Eigentlich habe ich immer noch keine Zeit zum Bloggen, aber ich muss kurz mal erklären, was Rassismus ist. Also: Wenn einer sagt, Roberto Blanco war (warum eigentlich ‚war‘?) „ein wunderbarer Neger“, dann ist das rassistisch. Selbst wenn derjenige meint, es nicht so gemeint zu haben.
Wenn hingegen einer sagt, er fände, dass Idris Elba nicht die Idealbesetzung für die Rolle des James Bond ist, dann ist das zunächst mal nur eine Meinung. Eine, die man als hyperempfindliche Fanperson gerne leidenschaftlich diskutieren darf. Aber bitte nicht leidenschaftlicher als die gute, alte „Connery oder Moore?“-Gewissensfrage.Archiv des Autors: Andreas Neuenkirchen
Was alles los ist, wenn hier nichts los ist
Davon auszugehen, dass sich gleich jemand Gedanken oder gar Sorgen macht, nur weil einer mal nicht bloggt, hat ja etwas leicht Anmaßendes. Ich möchte mir auf keinen Fall etwas anmaßen. Andererseits wäre es auch traurig davon auszugehen, dass das alles eh gar niemanden interessiert. Deshalb möchte ich mich heute auf den eigentlich gar nicht so schmalen Grat zwischen Selbstüberschätzung und Selbstverleugnung begeben und diejenigen beruhigen, die sich eine oder mehrere der folgenden Fragen gestellt haben:
- Ist ihm etwas zugestoßen?
- Hat er sich in einem komischen Land eine unkomische Krankheit geholt?
- Hat er sich eine von diesen Schreibblockaden eingefangen, die gerade grassieren?
- Oder hat der feine Herr etwa nach nur sechs kurzen Jahren schon wieder das Interesse an diesem Blog verloren und möchte jetzt lieber ein Pony?
Mit dem Beagle-Bus ins Natto-Land [Kaiho-Kolumne]
In der aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Ichi, ni – g‘suffa zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung.
*** Zwei der Initiationsriten, mit denen Außenstehenden die höheren Weihen der japanischen Lebensweise erfahren, sind Bus fahren und Natto essen. Möglichst nicht beides auf einmal, das wäre unschicklich. Schon beides für sich ist mit gewissen Unsicherheiten verbunden. Netz- und Fahrpläne sowie das Bezahlsystem von Buslinien sind weniger selbsterklärend als die Äquivalenzen im Schienenverkehr, das kann schon abschrecken. Und wie kann man einer Abschreckung am effektivsten entgegenwirken? Mit unwiderstehlicher Niedlichkeit! Mir nahm ein Beagle die Angst vorm Bus. Es handelte sich um das gezeichnete Maskottchen der lokalen Buslinie im Tokioter Bezirk Bunkyo, in dem ich eine Zeit lang wohnte. Der Bus wurde freilich Beagle-Bus bzw. Biguru-Basu genannt. Der freundliche Hund verschönte die Haltestellen und die blauen Sitzpolster der Fahrzeuge, auf denen er in verschiedenen Posen, bei verschiedenen Aktivitäten und in unterschiedlichen Gemütsverfassungen abgebildet war. Mal hatte er eine kleine Beagle-Freundin dabei, mal weinte er ganz alleine dicke Tränen. Vielleicht hatte ihn seine kleine Freundin da gerade verlassen. Es war bestimmt nur vorübergehend. Mir jedenfalls gab der Beagle Sicherheit: mit einem so süßen Hund an meiner Seite kann ich mich gar nicht verfahren. Und falls doch, wird es schon nicht so schlimm sein. Stattdessen wird ein kleines Abenteuer draus, mit klassischer Besetzung – ein Junge und sein Hund. Maskottchen machen eben einiges leichter, auch im lukullischen Bereich. An einer Baustellenfassade in Schwabing las ich unlängst ein von Narrenhänden hinterlassenes Graffito: „NO NATO!“ Da ich gedanklich immer ein bisschen in Japan bin, hatte ich mich zuerst verlesen und meinte, dort stünde: „NO NATTO!“ Ich dachte: „Ach, ich bin auch kein großer Freund der fermentierten Sojabohnen, aber man kann sich dran gewöhnen. Kein Grund, seine Abneigung auf Öffentliches zu schmieren.