Fischstäbchen aus dem Weltall

Männer und Frauen müssen manchmal Kompromisse eingehen. Etwa im Kino, wenn sie partout nicht Paranormal Activity: Tokyo Night sehen mag, und er sich nicht für Knight and Day erwärmen kann. Dann ist beiden am besten gedient mit einem Film, der beide nicht die Bohne interessiert, zum Beispiel Space Battleship Yamato. Eine hoch emotionale Angelegenheit für Millionen von Menschen, denen die zugrundeliegende Zeichentrickserie (int.: Star Blazers) eine wohligwarme Kindheitserinnerung ist. Meine Kino- und Lebensbegleitung und ich gehören nicht zu diesen Menschen, aber die günstige Anfangszeit des Films hat uns restlos überzeugt.

Die Yamato ist ein Raumschiff im Wortsinne, soll heißen, es sieht wirklich aus wie ein Schiff, bloß dass es durchs Weltall schippert. Da ist es nur angemessen, dass der Kapitän aussieht wie ein alter Seebär, gespielt von dem lustigen Alten aus Nokan – Die Kunst des Ausklangs. Der liegt aber die meiste Zeit krank im Bett. Die Rettung der Erde vom Weltraum aus liegt in der Hand eines gut geföhnten jungen Hitzkopfes, der wie jeder Held in jedem japanischen Unterhaltungsfilm von einem Mitglied der Herrenband SMAP gespielt wird.

Jeder erlebt die Magie, die Space Battleship Yamato ist, auf seine eigene Art und Weise. Meine Begleitung berichtete hinterher, der Herr mittleren Alters links neben ihr (nicht zu verwechseln mit mir) habe über weite Strecken des Films hemmungslos geweint. Die beiden Mädchen rechts von mir hingegen mussten nur häufiger mal auf die Toilette. Oder Textnachrichten verschicken, oder was man sonst so in diesem Alter dringend zu zweit tun muss. Ich selbst blieb ungerührt an Ort und Stelle, vor allem auch, weil ich den ewigen Kampf gegen den Schlaf hier und da vorübergehend verlor. Nicht ausschließlich eine Frage des Films, auch eine des Lifestyles. Aber der Film war keine große Hilfe. Auch nicht die Blicke meiner Begleitung, die anzudeuten schienen, dass das alles meine Schuld sei. Dabei war Space Battleship Yamato ungelogen ihr Kompromissvorschlag, den ich lediglich abgenickt hatte.

Weil ich auf dem japanischen Ohr manchmal ein wenig taub bin, fragte sie nach dem Film: „Hast du denn auch alles verstanden?“

Ich sagte: „Also, diesen Film versteht nun wirklich jeder, der schon mal einen Science-Fiction-Film gesehen hat. Auch ganz ohne Ton.“

„A so. Deshalb hab ich ihn vermutlich kein Stück verstanden.“

Nach allem, was man so hört, ist Space Battleship Yamato bzw. Star Blazers vor allem wegen seiner faschistoiden männerbündischen Rituale und klaren militärischen Hierarchien so beliebt. Fans nah und fern seien beruhigt, all das hat den Real-Relaunch überlebt. Auch im modernen Kinofilm gibt es sie, die zackigen Begrüßungen, die schnieken Uniformen und den ekligen Gruppenmief herrlichen Teamgeist. Geändert hat sich allenfalls, dass inzwischen auch die Mädchen richtig mitmachen dürfen, wenn Außerirdische abgeknallt werden. Wenn es um das finale Opfer zum Wohle von Mutter Erde geht, ist das aber doch alleine Männersache, denn die Frauen werden noch zum Gebären gebraucht, sie müssen vor der Selbstmordmission also schnell in Sicherheit gebracht werden.

Wer bei so viel Romantik zum Schluss noch immer keinen Kloß oder sonstwas im Hals hat, der bekommt noch eine heisere Power-Ballade um die Ohren gedonnert, die den Rest erledigt. Ich dachte gleich: Oh je, wieder so eine schäbige J-Rock-Band, die mit abgedroschenen Phrasen in schlecht gereimtem Englisch versucht, wie Aerosmith zu klingen. Hatte ich mich aber geirrt, und ich entschuldige mich in aller Form bei allen schäbigen J-Rock-Bands. Der Song im Film stellte sich als written and performed by Steven Tyler heraus.

Noch besser:

Die schöne Geschichte von Aaron und dem kaputten iPod

Mein iPod ist von Apple, er funktioniert also nur manchmal. Habe ich den impertinenten Wunsch nach einer bestimmte Musik, stellt er sich auf entsprechenden Tastendruck erstmal tot, knattert dann eine Weile empört rum und fängt schließlich ungeachtet meines spezifischen Wunsches an, seine komplette Musikdatenbank durchzuspielen, in alphabetischer Reihenfolge nach Namen des Interpreten. Selbstverständlich breche ich das meistens nach den ersten Takten ab. Ich kann gar nicht zählen, wie häufig ich inzwischen die ersten Takte des Liedes ‚Le Tunnel d’Or‘ von Aaron (Fettung durch Admin) gehört habe. Lange hat mich das fuchsteufelswild gemacht. Nicht wegen der Fehlfunktion, sondern weil ich mir nicht erklären konnte, wie dieses Lied auf meinen iPod kommt. Ich kenne gar keinen Aaron. Ich hegte den Verdacht, es handele sich um eine dieser hartnäckigen Beispielmusiken, die Softwaremonopolisten in ihren Betriebssystemen verstecken, und die sich beim Synchronisieren meiner Maschinen vermehrt hatte, bevor ich sie finden und löschen konnte.

Irgendwann stellte ich aber fest: Diese zerknirscht-gehauchte Pianoballade ist gar nicht so schlecht, eigentlich sogar ziemlich gut. Ich stellte außerdem fest, dass das Lied doch von mir kam. Es war von einer der Chanson-Sammel-CDs, die ich palettenweise aufgekauft hatte, als ich vor ein paar Jahren entdeckt hatte, dass Frankreich, Franzosen und Französisch gar nicht so blöd sind, wie man mir in der Schule weismachen wollte. Natürlich habe ich mir die ganzen CDs nie richtig angehört, übertreiben wollte ich es auch nicht.

Überhaupt bin ich mit Kompilationen nie recht warm geworden. Ich brauche immer eine Weile, bis ich mich auf jemanden einlassen kann. Kompilationen sind wie Speed Dating, da bleibt nichts hängen. Also habe ich mir jetzt das ganze Aaron-Album kommen lassen. Direkt aus Frankreich, da Aaron hier im Nachbarlande offenbar kein Thema ist. Um Versandkosten den Stachel zu nehmen kam noch das neue Soloalbum der reizenden und begabten (wie wir im Peter-Frankenfeld-Fernsehen sagen) Dionysos-Veteranin Babet mit ins Päckchen, was hier nur erwähnt sei, weil die reizende und begabte Babet die eine oder andere Erwähnung mehr als verdient hat.

