eine derart stillose, zugige, menschen- und kunstunwürdige, seelenverätzende Betonhalle wie das Münchner Zenith begeben. Für nichts und niemanden. Nein, es war nicht mein erstes Mal, ich wusste, was mich erwartet, aber irgendwann ist das Fass halt vollgetropft. An einem solchen Ort möchte ich fortan nicht mal mehr als Schwein tot am Haken hängen. Ein solcher Ort ist nicht nur eine Schande für das leuchtende München, sondern sogar für das gesichtslose Industriegebiet am Stadtrand, in das er hineingerotzt wurde. Anfangs befürchtete ich noch, es könnte mir zu warm werden angesichts der „heißen Musik“ (Jugendslang!), wenn ich meinen Mantel nicht abgebe. Doch zu guter Letzt war es nicht nur nicht nötig gewesen, den Mantel abzulegen; ich habe ihn nicht mal öffnen müssen in der Betonkälte. Noch habe ich den Schal gelockert. Für eine gewisse Zeit habe ich sogar – keine humoristische Übertreibung! – die Mütze wieder aufgesetzt (dabei weiß ich im Gegensatz zu 95 % der Bevölkerung, dass man in Innenräumen keine Kopfbedeckungen trägt). Und beim Bier und den Gepflogenheiten des Einschenkens kommt einem der alte Woody-Allen-Witz vom schrecklichen Essen in viel zu kleinen Portionen wieder hoch. Bisweilen gibt Herr Cave ja besondere Konzerte in gediegenerem Rahmen, mit Holzinstrumenten in Stucksälen. Ältere Anhänger, die sich schon in den 70ern und 80ern in Melbourne, London, Berlin und anderen Angeberstädten mit ihm durchs Erbrochene wälzten, tun das gerne als unpunkige Schnöselei ab. Ich allerdings muss sagen: Unter diesen Bedingungen erlebe ich Nick Cave und etwaige Mitmusiker gerne wieder. Doch das, was mir in dieser Woche angetan wurde, tue ich mir nicht noch mal an.

    Aber reden wir nicht mehr vom Zenith, das ist ja jetzt vorbei. Das einzige, was mir am Konzert selbst vielleicht doch ein wenig negativ aufgefallen war (allerdings erst nach ca. 24 Stunden Bedenkzeit, zählt also nicht), ist, dass in der Songauswahl zwar eine zünftige Mischung aus „ziemlich alt“ und „ganz neu“ geboten wurde, die Kategorien „etwas älter“ und „relativ neu“ jedoch komplett ausgeklammert wurden. Aus diesem Grund zum Abschluss ein Lied aus jener Zeit, die vielleicht nicht die beste war, aber auch nicht so schlecht, wie alle immer tun.

    Neuzugänge im Bohnenquarkland über den Wolken

    Neulich erwähnte einer mir gegenüber die Musik-Neuerscheinung André Rieu Celebrates Abba, daraufhin sagte ich: „Ich warte lieber auf André Rieu Celebrates Velvet Underground“, und zwei Tage später war Lou Reed tot.

    Das haben Sie ja fein hingekriegt, Herr Rieu.

    Ich bin höchstwahrscheinlich um 1986 Lou-Reed-Fan geworden, weil ich fand, dass er auf dem Cover des Albums Mistrial so cool aussah.

    Später lernte ich auch die Musik und vor allem die Texte zu schätzen, und dieser nasale Singsang-Ton wurde mir ein akustisches Zuhause. Ich nahm mir fest vor, auch rauschgiftsüchtig, kaputt, gemein und brillant zu werden, wenn ich mal groß bin, habe mich aber dann doch nicht getraut. Die letzten Jahre waren kreativ (wohl auch gesundheitlich) nicht Reeds glanzvollsten, mein letztes Konzert im letzten Jahr habe ich eher wie einen Pflichtbesuch bei lästigen Verwandten denn wie eine Wallfahrt absolviert. Nur dass ich Mama dabei nicht fragen musste, ob ich früher gehen kann, sondern mir die Freiheit einfach rausnehmen konnte.

    Reeds Gesamtwerk ist zwar so groß und stabil, dass nicht mal er selbst es zerstören konnte. Da er sich aber zuletzt so fleißig genau darum bemüht hatte, fühlte ich mich am Sonntag, als die Nachricht von seinem Tod eintrudelte, davon im ersten Moment nicht stärker tangiert als von anderen Todesmeldungen aus dem Prominentenbereich. Mein erster Reflex war der in diesem Fall übliche: Es schnell jemandem weitererzählen, bevor Twitter es tut, und am besten noch einen flapsigen Witz machen zum Beweis, was für ein toller Hecht man ist, von dem alles abperlt, wie Süßwasser von den glänzenden Schuppen des gemeinen Esox lucius. Als ich es dann allerdings der nächstgreifbaren Person weitererzählt hatte, erntete ich nur ein freundliches Lächeln und die Worte: „Wirklich? Oh, das ist aber schön!“