“ Tatsächlich verlief meine erste Verköstigung der klebrigen Spezialität, die in Japan eine von ca. 2 Millionen Nationalspeisen ist und als ungemein (und unrealistisch) gesund gilt, genauso, wie Japaner es sich wünschen: ich keuchte und ächzte, ich konnte mein Tellerchen nicht aufessen; dabei bin ich wirklich kein komischer Esser. Solche Reaktionen freuen die Einheimischen, denn sie sehen sich und ihre Nationalgerichte gerne als etwas ganz Besonderes, so wie alle anderen Menschen auf der Erde auch. Nach weiteren Begegnungen mit Natto machte ich meinen Frieden damit, obwohl ich weiterhin der Auffassung bin, dass die, die behaupten, Natto regelrecht zu mögen, schlichtweg lügen. Die Akklimatisierung meines Gaumens brauchte ein paar Jahre, so lange können japanische Natto-Produzenten jedoch nicht warten. Es gibt eine Natto-Krise. Die Konsumenten brechen weg, weil die Reiskonsumenten wegbrechen (nur mit Reis ist das Zeug nämlich genießbar, wobei ‚genießbar‘ zu viel gesagt ist). Deshalb ist man bemüht, ins Ausland zu expandieren. Insbesondere Frankreich hat man im Visier, denn in Frankreich gelten schon andere verdorbene Lebensmittel als Delikatesse (so wird es nicht wörtlich ausgedrückt, aber sinngemäß). Für die Eroberung des deutschen Markt hätte ich gleich einen Tipp: Da der Deutschen Reis das Brot ist, könnte man die Bohnen mit Billigschokolade vergären und als Brotaufstrich Nattella ins Regal bringen. Um den Erfolg im Ausland zu befeuern, hat man sich zwei Strategien überlegt. Die eine ist eine neue Rezeptur, die Natto weniger klebrig macht. (Wer mal vom Natto genascht hat, mag einwenden, dass die Klebrigkeit eigentlich nicht das grundlegendste Problem von Natto ist.) Die zweite Strategie ist natürlich: ein Maskottchen. Glücklicherweise gab es bereits eines, das den Natto-Kreuzzug bereitwillig auf sich genommen hat. Nebaaru-kun, ein unförmiges Häufchen aus der Präfektur Ibaraki, macht gerne Natto-affine Wortspiele (neba heißt klebrig) und ist gerade drauf und dran, weit über Ibaraki hinaus ein Star der Maskottchen-Szene zu werden.Gebratene Ente unter anonymen Genitalien [Kaiho-Kolumne]
In der aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Mit dem Beagle-Bus ins Natto-Land zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung.
*** Über Weihnachten letzten Jahres war Megumi Igarashi auf Bewährung draußen. Zuvor war sie zweimal in relativ kurzen Abständen verhaftet worden. Die Taten, die ihr zur Last gelegt werden, bestreitet sie nicht. Sie bestreitet lediglich, dass es sich bei diesen Taten um Verbrechen handelt. Sie wollte doch nur ein Kajak. Sie wollte es noch nicht mal stehlen, sondern es selbst bauen. Auch das kostet Geld, deshalb startete sie eine Crowdfunding-Aktion, sie sammelte also Projektspenden im Austausch gegen kleine Geschenke und Gefälligkeiten. Eine dieser Gefälligkeiten hatte durchaus mit ihrem Intimbereich zu tun, war aber weniger intim, als man glauben könnte: War die Spende groß genug, schickte sie dem Spender Koordinaten ihres Geschlechtsteils, zur Reproduktion über einen 3D-Drucker. Eine niedliche Idee, eigentlich. Fand die japanische Justiz aber nicht. Igarashi wurde wegen der Verbreitung obszönen Materials im Juli zum ersten Mal verhaftet. Erst nach sechs Tagen wurde sie vorübergehend freigelassen, nachdem man zu der Einsicht gekommen war, es bestehe weder Flucht- noch Verdunklungsgefahr. Schließlich steht Igarashis Vagina im Zentrum all ihrer Arbeit (dreimal darf man raten, welche Form sie sich für ihr Kajak wünschte). Da kann man nicht so einfach nach dem alten Spießerspruch verfahren: Ist das Kunst, oder kann das weg?Lob der Latte-Macchiato-Mütter und Craft-Beer-Väter
Optimistisch hatte ich geglaubt, das larmoyante Herumhacken auf Menschen, für die es im Leben etwas mehr sein darf als Heim, Herd, Sack, Asche und Industrieplörre, würde den larmoyanten Herumhackern selbst irgendwann langweilig werden. Dem scheint leider nicht so zu sein, deshalb muss ich jetzt doch mal was loswerden: ein Hoch auf die Latte-Macchiato-Mütter, überall! Mögen sie mit ihrer Anmut weiterhin die Stadtbilder verschönern und mit ihren Designerkinderwagen (Bayern: Designerkinderwägen) noch so manchem frühvergreisten Griesgram den Weg verstellen. Und ein Hoch auf ihre Partner, die Craft-Beer-Väter! Auf dass sie sich niemals einreden lassen, ihr Bier sei gar kein echtes Männer-Bier, nur weil mehr Geschmack, mehr Alkohol und kein Hopfenextrakt drin ist.