Drei Dinge über Aaron erfahre ich durch das Album, noch bevor ich es gehört habe. Erstens: Ich hatte gedacht, Aaron sei ein Typ. Aaron sind aber zwei Typen. Das Ganze ist ein Bandname und steht für: Artificial Animals Riding On Neverland. Die offizielle Schreibweise ist übrigens AaRON, aber so einen Schnickschnack mache ich nicht mit. Zweitens: Laut Aufkleber (ein anderer als abgebildet) erscheint das neue Album am vierten Oktober 2010. Gibt es denn sowas? Fans der ersten Stunde warten seit zwei Jahren, ich muss nur das Wochenende irgendwie rumkriegen. Drittens: Als französisch getexteter Chanson ist ‚Le Tunnel D’Or‘ auf dem Album die sprachliche Ausnahme, der Rest ist in der Modesprache Englisch abgefasst. Das ist dann auch das einzige kleinere Problem an der Sache. Wie alle Künstler und normalen Menschen, die sich in einer Sprache äußern, die nicht ihre Muttersprache ist, verfallen Aaron dabei häufig in Klischees oder zwanghafte Originalität. Keiner ist davor gefeit, auch ich nicht, und Sie erst recht nicht. Egal wie viele Einser man schon als Kind hatte, egal wie viele schlaue Bücher man im Original liest und wie viele jargonschwangere Filme man ohne Untertitel schaut, egal wie lange man woanders gelebt hat und mit wie vielen Ausländern man jeden Abend trinken geht, eine Fremdsprache bleibt eine Fremdsprache. Die Unnatürlichkeit im Umgang mit ihr liegt nicht zwangsläufig darin begründet, dass man sie nicht richtig kann, sondern darin, dass man so vernarrt in sie ist, dass man ständig über das Ziel hinausschießt, mal meilenweit, mal nur ein trügerisches Quäntchen. Deshalb bin ich dafür, dass sich Liedermacher, Dichter, Journalisten u. ä. stets nur in ihrer Muttersprache ausdrücken. Nicht als national identitätsstiftende Maßnahme oder so ein Quatsch, sonder um zu zeigen, was sie drauf haben. Alles andere ist Verstellung. Nun könnten Sie sagen: „Aber was ist, wenn ein Künstler beispielsweise aus Island kommt und in seiner Muttersprache nur von ungefähr 347 Menschen weltweit verstanden würde? Wäre es dann nicht besser, er bediene sich trotz eines gewissen Genauigkeitsverlustes der englischen oder einer anderen Allerweltssprache, um seine vielleicht wichtige Botschaft so vielen Menschen wie möglich verständlich zu machen?“ Daraufhin würde ich die Arme vor der Brust verschränken, die Zunge zwischen die Lippen schieben und ein unanständiges Geräusch machen, woraufhin Sie sagen würden: „Sehr, sehr erwachsen, Herr Neuenkirchen.“

Ach, hören wir auf zu streiten. Es gibt keinen Grund, hören wir diese wunderbare Musik doch einfach wegen der Musik. Wäre mir daran gelegen, musikjournalistisch korrekt darauf einzugehen, müsste ich wohl von Loops und Grooves und Bleeps und Klaviertupfern und dunklen Klang- und Seelenlandschaften faseln, aber das möchte ich Ihnen und in erster Linie mir ersparen. Ist jedenfalls genau das Richtige, wenn einem der Herbst noch nicht Herbststimmung genug ist. Ich habe vorsichtshalber schon mal das zweite Album bestellt.

Eigentlich geht es mir gar nicht darum, Ihnen ein obskures französisches Pop-Duo schmackhaft zu machen. Ich möchte nur der Welt mitteilen, wie glücklich ich bin, dass mein iPod nicht richtig geht. Und ich möchte an Sie appellieren: Wenn Ihr kaputter iPod Ihnen etwas zu sagen versucht, dann hören Sie auf ihn.

Nachruf mit Ständchen: HMV in Shibuya

Wie mir erst jetzt bekannt wurde, hat am vergangenen Sonntag die HMV-Filiale im Tokioter Stadtteil Shibuya dicht gemacht. Da darf man schon ein wenig sentimental werden. Ich habe auf den 1400 Quadratmetern viele schöne Stunden meines Lebens vertrödelt, und meine Besuche nahmen mit fortschreitendem Alter eher zu als ab. Bevorzugte ich als wilder, flippiger Endzwanziger noch Tower Records um die Ecke, so zog es mich zuletzt immer mehr zu HMV, wo einen die Deko nicht so anschrie, und man das Gefühl hatte, die Jazz- und Klassik-Abteilungen wären nicht nur der Vollständigkeit halber da. HMV Shibuya bedeutete mir und ungefähr gleichaltrigen japanischen Freunden aus unterschiedlichen Gründen gleich viel. Für meine Freunde war es Anfang der Neunziger Jahre eine der wenigen Möglichkeiten, an heiße Scheiben aus dem Westen zu kommen. Für mich war es Ende der Neunziger nicht der einzige, aber einer der wichtigsten Orte, meine Bekanntschaft mit der japanischen Populärmusik zu vertiefen.

Zuletzt muss ich im Juni dort gewesen sein. Just in diesem Monat wurde das nahende Ende der Filiale verkündet, aber es ist damals an mir vorbeigegangen. Sonst hätte ich bestimmt noch ein anständiges Erinnerungsfoto geknipst. So kann ich nur auf eine typische Shibuya-Crossing-Totale zurückgreifen, wie sie sich im Fotoalbum jedes Tokio-Reisenden befindet:

Besser als mit Fotos erinnert man sich an einen Plattenladen ohnehin mit Musik. Lassen Sie mich nicht lügen, aber ich glaube, die erste CD, die ich mir bei HMV Shibuya gekauft hatte, war das Debütalbum des Kyotoer Pop-Rock-Trios (heute Duo) The Brilliant Green, darauf u.a. „There Will Be Love There“:

Ich besaß zu diesem Zeitpunkt (1999) bereits das gerade erschienene zweite und noch bessere Album Terra 2001, ich meine aber, es anderswo erstanden zu haben. Es freut mich sehr zu berichten, dass am 15. September dieses Jahres nach acht langen Jahren der ersatzbefriedigenden Soloprojekte das fünfte echte Album von The Brilliant Green erscheint. Ich rutsche schon nervös auf dem Stuhl herum. Schade nur, dass ich es nicht bei HMV Shibuya werde kaufen können.

Die letzte CD, die ich mir dort gekauft habe, war kürzlich die ‚Super Best‘-Kollektion der japanischen Funpunk-Institution The Blue Hearts. Sie war günstig, weil gerade eine neue Hitsammlung der rüstigen Stimmungskanonen erschienen war, und nun die 2786 früheren Kompilationen, auf denen exakt dasselbe drauf ist, verramscht wurden. Natürlich mache ich mir jetzt ein wenig Vorwürfe. Hätte ich HMV retten können, wenn ich mir die teure neue CD gekauft hätte? Vermutlich nicht, seien wir nicht albern.

Damit rechnen die Leute ja nur, dass jetzt The Blue Hearts mit ihrem beliebtesten Hit „Linda Linda“ kommen. Hatte ich auch vorgehabt, soviel Servicegedanke muss sein. Aber ich würde The Blue Hearts und den Song überhaupt nicht ohne den Film Linda Linda Linda kennen, in dem eine Gruppe sympathisch drömeliger Schülerinnen versucht, rechtzeitig zum Schulfest eine Rockband zu werden. Ich zeige lieber diese Version. Hat zwar im Gesamtzusammenhang nur noch Apropos-Charakter, aber so apropos-charakterstark muss man schon sein. Apropos: Dies war auch das erste Lied, das ich bei einem Karaoke-Vergnügen auf Japanisch durchzusingen versucht habe. Ich habe aber nur den Kehrreim einigermaßen fehlerfrei hinbekommen.

Ich höre tote Menschen

Ian Lowery ist schon 2001 gestorben, aber es kommt mir vor, als wäre es erst gestern gewesen. Vielleicht, weil ich erst gestern davon erfahren habe.