    Da merkte ich erst, dass ich unter Schock stand und wirres Zeug redete. Ich wollte sagen: „Lou Reed ist tot!“, es kam aber als etwas völlig Unverständliches heraus. Etwas, auf das man nur mit inhaltsleeren Beruhigungsphrasen reagieren konnte, in der Hoffnung den Patienten nicht noch mehr aufzuregen. Ich erinnerte mich plötzlich an einen hysterischen Telefonanruf aus dem Oktober 1988, als meine Großmutter durch die Leitung rief: „Der Strauß ist tot! Der Strauß ist tot!“, und wir dachten, es gäbe ein Problem bei der Begrünung ihres Vorgartens.

    Es wäre an dieser Stelle müßig, die musikalischen Meisterleistungen und Verfehlungen Reeds durchzubuchstabieren, das wird schon an allen anderen Stellen von allen anderen gemacht (meistens falsch und ohne den Mumm, den spießbürgerlichen Transformer-Berlin-New-York-Kanon loszulassen). Es sei nur gesagt, dass Ecstasy, sein letztes richtiges Album (also Kollaborationen, Kompilationen, Theaterarbeiten, Soundtracks, Live-Aufnahmen und Meditationsgedudel nicht mitgerechnet), ganz ordentlich war. Ist zwar auch schon wieder 13 Jahre her, aber was sind schon 13 Jahre im schildkrötenartig dahinschlurfenden Musikgeschäft? Besonders angetan hatte es mir bereits bei Albumerscheinen das Lied ‚Modern Dance‘, in dem Altersmilde und Schlitzohrigkeit Hand in Hand einen gemütlichen Herbstspaziergang unternehmen (nicht on the wild side, zum Glück).

    Genau so möchte ich Lou Reed in Erinnerung behalten. Im Hähnchenkostüm.

    Nicht fehlen darf in einer anständigen Würdigung Lou Reeds das oberlehrerhafte Zurechtweisen der niederen Gelegenheitshörer. Meistens geschieht das durch einen aufgeregten Hinweis zu einem seiner ursprünglich schönsten Lieder, das inzwischen leider für diverse gute Zwecke bonoisiert wurde: „Wusstest du schon, dass ‚Perfect Day‘ in Wirklichkeit von … von … von … HEROIN handelt?!“

    Ganz ehrlich, damit könnte man so gut wie jedem Reed-Song kommen. Deshalb hier ein weniger bekannter Fakt, der bislang in allen Liner Notes unterschlagen wurde: Wussten Sie schon, dass ‚Heroin‘ in Wirklichkeit von HIMBEEREIS MIT SAHNE handelt?!

    Noch ein Oktobertoter, zu dem ich ein sentimentales Verhältnis habe, wenn auch nur um ein paar Ecken: Takashi Yanase, der Erfinder der Comic-Figur Anpanman, ist im Alter von 94 Jahren gestorben.

    Sagte mir lange Zeit auch nichts. Im Frühjahr 2010 allerdings hatte ich mir ein Blind Date mit einer jungen Dame eingehandelt, die sich nach Damenmanier zierte, meine Blindheit vor dem Treffen durch die Übersendung von konkreten Bildinformationen zu heilen. Stattdessen kurbelte sie die Bilderproduktion in meinem Kopf an, indem sie mir mitteilte: „Man erzählt sich, ich sehe aus wie eine Mischung aus Betty Lou aus der Sesamstraße und Anpanman.“

    Eine Internet-Recherche ergab, dass ich mich auf so etwas einstellen durfte:

    Dank dieser Beschreibung habe ich die Dame am Tag der Verabredung leicht ausfindig machen können und knapp drei Jahre später geheiratet. Während der Phase des Hofierens bin ich sogar heimlich bis nach Yokohama gegangen, um aus dem dortigen Anpanman-Land zuneigungsförderndes Naschwerk mitzubringen. Hier Impressionen meiner Reise:

    Anpanman ist ein Superheld, dessen Kopf aus Brot (jap.: pan) mit Bohnenquarkfüllung (jap.: an) besteht. Wenn ein Kind Hunger hat, kann es ein Stück von Anpanmans Kopf abbeißen. Bei zu großem Gesichtsverlust backt der Bäcker, der Anpanmans Komplize ist, schnell einen neuen Kopf. Als 1973 das erste Anpanman-Buch erschien, waren Verleger und selbst Yanase wenig überzeugt, ob das Ganze so eine gute Idee war. War es aber, Anpanman gilt heute als markenwertvollste Cartoon-Figur Japans. Der Tod seines Erfinders war wochenlang Dauerthema auf allen Kanälen. Man konnte meinen, da wäre Lou Reed gestorben.