Wir Latte-Macchiato-Mütter (Craft-Beer-Väter mitgemeint) wurden großgezogen von einer Generation von Jacobs-Krönung-Müttern und Haake-Beck-Pils-Vätern (Bayern: Augustiner-Bräu-Vätern). Wir lieben sie, doch das bedeutet nicht, dass wir alles genauso machen müssen wie sie. Das Herumhacken auf unserem Lebenswandel hat etwas von der Runter-von-meinem-Rasen-Mentalität der Generation vor unserer Elterngeneration, die an dieser Stelle aus dem Jenseits jault: „Jacobs Krönung und Haake Beck Pils? Luxus! Wir hatten damals nur die Spucke der Besatzer zu trinken und mussten uns vorstellen, es wäre Jacobs Krönung und Haake Beck Pils! Und aus uns sind trotzdem zufriedene, tolerante, lebenslustige alte Herrschaften geworden! Äh, Moment mal …“ Wat de Buur nich kennt, dat frett he nich. Die Ablehnung des relativ modernen Genusswandels erinnert auch an das verzweifelte Festklammern an der eigenen Jugend. Alles soll genauso bleiben, wie es immer war, und die Musik von heute ist ja nur noch Boingboingboing, und wer Bier trinkt, das es letztes Jahr noch nicht gab, ist ein Mädchen. Was schön und neu ist, muss schnell mit der Gentrifizierungskeule alt und hässlich geschlagen werden. Speziell die Kritik an den Latte-Macchiato-Müttern geht von der antifeministischen Uralthaltung aus, Frauen müssten mit Einsetzen der Mutterschaft das Frausein einstellen. Sie dürften sich fortan nur noch in den eigenen vier Wänden aufhalten und im Trainingsanzug Jacobs Krönung schlürfen. Andere Interessen als Kinder, Kinder, Kinder sind Zeichen von Selbstsucht und stören da draußen die Greise zwischen 30 und 50, die gerade auf dem Weg in ihre Siff- und Suff-Kneipe sind, in der seit dem 20. Jahrhundert nicht mehr geputzt wurde, was sie so gemütlich und ihre Kundschaft so gut gelaunt macht. Man verwechsle diese Verteidigung ganz normaler Menschen nicht mit Hipster-Verteidigung. Selbstverständlich kann einem das Klein-klein um die neuesten Bier- und Kaffeemarotten auf den Senkel gehen. Vor ein paar Jahren wurde einem noch die Freundschaft gekündigt (richtige Freundschaft, nicht Facebook-Freundschaft), wenn man mal unachtsam ausgeplaudert hatte, man würde zu Hause heimlich Filterkaffee trinken. Die Musik hörte schlagartig auf, alle Scheinwerfer und Blicke waren auf einen gerichtet, und eh man sich versah, saß man ganz alleine da und das Licht ging aus. Inzwischen ist Filterkaffee wieder der letzte Schrei. Natürlich nur mit dem RICHTIGEN Filter und der RICHTIGEN Filterkaffeemaschine. Dieser ganze Kaffeetechnikfetischismus ist natürlich papperlapapp. Ich verrate schnell, was man für guten Kaffee braucht: guten Kaffee. Wenn es sich einrichten lässt noch gutes Wasser (ist in München leider schwieriger zu bekommen als guter Kaffee). Das langt. Dann ist es relativ egal, ob die Maschine drum herum 40 oder 400 Euro gekostet hat (tut mir leid, vielleicht haben Sie den Bon ja noch). Im Großen und Ganzen ist es aber begrüßenswert, dass immer mehr Menschen eher bewusst genießen als gewohnheitsmäßig kippen. Zum Wohle.The Making of Roppongi Ripper
Gerne möchte ich ein paar Schnurren von der Entstehung meines aktuellen Romans Roppongi Ripper teilen. Ehe ich allerdings wieder großspurig eine Serie anfange, an der ich dann doch irgendwann das Interesse verliere, wenn draußen die Sonne oder in seinem Bettchen das Kindlein lacht, mache ich diesmal alles in einem Abwasch.