Wer war dieser Ian Lowery? Ich habe keinen blassen Schimmer. Wir sind uns nie begegnet, und sein Name sagt mir nicht viel. Als ich von seinem Tod erfuhr, war es also eher ein seufzendes „Ach, schade“ als ein anklagendes: „Gott! Waru-hu-hu-hum?!“

Schade ist es, weil ganz verkehrt kann dieser Ian Lowery nicht gewesen sein. Ich kannte ihn unbekannterweise als Vorsteher der Band King Blank, die 1988 ein Album namens The Real Dirt aufgenommen hatte, das ich damals aus einer Laune heraus kaufte (mir gefiel das Cover – ja, wir Menschen vom Planeten Erde sind so oberflächlich). Damit gehörte ich wohl einer Minderheit an, denn mehr kam da nicht. Und das fand ich schon damals schade, denn The Real Dirt war eine ganze Zeit lang eine meiner absoluten Lieblingsschallplatten, wie ich mich inzwischen wieder erinnere. Mein soziales Umfeld zuckte mit den Schultern, fand die Platte nett aber nicht besonders. Ging mir beim ersten Hören auch so, aber wenn man Ausdauer hat, beißt sie sich in Gehör und Gehirn fest und lässt nicht mehr los. Anfangs klingt sie ein bisschen nach Tante-Emma-Laden: von allem etwas, aber nichts so richtig. Für Rockabilly zu zornig, für Punk zu komplex, für Gothic zu lebendig, für Blues zu weiß. Doch irgendwann macht es Klick und Pling, denn der Groschen ist gefallen, und man weiß: Hier macht jemand, was er machen muss, egal wie man das nennt. Musik eben.

Ins Hirn gebissen oder nicht, irgendwann müssen alte Lieblingsplatten für neue Lieblingsplatten Platz machen, und so verschwand The Real Dirt mit der Zeit in meinem Unterbewusstsein. An die Oberfläche gespült wurde sie neulich wieder, als ich meine Vinyl-Schallplattensammlung umtopfte. Plötzlich hielt ich das Album wieder in den Händen, und all die alten Gefühle kamen wieder hoch. Mit Tränen der Rührung in den Augen dachte ich: Ist bestimmt voll der Scheiß.

22 Jahre sind eine lange Zeit, und manche Musik ist exklusiv an ein bestimmtes Lebens- und Zeitalter gekoppelt. Dennoch gab ich King Blank eine Chance zu beweisen, dass ihre Musik vorteilhafter gealtert ist als die von Vadder Abraham, zum Beispiel. Ich zelebrierte den ganzen Haptik-Quatsch mit Entstauben und Nadel auflegen, sinnierte kurz pflichtgemäß über den bösen, kalten technologischen Fortschritt, und war sofort wieder so angetan wie ich es damals erst nach hartnäckiger Hörarbeit war. Ach, Herr Lowery zieht schon ein wenig heftig vom Leder mit seiner Zorniger-Junger-Wilder-Mann-Nummer, aber er hält dabei die rechte Balance zwischen pampiger Ernsthaftigkeit und augenzwinkerndem Humor. Im Nullkommanichts wackelte ich wieder mit meinem kleinen Hintern durchs Kinderzimmer äh Wohnzimmer, wie ich es seinerzeit tat, wenn nach meiner Meinung keiner geguckt hat.

Und jetzt ist Ian Lowery also plötzlich tot, seit neun Jahren. Schade. Ich hätte gerne noch mehr von ihm gehört, und mehr über ihn erfahren. Auf der Website seiner Erben gibt es mehrere Dokumente zu Leben und Werk, aber soweit kommt das noch, dass ich längere Texte im Internet lese. Immerhin habe ich in Erfahrung bringen können, dass es noch ein Album mit dem eigenartigen Namen King Blank To von einer gewissen The Ian Lowery Group gibt, das man sich sogar heute noch erschwinglich legal herunterladen kann, wo es The Real Dirt vermutlich nur noch im dreistelligen Eurobereich auf eBay gibt (so billig bekommen Sie meine Platte aber nicht). Vermutlich muss man den Band- und Plattentitel als Ganzes lesen: From King Blank To The Ian Lowery Group. Nur eine Theorie. Tatsache hingegen: Mindestens genauso fesch und fetzig wie The Real Dirt.

Die nachfolgende Sendung ist für Zuschauer unter 40 Jahren nicht geeignet. Sie entstand in den 1980ern. Sie enthält ästhetische und dramaturgische Konzepte, die heutige Sehgewohnheiten verunsichern oder gar beleidigen könnten. Bitte schließen Sie zunächst Ihre eigenen Augen und halten dann die anwesender Kinder zu, aber hören Sie hin.

Rowland S. Howard ist auch so ein Toter. Einer von denen, wie ich nun erfahren muss, die trotzdem munter weitermachen. Im Mai wohl ist das neue Album erschienen, ich bekam es erst jetzt mit, ich war im Mai sehr beschäftigt. Howard scheint im Tode viele Freunde zu haben, wenn man sich das Internet so durchliest. Da möchte man sich mit der Eifer- und Geltungssucht des klassenbewussten Musikliebhabers schützend vor ihn werfen und fauchen: Aber ich fand den schon gut, bevor er gestorben ist!

Dabei ist mir verhältnismäßig egal, dass er Gründungsmitglied von The Birthday Party war. Hand aufs Herz: Die Birthday-Party-Platten übernehmen im Regal in erster Linie repräsentative Aufgaben. Das Beste an The Birthday Party war, dass daraus Nick Cave & The Bad Seeds wurden, und das Beste an Nick Cave & The Bad Seeds ist, dass daraus Grinderman geworden sind, die wiederum so klingen wie The Birthday Party, wenn The Birthday Party Humor gehabt hätten. Mit Humor wird nämlich doch ein Schuh draus.

Aber das alles hat wenig mit Rowland S. Howard zu tun. Nach The Birthday Party spielte er in einigen anderen unantastbaren Bands, mit denen ich ebenfalls nie richtig warm wurde, es liegt vermutlich an mir. Aber dann nahm er im Jahr 2000 sein erstes richtiges Soloalbum mit dem unnötig rabaukigen Titel Teenage Snuff Film auf, eines der weltweit drei bis zehn besten Alben, die man für Geld kaufen kann. Das neue Soloalbum, Pop Crimes, ist so etwas wie eine gelungene Fortsetzung: Vielleicht (aber auch nur vielleicht) nicht ganz auf der Höhe des ohnehin unerreichbaren ersten Teils, in jedem Fall aber ein schöner Nachschlag von dem, was man durch den Vorgänger zu schätzen gelernt hat. Beide Alben ergehen sich in romantischer Verbitterung und sehen das Ganze recht locker. Musikalisch über weite Strecken so elegisch, dass man sich in düsterer Gemütlichkeit mit jedem Ton einzeln beschäftigen kann. Beide Alben beinhalten über Eigenkompositionen und Klassiker-Covers hinaus auch eine Verbesserung eines Achtzigerjahregassenhauers. Bei Teenage Snuff Film war es ‚White Wedding’, hier ist es – ausgerechnet – ‚Life’s What You Make It’. Klingt in Howards knurrender Schnodderigkeit, als würde man es jetzt erst verstehen, ob man will oder nicht.

Nach gewissenhafter Recherche (Wikipedia) stelle ich fest, dass Pop Crimes in Howards Heimat Australien bereits 2009 ein paar Monate vor seinem Tod erschienen ist und nur im Rest der Welt posthum nachgereicht wurde. Schön, dass er die ersten warmen Worte von Lokalpresse und angetanen Kollegen noch mitbekommen hat.