    Bestimmt gibt es auch ein Anpanman-Land über den Wolken. Dort können Lou Reed und Takashi Yanase nun gemeinsam vom großen Bohnenquarkbrot essen und neue Musik komponieren (Yanase war ein fast noch bekannterer Komponist als Comic-Auteur). Ich glaube, ich kann sie schon singen hören: … but he never lost his head / even when he was giving bread!

    Umziehen mit Rod McKuen and the Ants

    Wenn man bei einem Wohnungsumzug lange genug die Ruhe selbst gewesen ist, kommt zwischen Kistenpacken und Telekommunikationskundendiensthotlineheckmeck doch irgendwann der Zeitpunkt, an dem man merkt: Oh je, ich werde gerade ein kleines bisschen wahnsinnig. Dann ist es gut, wenn man schöne Musik hören kann, die einen daran erinnert, dass außerhalb brauner Kisten das Leben weitergeht und man wieder daran teilhaben wird, über kurz oder lang. Solch schöne Musik ist auf dem Album Marvelous Clouds von Aaron Freeman, das überraschend dieser Tage in mein Postfach flatterte. Ich hatte es zwar selbst aus einer Laune heraus importieren lassen. Da Import aber manchmal etwas dauert, hatte ich es zwischenzeitlich vergessen.

    Aaron Freeman ist jemand aus einer wohl coolen Independent-Band von früher, ich komme jetzt nicht drauf welche, es war keine von meinen. Ist auch egal, denn ich wurde durch Rod McKuen auf dieses Album aufmerksam. Von dem kommen die Lieder, die darauf gesungen werden. Auf Rod McKuen wurde ich aufmerksam durch das von ihm verantwortete Sinatra-Album A Man Alone, das ich fand, als ich gerade in der Manneslebensphase war, in der man sich einbildet, unbedingt Frank Sinatra gut finden zu müssen.

    McKuen ist in gewissen Kreisen als Kitschdichter verschrien, doch wir Menschen eines gewissen Bildungsniveaus wissen, dass ‚kitschig‘ nur ein anderes Wort für ‚schön‘ ist.

    Mehr Worte dazu an dieser Stelle nicht. Nicht, weil ich nicht könnte. Ich könnte wohl, doch möchte ich nicht. Ich möchte lieber weiter Musik hören und Kisten auspacken. Was ich hingegen nie wieder hören möchte, ist der dumme Spruch, dass über Musik zu schreiben so wäre, wie über Architektur zu tanzen. Ich behaupte: Das sind völlig unterschiedliche Dinge. Die einzige Gemeinsamkeit ist, dass beides sehr gut geht. Ein Choreograf, der sein Geld wert ist, sollte ohne weiteres in der Lage sein, eine Wahnsinnschoreografie zu architektonischen Themen buchstäblich auf die Beine zu stellen. Genauso ist jemand, der schreiben, hören und denken kann, befähigt, etwas Vernünftiges über Musik zu schreiben. Wer anderes behauptet, ist bloß zu faul. Wie ich gerade, nur gebe ich es wenigstens zu.

    Weniger gute Umzugsmusik als das Album von Aaron Freeman ist das neue Album von Adam Ant, Adam Ant is the Blueblack Hussar in Marrying the Gunner’s Daughter, was selbstverständlich keine Herabsetzung ist. Nicht jedes gute Album muss gute Umzugsmusik sein. Man kann von Glück sagen, dass mein erster Importversuch dieser CD fehlgeschlagen ist und sie nicht rechtzeitig zur heißen Phase des Umzugs eingeflattert war. Da meine Mutter im Auftrag meiner abwesenden Verlobten ein strenges weibliches Auge auf die ästhetische Qualität der Aus- und Einräumungsaktivitäten hatte, hätte sich vermutlich folgender Dialog ergeben:

    Mutter: „Was ist das denn schon wieder für beknackte Musik?!“

    Ich: „Ach Mama, das ist Adam Ant!“

    Und dann wäre uns beiden schlagartig klar geworden, dass wir wieder genau da sind, wo wir vor 30 Jahren schon mal waren.

    Adam Ant is the Blueblack Hussar in Marrying the Gunner’s Daughter wird in Antkreisen kontrovers diskutiert. Viele sind der Ansicht, es hätte vor der Veröffentlichung produziert werden müssen. Andere, Klügere, finden diese Ansicht spießig. Mir fällt die angebliche Unterproduktion kaum auf. Wie jeder, der seine Jugend vorbildlich genutzt hat, höre ich eh kaum noch was.

    Verkürzt und völlig gerecht kann man sagen: An der Akzeptanz dieses Albums lassen sich die coolen Antfans von den uncoolen unterscheiden. Sollen letztere doch weiter motzen und Strip auf SACD hören. Wir hören ihnen gar nicht zu und können auch ohne sie glücklich sein.

    Bitte entschuldigen Sie mich jetzt, ich habe noch Kisten auszuräumen.