Das Hauptquartier der Tokioter Stadtpolizei in Kasumigaseki, wo Inspector Yuka Sato weiterhin arbeitet, wurde bereits anlässlich des Erscheinen des Vorgängerbandes Yoyogi Park ausführlich abgehandelt. In Roppongi Ripper wird ihr Partner Shun Nakashima unter mauscheligen Umständen in das vielbeschäftigte Polizeirevier Azabu in Roppongi versetzt. Es ist Folgendes:Endlich: Sex bei Houellebecq
Kennen Sie den noch?
Eine Geschichte zweier Kuchen [Kaiho-Kolumne]
In der aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Gebratene Ente unter anonymen Genitalien zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung. (Ja, ich habe zum Thema Esskastanienpüreegebäck in diesem Blog schon einmal gearbeitet, aber es ist ja auch ein Thema, dass uns alle irgendwann betreffen kann, deshalb lässt es sich gar nicht oft genug beleuchten. Dass sich die Schilderungen gleicher Ereignisse meines Privatlebens von Text zu Text ein wenig unterscheiden, liegt an gelebter künstlerischer Freiheit und Lügenpresse.)
*** Will man in Deutschland Japanern begegnen, ist eine der sichersten Anlaufstellen die Baumkuchenbäckerei, die es bestimmt in jedem Ort gibt, der auf der Romantikstrecke der führenden japanischen Tourismusunternehmen steht. Ich bin von Haus aus kein Kuchenexperte, deshalb hatte ich keine größeren Gewissensbisse, dass ich den Baumkuchen allenfalls dem Namen nach kannte, bis ich mit einer Japanerin liiert war. Diese Japanerin wiederum war schwer schockiert von meiner Unkenntnis, hielt sie doch Baumkuchen für so stark mit der deutschen Volksseele verbunden wie Volkswagen und Sauerkraut. Als sie zum ersten Mal die Baumkuchenrepublik Deutschland bereiste, war sie ausgestattet mit einem Reiseführer, der gefüllt war mit Abbildungen von Lebensmitteln, von Weißwurst bis Happy Hippo, mit Kontrollkästchen daneben, nach Verzehr anzukreuzen. Beim Abhaken des Baumkuchens in der entsprechenden Spezialkonditorei fühlte ich mich mehr als Tourist als sie, waren die japanischen Kunden doch stark in der Überzahl. Die Beliebtheit des Baumkuchens in Japan ist vermutlich weniger romantisch oder lukullisch begründet, als man annehmen möchte. Durch seine lange Haltbarkeit lässt er sich halt auch ohne Blitzversand in fernere Regionen exportieren und muss dort nach Erhalt nicht sofort blitzverzerrt werden. Inzwischen sind so viele Baumkuchen nach Japan ausgewandert, dass sie dort ihre ganz eigene Kultur entwickelt haben. Es ist eine Kultur, die sich in erster Linie im Untergrund abspielt; nämlich in den Glamour-Gourmet-Untergeschossen großstädtischer Kaufhäuser. Dort lässt sich sehen und kosten, dass die japanischen Baumkuchenbäcker mit dem deutschen Gebäck längst getan haben, was japanische Innovatoren gerne mit Importen tun: nicht einfach nur so gut imitieren, dass es so gut wie gar nicht mehr vom Original zu unterscheiden ist, sondern derart weiterentwickeln, dass das Original kaum noch zu erkennen ist. So sei dem japanischen Baumkuchen-Enthusiasten angeraten, vor dem Deutschlandbesuch die Erwartungen etwas herunterzuschrauben. Hat man hier nur die Wahl zwischen Baumkuchen mit Baumkuchengeschmack als ganzer Stumpf, als in Scheiben geschnittener Stumpf oder als in mundgerechte Happen gehackter Stumpf, so gibt es neben der größeren Formenvielfalt im Fernen Osten auch eine größere Geschmacksvielfalt, zum Beispiel Baumkuchen mit Tomaten- oder Spinatgeschmack. Und selbstverständlich ist das alles übersichtlicher portioniert. Eine einzelne deutsche Baumkuchenportion könnte schließlich einer ganzen japanischen Familie als Tagesproviant dienen.Wie mir einmal Steve Strange kein Autogramm gab und ich mit Nazi-Jürgen zu entarteter Musik tanzte
Zu den großen Enttäuschungen meiner Kindheit gehört, dass Steve Strange, der Sänger der Band Visage, keine Notiz von mir nahm. Umgekehrt sah das ganz anders aus. Einmal hatte ich genug Geld gespart, um einen selbstadressierten, ausreichend frankierten Briefumschlag an die deutsche Vertretung der Plattenfirma von Visage zu schicken, mit der Bitte um ein Autogramm, die Adresse hatte ich aus der Jugendillustrierten Bravo. Wochen, die sich wie Monate anfühlten, später kam tatsächlich Post, tatsächlich mit einer Autogrammkarte von Steve Strange. Sozusagen. Ich mag heute nicht das cleverste Bürschchen sein und war es damals erst recht nicht, doch schon damals durchschaute ich, dass es sich um lieblosen Schmu handelte. Die Unterschrift war in einem vollkommen unnatürlichen Blau auf das Bild gedruckt, ebenso wenig handgeschrieben wie das Bild handgemalt war. Es handelte sich noch nicht mal um ein anständiges Fotos, sondern um eine Reproduktion des Covermotivs der Single Fade to Grey, des größten Hits der Band (nicht des einzigen, fühle ich mich noch heute genötigt zu ergänzen, um die Gruppe vor Spöttern zu verteidigen).