Rowland S. Howard erinnert mich immer ein wenig an Marc Moreland († 2002). Nicht nur, weil auch Letzterer auf seinem Soloalbum Take It to the Spotlight (VÖ 2002) mit ‚Bette Davis Eyes‘ einen Hang zur Schlagermusik einer geschmacklich ambivalenten Dekade zeigte. Bei Howard wie bei Moreland kann man sich bei ihren Coverversionen nie ganz sicher sein, ob sie Beleidigung oder Huldigung sind, was viel spannender ist als die feige Ironisierung oder kriecherische Werktreue, die solche Unterfangen in der Hand kleinerer Geister haben. Stärker noch eint beide Künstler, dass sie in jungen Jahren die zweite Geige in Bands spielten, die heute nostalgisch verklärt werden. Howard in The Birthday Party, Moreland bei Wall of Voodoo. Letztere verkläre vor allem ich nostalgisch. Man könnte sagen: Wall of Voodoo ist meine Birthday Party. So sind wir jungen Dinger.

Marc Moreland klingt auf Take It to the Spotlight kranker und kaputter als Rowland S. Howard. Man kann in Howards Pop Crimes mit dem heutigen Wissensstand auch einiges an Krankheit und Todesgewissheit hineinhören, realistisch gehört aber klingt er gerade so kokett kaputt, wie er schon geklungen hat, als es ihm noch zu gut ging. Ein Glück, denn so lieben wir ihn, und so wollen wir gedenken. Marc Morelands Schwanengesang derweil gerät immer wieder zu einem musikalisch begleiteten Alter-Mann-Gebrabbel darüber, dass der Ehrliche der Dumme ist & die da oben sowieso machen was sie wollen & nirgendwo darf man mehr rauchen & die jungen Leute heutzutage. Man muss nicht jedes Gebrabbel abnicken, aber dem Sound kann man sich schlecht entziehen. Der Wall-of-Voodoo-Sound war eben kein Zufall, sondern zu keinem geringen Anteil das Werk von Gitarrist Moreland mit seiner Gleichzeitigkeit der derzeit modernen New-Wave-Beeinflussung und einer furchtlosen und ehrlichen Country-Verbeugung.

Hurra, wir leben noch

Wo wir gerade bei Wall of Voodoo sind und krampfhaft einen lebensbejahenden Ausklang für diesen deprimierenden Eintrag suchen: Die beiden Sänger der Band sind noch recht munter. Stan Ridgway veröffentlicht Ende August sein neues Soloalbum. Wenn es so wird, wie die letzten sieben sind, wird es ein Meisterwerk (keine Sorge, auf der Bühne wird er ‚Camouflage‘ bestimmt trotzdem noch spielen, wenn man nur penetrant genug grölt).

Wie man noch tiefer unter dem Radar der Öffentlichkeit fliegen kann als Stan Ridgway, hat der zweite Wall-of-Voodoo-Sänger Andy Prieboy vorgemacht, auch wenn seine beiden Soloalben Upon My Wicked Son und Sins of Our Fathers zu den weltweit zwei bis fünf besten Alben gehören, die man für Geld kaufen kann. Er tingelte viele Jahre vorwiegend durch die USA mit seinem Musical White Trash Wins Lotto, der Geschichte von Axl Rose bzw. „jemanden wie Axl Rose“ (Anwalt). Prieboy, einer der weltweit besten ein bis drei Liedermacher, hat sich heute in seinem Malibu Ghraib Studio eingeigelt und legt hin und wieder auf seiner Website ein Ei.

Dort findet sich auch eine Version des Songs ‚Shine‘, auf der Stan Ridgway die Mundharmonika bläst. Der Umstand klingt erstmal nicht ungewöhnlich, wo die beiden doch in derselben Band gewesen waren. Ist aber doch ungewöhnlich, weil selbstredend keine vernünftige Band mehr als einen Sänger braucht. Ridgway und Prieboy sind sich zu Voodoo-Zeiten nie begegnet, der eine hatte den anderen abgelöst. Dann gab es ca. 2006, lange nachdem die letzte Wall-of-Voodoo-Besetzung sich unter Alkoholeinfluss und ohne ordentliche Auflösung schlicht aus den Augen verloren hatte (Prieboys Darstellung), ein Foto, das Fans der Band augenblicklich die Pupillen hochdrehen und in Zungen sprechen ließ. Uneingeweihte sahen darauf nur zwei grau melierte Herren beim Sonntagsspaziergang und zuckten mit den Schultern, aber ich und die beiden anderen Wall-of-Voodoo-Historiker wussten: Das sind Andy Prieboy und Stan Ridgway auf demselben Foto!

Scheibenkleister, ich wollte es hier zeigen, aber ich kann es ums Verrecken nicht wiederfinden. Weder zuhause noch im Internet. Es ist, als hätte es nie existiert. Aber ich habe es gesehen, damals! Ich habe es Bekannten gezeigt, und sie haben mit den Schultern gezuckt, so als würden sie nicht begreifen, dass das das coolste Foto der Nullerjahre ist. Ist es aber. Wo immer es sein mag.

Die Geschichte hinter dem Foto war weniger schön als seine schlichte Existenz. Ridgway ging damals Klinkenputzen für eine Wall-of-Voodoo-Wiedervereinigung, die dann kurzzeitig im Vorprogramm von Cindy Lauper (lebt) stattgefunden hat, obwohl kaum einer mitgemacht hat (neben Marc Moreland war auch Trommler Joe Nanini schon tot, und Marcs notorisch ungesunder Bassisten-Bruder Bruce Moreland war so zerstritten mit Ridgway, dass er gar nicht erst gefragt wurde). Genau so gut hätte Billy Corgan sich Smashing Pumpkins nennen können. Oder Andrew Eldritch sich Sisters of Mercy. Oder David Bowie sich Tin Machine. Oder Lou Reed sich Lou Reed.

Schwamm drüber, wir alle haben mal klamme Tage. Das neue Ridgway-Album wird bestimmt toll, die neuen Prieboy-Songs sind es schon.

Und damit wären wir zurück im Reich der Lebenden und verabschieden uns – nur für heute – mit dem schönsten Reim Rowland S. Howards:

You’re good for me like coca-cola
I don’t get any younger, you don’t get any older

Gut, klingt von ihm gesungen besser als von mir getippt. Müssen Sie unbedingt hören, solange Ihnen Zeit bleibt.

TETSUO III: KRACHMACHER

Eigentlich wollte ich nichts über TETSUO THE BULLET MAN schreiben, weil sich spontan gar keine Meinung einstellen wollte. Aber als nach ein paar Stunden mein Gehör zurückkehrte, fingen langsam auch die anderen Sachen in meinem Kopf wieder an zu funktionieren.

Normalerweise bin ich dagegen, Filmtitel u. ä. durchgehend in Versalien zu schreiben, aber bei TETSUO THE BULLET MAN sehe ich keine andere Möglichkeit. Ich kann mich gerade noch beherrschen, nicht drei Ausrufezeichen anzuhängen. Einer Tokioter Stadtillustrierten erzählte der Hauptdarsteller Eric Bossick stolz, bei der Vorführung des Films auf dem Tribeca-Filmfestival in New York wären zum ersten Mal in der Festivalgeschichte die Lautsprecher durchgeknallt. Der Filmvorführer in Shibuyas renommiertem Cinema Rise, wo ich zuhören durfte, wollte wohl ausprobieren, ob er das auch hinbekommt, und ich würde sagen, viel hat nicht gefehlt. Möglicherweise wurde vom Verleih verfügt, dass immer alle Zeiger im roten Bereich sein müssen, sonst macht es keinen Spaß.

Für alle, die nur Avatar kennen: TETSUO THE BULLET MAN ist der dritte Teil der Tetsuo-Reihe von Regisseur bzw. Multikünstler Shinya Tsukamoto. Die Filme setzen einander nicht direkt fort, sondern variieren jedesmal dieselbe Prämisse eines Mannes, der sich in eine Maschine verwandelt und Unheil anrichtet, nachdem ihm selbst Unheil widerfahren ist. Erzählerische Stringenz ist dabei weniger wichtig als provokante Ästhetik und ungewöhnliches Sounddesign. Der erste Film der Reihe, Tetsuo, ist mir flauschige Nostalgie, weil es der erste Film war, den ich bewusst als japanischen Film wahrnahm. Ich hatte bestimmt schon andere mit Riesenmonstern und Schwertkämpfern gesehen, aber das war in einem Alter gewesen, als man sich noch nicht drum scherte, wo die Filme herkamen. Tetsuo begeisterte mich und andere wie mich und überzeugte uns noch vor der bevorstehenden Manga- und Anime-Invasion davon, dass diese Japaner ja alle verrückt sein müssen. Wir waren jung. Heute weiß ich freilich, dass nicht nur nicht alle Japaner Filme wie Tetsuo machen, sondern die meisten Japaner diese Filme noch nicht mal kennen. Und sich am Kopf kratzen, wenn sie mit ihnen konfrontiert werden.

Den zweiten Film, Tetsuo II: Body Hammer, mochte ich nicht sonderlich. Schon die Tatsache, dass er in Farbe war, empfand ich als hollywoodmäßigen Ausverkauf. Wir waren jung. Dennoch wartete ich hibbelig auf den angekündigten Flying Tetsuo. Ein fliegender Tetsuo?! Kann man sich sowas vorstellen?! Kann man, aber der Film kam nie.

Es brauchte 17 Jahre, bis Shinya Tsukamoto sich an einen neuen Tetsuo-Film machte. Weil Tsukamoto besonders im Ausland einen Oh-diese-verrückten-Japaner-Kultstatus hat, wurde TETSUO THE BULLET MAN gleich zu 99,9% in Englisch gedreht, und den Rest der Tonspur durften Nine Inch Nails vollballern. Ob man mit dieser Verwestlichung einverstanden ist oder nicht: In 17 Jahren können Erwartungshaltungen ganz schön monströse Ausmaße annehmen. Zumal Tsukamoto zwischenzeitlich dies- und jenseits des Mainstreams bewiesen hat, dass er mehr als ein One-Hit-Wonder oder One-Trick-Pony ist (bitte schauen Sie Gemini – Tödlicher Zwilling, macht sonst niemand).

Einer der schlimmsten Füll- und Übergangssätze aus dem Baukasten der ungelernten Hobby-Filmkritik lautet: Die Geschichte ist schnell erzählt. Und wenn schon! Ob eine Geschichte schnell erzählt ist oder nicht, sagt rein gar nichts über ihren Gehalt aus. Meistens noch nicht mal über ihre Handlung, allenfalls über ihren Nacherzähler. Wer auf jeden Teenie einzeln eingeht, kann aus der Geschichte von Freitag, der 13. Teil 4 – Das letzte Kapitel einen mehrseitigen Schulaufsatz zaubern. Wer gehässig sein will oder nicht viel Platz hat, kann Robert Altmans Short Cuts in einem Satz zusammenfassen, es ist lediglich ein Minimum an Analysefähigkeit und schreiberischen Geschick vonnöten.

Das Problem von TETSUO THE BULLET MAN ist nicht, dass die Geschichte in groben Zügen schnell erzählt ist: Mann verwandelt sich zu seiner eigenen Überraschung in einen Kampfroboter und rächt den Tod seines Sohnes. Das Problem ist, dass die Geschichte nicht nur grobe Züge hat, sondern zwischen der kreischenden und donnernden Mensch-Maschine-Körperhorror-Action auch noch erzählen will, wie es dazu kommen konnte, und wie die Familie jetzt damit umgeht. Das menschliche Drama wird getragen (bzw. eben nicht) von Fließband-Dialogen, die oft fremdpeinlich sind. Und glaubwürdiger wird die Story mit Sicherheit nicht dadurch, dass der Maschinenmensch durch vergilbte Dokumente mit sepiafarbenen Fotos und altmodisch geschwungener Handschrift fummelt, aus denen er erfährt, dass seine Eltern schon lange an Maschinenmenschen arbeiteten. Wenn wir davon ausgehen, dass der Film in unserer Gegenwart spielt, und der Protagonist so alt ist wie sein Darsteller (Mitte 30), dann kommen diese Aufzeichnungen ungefähr aus den 1970ern? Vordigitales Zeitalter sicherlich, aber hatte man noch keine Farbfotos und Schreibmaschinen? Ich erinnere mich nicht mehr genau.

Darüber kann man aber direkt hinwegsehen, wenn man davon ausgeht, dass sich der ganze Tetsuo-Wahnsinn in einer Realität außerhalb der Realität abspielt. TETSUO THE BULLET MAN ist durchgehend im typischen Tetsuo-Stil inszeniert, also hektische Kamera, schnelle und assoziative Schnitte, Old-School-Spezialeffekte, und alles im Takt des Industrial-Beats. TETSUO THE BULLET MAN ist zwar in Farbe gedreht, aber die Farbe wurde dermaßen zurückgedreht, dass sie nur selten, dann aber effektiv, auffällt. Dass audiovisuelle Donnern macht jedem Spaß, der schon mal Spaß an einem Tetsuo-Film hatte. Die schwache Story macht nichts. Es sind die Dialoge, über die man trotz allem schlecht hinweghören kann. Der Film ist nachahmenswerte 79 Minuten kurz. 69 oder noch ein bisschen weniger hätten es womöglich auch getan, Kürze ist keine Sünde. Dies ist die Art von Film, wo ich ganz Mann bin: Das ganze Gequatsche raus, Hauptsache der Typ wird Kampfroboter und macht Kampfrobotersachen.

Und jetzt bitte Flying Tetsuo. Meinetwegen mit Musik von Einstürzende Neubauten oder Napalm Death oder beiden, aber bitte ohne Worte oder wie dieser Weiberkram heißt.

Mein erstes Mal in Japan (5): Karaoke

11 Jahre habe ich gebettelt, dass mich mal einer mitnimmt, aber ich kenne nur zu feine Pinkel. Dachte ich. Der einzige japanische Mensch, den ich prinzipiell nicht gefragt hatte, war ausgerechnet Schwester M. Weil ich meinte: Die singt ja sowieso, da ist Karaoke bestimmt unter ihrem Niveau. Stellt sich aber heraus: Jeder muss mal üben. Als sie selbst das Gespräch auf das Thema bringt, frage ich kleinlaut, ob sie mich mal mitnimmt. Sagt sie: „Okay, gehen wir!“

So habe ich freilich nicht gewettet. Ich meinte: Irgendwann mal, abends, wenn ich beschwipst bin und mich ganz toll finde. Nicht bei Tageslicht, nüchtern, kurz nach dem Mittagessen. Aber ich habe keine Wahl. Megumi hat in einer Stunde Vorstellungsgespräch. Es wäre ja gelacht und sie keine echte Japanerin, wenn da nicht noch Platz für eine halbe Stunde Karaoke wäre.