Die verschuldeten Idole von Galapagos [Kaiho-Kolumne]
In der aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Eine Geschichte zweier Kuchen zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung.
*** Erfinden Japaner etwas, was in Japan ganz wunderbar gedeiht, aber im Rest der Welt keinerlei Überlebenschancen hat, spricht man vom Galapagos-Syndrom, in Anlehnung an die gleichnamige Inselgruppe mit ihrem weltweit einzigartigen Tierleben und Pflanzenvorkommen. Meistens sind damit international nicht kompatible und schwer adaptierbare Technologien gemeint. Es fällt allerdings nicht schwer, den Begriff auf kulturelle und wirtschaftliche Eigenheiten Japans auszuweiten. Zum Beispiel auf den Musikmarkt. Man stelle es sich einmal vor: Japaner kaufen CDs. Deutsche übrigens auch, rund 70 Prozent der bezahlten Musik hierzulande wird weiterhin auf Polycarbonat ausgeliefert. In Japan sind die häufig totgesagten Datenträger jedoch noch beliebter: sie machen 85 Prozent des Musikmarktes aus – mit steigender Tendenz, denn der Downloadmarkt ist mittlerweile rückläufig. Ein krasser Gegensatz etwa zu den USA oder Schweden, in denen Compact Discs nur mehr 40 beziehungsweise 20 Prozent der Verkäufe ausmachen. Japans Alleinstellung hat zwei Gründe: Sammelleidenschaft und AKB48. Egal, ob das dritte Best-of-Album einer vor zwei Monaten gegründeten Boyband oder die hundertste Neuveröffentlichung von Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band: alles wird schön verpackt, in Übergröße, mit Glitzerschmuck, Bilderbuch und Bonus-DVD, nicht selten bekommt man beim Kauf an der Kasse noch ein Poster in die Tüte und beim Verlassen des Warenhauses einen Button in die Hand gedrückt. Es gibt fast mehr anzuschauen als anzuhören. Das Prinzip solcher Sonderausgaben ist zwar in Deutschland nicht unbekannt, hier wirken sie jedoch häufig so liebevoll gestaltet, als hätte sie sich ein berufsmüder Vermarkter noch schnell zwei Minuten vor dem Wochenende ausgedacht. In Japan wirken sie so, als hätte eine Gruppe von Enthusiasten genau das Produkt entworfen, das sie selbst kaufen würden. Es funktioniert, ich spüre es am eigenen Leib (in erster Linie durch den leichter zu tragenden Geldbeutel). Schnürt unsere japanische Verwandt- und Bekanntschaft Carepakete, lässt meine Frau sich mit Vorliebe Lebensmittel einpacken. Ich mir CDs. Japans erfolgreichste Mädchenformation AKB48, nach letzter Zählung mit 79 Köpfen weit über das im Namen festgelegte 48er-Limit hinausgeschossen, legt auf den allgemeinen Verpackungswahn noch einen drauf. Ihre CDs beinhalten nicht nur die üblichen Sammlerstücke zum Anschauen, Anheften und Aufkleben, sondern auch Tickets für Auftritte und Stimmzettel zur Wahl des beliebtesten AKB-Mädchens, die zweimal jährlich in der altehrwürdigen Kampfsportarena Nippon Budokan ausgetragen und vom Fernsehen übertragen wird. Je mehr Einfluss man auf die Wahl nehmen möchte, desto mehr Stimmzettel sind vonnöten. Nicht wenige kaufen für diesen Zweck gerne mehr CDs, als für den reinen Musikgenuss genügen würden. Fraglich, ob sich dieses Konzept international adaptieren ließe und Fans dieselbe CD mehrfach kauften, um sicherzugehen, dass ihr Favorit die Wahl zum süßesten Boy von Sportfreunde Stiller gewinnt.