Möglicherweise ist es nicht das erste Mal, dass ich überhaupt Karaoke singe. Könnte sein, dass da mal was auf einer Party in Bremen war. Aber ich habe an den betreffenden Abend keine klare Erinnerung, und die Oral History widerspricht sich von Historiker zu Historiker. Außerdem ist Karaoke in Japan eh anders. Man blamiert sich nicht vor einer Meute Wildfremder bis auf die Knochen, sondern, in meinem Fall, vor nur einer Person, die man schon locker eineinhalbmal im Leben gesehen hat.

Karaoke findet in Privatkabinen statt, die auf Zeit gemietet werden. Nach westlichem Moralkodex, vielleicht auch nur nach meinem eigenen, haben Vergnügungen in schalldichten Privatkabinen, die im Halbstundentakt abgerechnet werden, grundsätzlich etwas Verdorbenes. Während wir durch die zugleich schummrigen und sterilen Korridore des Karaoke-Zentrums auf der Suche nach unserer Zelle schleichen, muss ich schwer an mich halten, um nicht ins Telefon zu rufen: Ehrlich, Mama, wir machen nur Hausaufgaben!

Unsere Kabine beinhaltet ein schmutzabweisendes Sofa, einen Couchtisch mit Musikkatalogen und Speisekarten, mehrere Lautsprecher, eine Klimaanlage und selbstverständlich eine Karaoke-Maschine + großem Fernseher, auf dem Fernseh-Menschen quiekend neue Produkte anpreisen, wenn gerade kein echter Mensch singt. Zwei Mikrofone und ein Fernbedienungspult haben wir in einem Körbchen, das uns am Empfang überreicht worden war, selbst mitgebracht.

Megumi stellt es auf einmal so dar, als sei das Ganze meine Idee gewesen, deshalb soll ich anfangen.

Ich bin nicht mal halb durch Bullet With Butterfly Wings, da verlässt sie kommentarlos und fluchtartig das Zimmer. Es war trotzdem schön, sie kennengelernt zu haben. Wir hatten auch gute Minuten, bevor die Karaoke zwischen uns kam. Womöglich singe ich als nächstes mit Morrissey: No true friends in modern life!

Aber es ist halb so schlimm, sie ist im Nullkommanichts zurück mit einem Tamburin und zwei Rumba-Rasseln. Ein Glück, dass sie daran gedacht hat. Gute Laune ohne Rumba-Rasseln ist einfach keine echte gute Laune, das war schon immer mein Lebensmotto.

Apropos Morrissey: Der Sinatra meiner Generation, ohne jede Frage und Diskussion. Man soll sich bei Karaoke nicht mit Minderheitengeschmack brüsten, sondern Evergreens schmettern, deshalb durchsuche ich die Datenbank nach THE SMITHS, aber da ist nur How Soon Is Now?. Vielleicht der feinste Song der Band überhaupt, aber eben einer, der textlich so auf den Punkt gebracht ist, dass kaum Text übrig ist. Also nicht gerade ein Karaoke-Kracher, wie man ihn sich von The Smiths wünscht. Trotzdem soll der es sein.

Wenn man in echt nie singt, aber in Gedanken quasi ständig, ist es schrecklich, wenn man sich plötzlich tatsächlich singen hören muss. Besonders, wenn man keinen im Tee hat. Es ist leider nicht mal die alte Leier von der eigenen Stimme, die einem von Natur aus zuwider ist. Es ist viel schlimmer. Wohin ist all die Leidenschaft auf dem Weg vom Herzen in den Lautsprecher verschwunden? Warum klinge ich wie irgendein grober Karaoke-Proll, dem dieses sorgfältig ausgewählte Lied auch nicht mehr bedeutet als Dschinghis Kahn oder Paradise City? Ich bin doch was Besseres! Bin ich aber nicht, hört man ja, eher niedriger.

Eine eigenwillige Version von Friday I’m In Love gerät kaum feinfühliger, das Authentischste bleibt Megumis perkussive Begleitung. Dass sie auch das mit dem Singen viel besser hinbekommt, reibt sie mir u. a. mit Boulevard Of Broken Dreams und Can’t Take My Eyes Off You unter die Nase.

La Isla Bonita hätte schön werden können, wenn ich nicht ganz gemein einfach mitgesungen hätte.

Aber ich will nicht immer nur zerstören. Ich muss beweisen, dass ich auf dem Grunde meines Herzens ein vermittelbarer Musikliebhaber bin.

Wird fortgesetzt. Ich habe schon eine Liste gemacht.

Eine von 127 Millionen (und noch eine)

Ramen Square NY. Warum wirbt ein japanisches Gastronomie-Erlebniszentrum, das sich auf chinesische Nudelsuppen spezialisiert, mit New York im Namen? Das einzige, was mich daran wundert, ist, dass es mich gar nicht mehr wundert. Alles, was ich weiß und wissen muss: Befindet sich in Tachikawa, westlich der Stadt Tokio, innerhalb der Präfektur Tokio, erreichbar über einen Laufsteg direkt vom örtlichen Bahnhof. Etliche Ramen-Blogger haben schon darüber gebloggt.

Bin ich hier etwa auch wegen der Nudeln rausgefahren? Nein, Nudeln gibt’s auch in Tokio, ich bin hier wegen der Musik. (Die Nudeln sind allerdings auch ganz gut, nur als Pescetarier muss man ausnahmsweise mal ein Auge zudrücken, und als noch schlimmerer Tarier alle beide, oder eben Magen knurrt während des Konzerts.)

Zweimal die Woche singt hier Megumi Sakurai zur Begleitung ihrer bis zu vierköpfigen Jazzband. Megumi, wir sind per Vornamen, unterscheidet sich von den meisten Japanern. Die meisten Japaner sagen: „Was auch immer Sie tun – schreiben Sie bloß nichts über mich!“ Megumi hingegen sagt: „Schreib doch mal was über mich!“

Das lass ich mir nicht zweimal sagen. Megumis vorauseilende Bereitwilligkeit zur Berichterstattung begründet sie übrigens haargenau so wie all die anderen Japaner ihre Zurückhaltung in dieser Angelegenheit: „Ich bin doch nicht berühmt!“

Im Gegensatz zu den meisten anderen Japanern hätte Megumi es aber sein können. Das Vorsingen war bestanden, das Bett in der offiziellen Starwohnung frisch bezogen, die Verträge lagen bereit. Aber Megumi kam gerade noch rechtzeitig auf den Trichter, dass frei sein wichtiger ist als berühmt sein, und so reiste sie lieber in der Welt herum, studierte unter anderem in Stuttgart Anthroposophie, die Fantastischen Vier und die deutsche Sprache. Heute schreibt sie Lyrik und Journalismus, legt Karten und malt mit behinderten Kindern. Das muss Ayumi Hamasaki ihr erstmal nachmachen. Und montags und dienstags singt sie im Ramen Square NY den Bossa Nova (der war aber nicht allein schuld) für alle, die es hören wollen. Das sind gar nicht wenige. Die umliegenden Lokale sind beliebt in der Ramen-Szene, ein paar Obdachlose sagen auch nicht nein zu überdachten Gratissitzgelegenheiten mit Musik. Wenn einer zu deutlich schnarcht, muss Trommler Alex halt mal etwas lauter trommeln.

Ich lernte Megumi in der Kleinstadt Kunitachi kennen, mit der unverzichtbaren Chuo-Eisenbahnlinie gar nicht so weit von Tokio. Kunitachi zeichnet sich in erster Linie durch einen Bahnhofsvorplatz aus, der in der Saison ganz besonders eindrucksvoll von Kirschblüten umringt ist. Ich habe leider kein Foto gemacht, weil ich dachte: Kann ich später immer noch machen. Konnte ich aber doch nicht mehr. In zweiter Linie zeichnet sich Kunitachi dadurch aus, dass jeder entlegene Trampelpfad von einer trägen Fußgängerampel reglementiert wird, nur auf der mehrspurigen und pausenlos befahrenen Hauptstraße ist man ampellos dem Schicksal ausgeliefert. Zebrastreifen, das sollte der Reisende wissen, sind in Japan nicht Signal für Autofahrer, dass sie auf Fußgänger achten sollen, sondern umgekehrt.

Und es gibt das Jaran-jaran-goya, ein improvisiertes Mini-Café einer örtlich bekannten Biobauerin.

Hier gibt es gesunden Kuchen und starken Kaffee, und wenn einer Kopfschmerzen hat, wird eine Stimmgabel auf einen Bergkristall geschlagen. Man sollte solchen Kreisen nicht verfallen, aber ein unverbindlicher Besuch alle paar Jahre ist gestattet. Schlechten Menschen begegnet man anderswo.

Megumi (unten rechts im Bild) hatte hier im April das Erdgeschoss für eine Ausstellung ihrer Bilder und Gedichte (gratis) und eine Demonstration ihrer Kartenkünste (300 Yen, Schnäppchen).

Einige ihrer Gedichte sind in deutscher Sprache verfasst, bzw. in einem Remake der deutschen Sprache, das viel besser ist als das Original.

Megumi hat eine tolle Stimme, eine einnehmende und felsenhaft gefestigte Persönlichkeit, sie pflegt einen furchtlosen, beneidenswert poetischen Umgang mit mehreren Sprachen, und sie hat gerade soviel Macke, wie jeder angenehme Mensch braucht, auch wenn man die spezielle Macke nicht teilt. Vielleicht überlegt sie es sich ja noch mal und wird doch noch berühmt. Der Welt würde es bestimmt nicht schaden. Und Sie erinnern sich in diesem Falle bitte daran, wo sie es Sie es zuerst gelesen haben.

Ta-daaa: Noch eine gute Japanerin

Zwei weitere Künstlerinnen stellten ihre Werke im Jaran-jaran-goya aus, als mich Megumi unlängst hinein gelockt hatte. Eine traf ich an, als ich schauen wollte, was sich oberhalb dieser schmalen Treppe befindet (mit im Bild: Megumi droht mit Tee und Karten):

Satoko Kakimoto hat zwar nicht ausdrücklich gesagt, ich solle über sie schreiben, es aber auch nicht ausdrücklich untersagt. Hier ist sie mit ihren beiden Ballons:

Es handelt sich um Luftballons, umgestaltet zu Figuren, die Daruma ähneln, japanischen Glücksbringern, einem wiederkehrenden Motiv in Kakimotos Werk. Aber es gibt auch Ensembles von gefundenen und geschaffenen Objekten, die mich verwirren und mir daher gut gefallen:

Die Band, die ich ab jetzt stalken werde

Warum man zu Verfolgung jetzt Stalking sagt, weiß ich auch nicht, aber ich werde das jedenfalls machen. Die Band weiß noch nichts davon, aber sie wird es schon noch merken. Sie heißt moja, ich habe sie vergangenen Freitag als eine von drei Vorgruppen bei der Albumveröffentlichungsfeier der Band Molice (sprich: Morris) gesehen. Die kennen Sie ja, ist schließlich Tokios Gitarren-Hüpf-Band der Stunde. Die hier:

Molice selbst haben das auch ganz, ganz toll gemacht an diesem Abend, aber die zu stalken wäre mir schon jetzt zu mainstream.

Gegen die anderen beiden Vorgruppen kann man auch wenig einwenden. Hekireki, die gegen halb sieben undankbar früh (aber in Japan normal) den Abend für eine Handvoll Pünktlicher eröffneten, haben einen jungen Frontmann mit einem derart einschüchternden Charisma, dass man tut, was er sagt. Wenn der sagt mitklatschen, dann klatscht man mit, auch wenn man vereidigter Mitklatschgegner ist. Man fürchtet, er käme sonst nachher noch vorbei und haue einem eine runter. Solch eine Ausstrahlung ist selten geworden. Meistens hat man bestenfalls das Gefühl, dass ein Musiker hinterher was Gemeines über einen twittert, wenn man nicht mitklatscht. Hier könnte ein Star flügge werden, oder ein Fall für die Klapse, aber das muss sich ja nicht ausschließen. Vielleicht studiert er auch zu Ende und wird Buchhalter bei Softbank, kann man nicht wissen.

Sister Paul stellten sich heraus als ein herzlich hart rockendes Duo, das sich optisch irgendwo zwischen Lou Reed und David Bowie in ihrer Transenphase und Robert Smith jahraus, jahrein eingerichtet hat. Rechnet man das mathematisch durch, würde man wohl Visual Kei rauskriegen, kommt aber doch nicht ganz hin. Beim Drummer bin ich mir nach wie vor nicht sicher, ob unter dem Smith-Mopp ein Trommler oder eine Trommlerin steckt. Dass der Mensch mitunter mitgesungen hat, konnte die Entscheidungsfindung erstaunlich wenig beeinflussen. Beim Hauptsänger und Bassisten immerhin bin ich mir trotz zu viel Make-up und Stöckelschuhen sicher, dass es sich um einen Mann handelt. Schließlich trug er obenrum nichts als Hosenträger.

Das war also auch geschmacklich einwandfrei, aber die Band, die ich zum Stalken auserkoren habe, ist moja. Ebenfalls ein Bass/Schlagzeug-Duo, allerdings weitgehend ungeschminkt, deshalb zu erkennen als Mann (Bass und, nun ja, Gesang) und Frau (Schlagzeug). Als moja loslegten, dachte ich spontan: Gähn. Wüstes Gebolze mit Breaks, in denen geschrien wird. Tausendmal gehört, in tausend Jahren. Je nachdem, ob Musiker und Zuhörer dabei Brillen trugen oder nicht, nannte man es mal Jazz, mal Hardcore, heute aber auf jeden Fall: Gähn.

Aber was soll ich sagen? Man darf Lärm nicht nach den ersten Tönen be- bzw. verurteilen. Je wüster gebolzt wurde, desto deutlicher schälte sich ein punktgenauer, kathartischer Krach heraus, den man sich durchaus ein paar Stunden lang dümmlich-selig lächelnd anhören kann.

So lang war der Auftritt leider nicht, andere wollten ja auch noch drankommen. Aber das macht nichts, denn in dem Aktenkoffer voller Handzettel, der einem bei jedem Konzert am Empfang übergeben wird, hatte ich schon den gefunden, der mojas kommende Live-Auftritte vorskizzierte. Tokio ist groß und mit Großraum noch größer, sie werden in den kommenden Wochen noch öfter in anderen Umfeldern hier auftreten, und ich werde ihnen an den Fersen heften. Im Mai spielen sie sogar gleich bei mir um die Ecke. Dann hab ich sie da, wo ich sie haben will.

Ab und an verlassen sie die Stadt auch, aber das muss für mich kein Problem darstellen. Okinawa steht zum Beispiel auf ihrem Spielplan. Ich hatte eh vorgehabt, früher oder später eine Auszeit von meiner Auszeit zu nehmen und entweder den Berg Fuji hinaufzuwatscheln oder auf Okinawa die Füße still zu halten. Fuji hat sich schon erledigt, denn von meiner dicken Jacke ist ein Knopf abgegangen, musste ich wegschmeißen.

Die moja-CD habe ich mir am Freitag nicht gleich gekauft. Zum einen aus Rücksicht auf meine Finanzen, ich war am Vorabend kostspielig mit einem Rapper und zwei Komikerinnen versumpft (gute Geschichte, bekomme ich aber nicht mehr zusammen). Zum anderen kann ich mir die CD ja noch auf Okinawa kaufen. Außerdem ist CDs abspielen gerade so eine Sache. Als einzige Möglichkeit hätte ich einen portablen DVD-Player vom Grabbeltisch, aus dem jede CD wie ein Bootleg klingt. Er geht weder bis 11, noch hat er Dobly. Sabbatical-Monate sind keine Herrenjahre. Moja machen ohnehin nicht unbedingt Musik für Zimmerlautstärke. Obwohl meine Wohnung landesuntypisch großzügig geschnitten ist, so wird doch beim Umfang der Wände das japanische Klischee voll bedient. Wenn draußen einer mit der Plastiktüte raschelt, ist es mit der Mittagsruhe vorbei. Da will ich meiner Nachbarschaft nicht mit sowas kommen:

Bonus Track: I know the way to the Rock Joint GB

Ich habe mir ganz doll auf die Finger gebissen, um nicht noch eine lustige Glosse darüber zu schreiben, wie ich mich in Tokio auf der Suche nach einem Konzertspielort verlaufe. Bei genauerer Überlegung könnte es aber doch hilfreich für die Nutzer dieses Infodienstes sein, wenn ich die Hand wieder aus dem Mund nehme und noch mal in das Thema einsteige. Diesmal geht es in den Rock Joint GB in Kichijoji, einen aufgrund guter Plattenläden, günstiger sonstiger Läden und einer unaufdringlichen Ausländerfreundlichkeit zurecht beliebten Vorort Tokios entlang der ebenfalls zurecht beliebten Chuo-Eisenbahnlinie. Ob das GB im Namen des Rock Joint auf England oder auf die großen vier Buchstaben in der New Yorker Ausgehhistorie anspielt, weiß ich nicht. Auf Grundlage des Veranstaltungsprogramms vermute ich aber Letzteres. Mehr interessierte mich im Vorfeld, wie ich hinkomme. Leider musste es schnell gehen, deshalb habe ich etwas getan, was man keinem erzählen kann, deshalb schreibe ich es im Internet, denn das versendet sich: Ich habe nicht brav die japanische Wegbeschreibung auf der offiziellen Website im Original studiert, sondern sie in den Google-Übersetzer geworfen, um sie ratzfatz in korrektem Deutsch zu haben, damit ich schnell los kann. Dabei kam natürlich ungefähr das heraus:

Sie Bahnhof! Nord linksrechts der Parco rechtslinks ein KUHHORN! Keller 2 Stockwerkchinaküche bitte sehr!

Ich übertreibe natürlich maßlos, um Ihnen ein Lächeln abzuringen. Ganz eindeutig war das reale Ergebnis aber wirklich nicht, und ich habe mich wieder sehr verlaufen. Diesmal allerdings im Gegensatz zum letzten Mal nicht, weil ich zu einfach gedacht hatte, sondern zu kompliziert. Es ist nämlich ganz einfach. Deshalb hier für Ihre Reiseplanung die einzige Wegbeschreibung zum RJGB, die Sie jemals brauchen werden:

Verlassen Sie den Bahnhof Kichijoji durch den Center Exit (auch ‚Nordausgang‘, wenn man Kanji kann und sich profilieren möchte).

Gehen Sie LINKS in Richtung, wo es nach teuren Geschäften aussieht.

Machen Sie einen langen Hals, bis Sie das Kaufhaus Parco (PARCO PARCO PARCO) sehen. Es wird sich im Blickfeld rechts befinden, aber wahrscheinlich noch nicht unmittelbar nach Verlassen des Bahnhofs (es sei denn, Sie haben einen längeren Hals als ich).

Gehen Sie der Nase nach daran vorbei und recken Sie den Hals nach dem Kaufhaus Tokyu, schräg rechts hinter Parco.

Wenn Sie vor Tokyu stehen: Umkreisen Sie das Gebäude in beliebiger Richtung, bis Sie auf der empfundenen RÜCKSEITE des Hauses sind.

Dort ist gleich gegenüber von Tokyu der Rock Joint GB. Schild ist so groß, dass ein Blinder mit Krückstock voll dagegen knallen würde. Treppe runter und rock’n’roll.

Gern geschehen.

Jetzt mal im Ernst: Richard McGraw

Eigentlich hatte ich mir zur Regel gemacht, diesen Blog ausschließlich für Quatsch zu verwenden. Nicht für so etwas Ernsthaftes wie beispielsweise Produktempfehlungen. Weil ich aber seit neuestem ein Business Punk bin (ich breche Regeln), breche ich diese Regel heute und möchte drei Produkte ans Herz legen, und zwar das erste, zweite und dritte Album von Richard McGraw.

Einst war ich wie Sie: Jung, zornig, verwirrt, hatte noch nie etwas von Richard McGraw gehört. Bis mir ein Gentleman mit Stil und Geschmack McGraws zweites Album, Song & Void Vol. 1, überreichte. Ich war auf Anhieb angetan von den gottesfürchtigen und fleischeslustigen Folksongs und besorgte mir proaktiv auch das erste Album, Her Sacred Status, My Militant Needs, und da war es endgültig um mich geschehen. Musikalisch noch ein bisschen ökonomischer und lyrisch noch untröstlicher, gefiel mir das Debüt sogar noch ein wenig besser als der kaum zu übertreffende Nachfolger. Eine Einsame-Insel-Platte, falls mal jemand fragt.

Richard McGraw schreibt Lieder, die einen an der Gurgel auf die Knie zwingen, und dort ist es bekanntlich am Schönsten. Wem jemals irgendwas weh getan hat, der darf sich bei McGraw bedanken, dass er die Wunde wieder aufreißt, weil er seine eigenen niemals schließt, sondern sie gut in Schuss hält, indem er sie regelmäßig und sorgfältig besingt. Gerade habe ich das dritte Album, Burying the Dead, reinbekommen. Auch da sind mit ‚Hurting Heart‘, ‚Balmville Motel‘, ‚Your Lover‘ und ‚Her Town‘ mindestens vier Songs drauf, die kaum auszuhalten sind. Die anderen kann ich momentan noch hören ohne in die Knie zu gehen, aber es dauert bestimmt nicht mehr lange, ich freue mich jetzt schon drauf. Richard McGraw tut auch anderen Liedermachern gut: Billy Joels My Life reduziert er auf die nackige Essenz und zeigt uns, wie schön dieser Song als Skelett ist. Wir wollen dennoch hoffen, dass das mit den Covern nicht überhand nimmt. Mit The Faith ist noch ein Leonard-Cohen-Cover auf dem aktuellen Werk, was schon passt, aber auf einem McGraw-Album nur halbe Höhe sein kann. Oh je, habe ich gerade hintenrum behauptet, dass Billy Joel viel besser ist als Leonard Cohen? Aus der Nummer komme ich ja nie wieder raus. Wie ging noch mal Löschen? Vielleicht sollten wir mal wieder unser Credo ausrufen, hatten wir auch lange nicht mehr: Ist doch nur Internet!

Und nein, es geht mir nicht um die paar Kröten Provision. Meinetwegen kaufen Sie die heißen Scheiben bei CD Baby und genießen Sie das Rundum-Indie-Gefühl. Ohne CD Baby an unserer Seite wäre der Kampf gegen das Böse um einiges aussichtloser, das sollte man honorieren. Kaufen Sie letztendlich, wo Sie wollen, aber kaufen Sie. Denn sowas wollen wir in Zukunft nicht mehr sehen müssen: