Von dem Missverständnis, Fernsehen sei das neue Lesen; und von dem Irrtum, Internet sei das neue Fernsehen [nach kräftigem Durchatmen und einem langen, heißen Wohlfühlbad stark gekürzte Version]

Seit geraumer Zeit hört man es nun aus dem Blätterwald rauschen (ich nenne ihn noch immer so, weil Pixelwald so doof klingt): „Diese modernen, anspruchsvollen amerikanischen Fernsehserien, die sind … die sind …, mein lieber Scholli, die sind … DER NEUE ROMAN!“

Schon lange war mir angesichts dieser Unsinnsbehauptung nach einem #Aufschrei, aber ich halte halt nichts von Gebrüll. Doch jetzt kann ich nicht länger schweigen. Der letzte Tropfen für das Fass in meinem Kopf war eine Liste in einer Unsinnszeitung, welche die tollsten Schmöker für den Sommer benannte. Darunter auch der New-York-Schmöker City on Fire von Garth Risk Hallberg. Viel wurde über dieses Buch geschrieben, in 46 Sprachen und mehr. Und das höchste Lob, das dem Listenmacher in der Unsinnszeitung dazu einfiel, war, dass der Roman ihn irgendwie an eine HBO-Serie erinnere.

(Mal eben am Rande: Wann ist dieser vom Film schon länger bekannte Schwachsinn, englische Titel nicht mehr mitzuübersetzen, eigentlich im großen Stil auf den Buchmarkt übergeschwappt? Girl on a Train? Oder schon bei About a Boy? Gone Girl? Werden vor allem Titel von Girl-Books nicht mehr translated? Und werden bald auch spanische, chinesische, isländische Titel nicht mehr übersetzt? Oder gleich ins Englische, wie bei Filmtiteln längst Usus?)

Ich habe das City-on-Fire-Buch wohlgemerkt nicht gelesen, ich werde das vielleicht in fünf Jahren nachholen. Man hört ja nicht nur Gutes. Bei stark gehypeten Büchern, die mir irgendwie verdächtig vorkommen, wende ich seit einiger Zeit die 5-Jahre-Regel an: Wenn man in fünf Jahren noch vom Buch spricht, versuche ich es mal. Mir ist meine Zeit auf Erden zu kostbar, um sie mit jedem x-beliebigen Sommerschmöker totzuschlagen. Ich kannte mal einen, der lebte in der ständigen Angst, versehentlich mal ein Buch zu lesen, das nicht Epoche macht. Der las sicherheitshalber nur Bücher von Autoren, die schon seit mehreren Jahrzehnten tot waren. So lange kann ich häufig nicht warten. Manche Schriftsteller leben ja auch gegen alle Klischees recht gesund. Und selbst wenn welche doch standesgemäß leben (eine Flasche Rotwein statt Frühstück, und danach wird gesoffen), scheinen Schriftsteller eine überdurchschnittlich hohe Lebenserwartung zu haben, so nicht gerade etwas Dramatisches dazwischenkommt. Liegt vielleicht daran, dass ihrem Berufsalltag die Aspekte abgehen, die in den Alltagen anderer Berufe Magengeschwüre und Schlimmeres verursachen.

Mir geht es also nicht um dieses spezielle Buch, sondern um die Traurigkeit des genannten Komplimentes, das, glaube ich, symptomatisch ist: Da hat jemand, wenn er Literatur gegenübersteht, keinen anderen Referenzrahmen als die DVD-Komplettboxen in seinem Ikea-Regal. Und der fühlt sich dabei wahrscheinlich auch noch clever und modern. Man muss ihm und seinen Kumpels im Geiste leider sagen: Wer findet, dass Fernsehserien und Romane vergleichbar oder gar austauschbar seien, versteht weder etwas vom einen, noch vom anderen. Der hat keine Ahnung, dass es in der Literatur nicht nur um Storys geht, sondern auch um Sprache, unter anderem. Und dass es in Romanen Sprache nicht nur in Dialogen gibt. Wer nur liest, weil er sich vom Plot peitschen lässt, der darf sich gerne vom Roman abwenden, denn er hat eh vergebens gelesen. Der Plot ist das banalste Element eines guten Romans. Die blinde Plothysterie ist übrigens auch schuld daran, dass viele junge und greise Menschen nur noch so über Erzählungen sprechen können:

„James Bonds neuer Auftrag führt ihn in die Karibik.“
„Ey, hättest du nicht Spoiler-Warnung sagen können?!?!?!“

Gute Literatur ist nicht an Plot-Twists gelegen, sondern an überzeugenden Figuren und wertigen Themen. Figurenentwicklung ist etwas, das in Fernsehserien nicht stattfindet, gerade in offiziell anspruchsvollen nicht. Tony Soprano ist in der letzten Folge derselbe wie in der ersten. Er und andere seines Schlages mögen zwischendurch mal aus der Rolle ausbrechen. Doch sie alle haben einen Reset-Knopf, der jedes Mal gedrückt wird, bevor die Zuschauer Gefahr laufen, sich mit etwas neuem auseinandersetzen zu müssen. Die einzige nennenswerte Ausnahme scheint mir Buffy im Bann der Dämonen. Bis zum Ende der Serie hat wirklich fast jede Figur mindestens eine entscheidende Wandlung mit bleibenden Resultaten durchgemacht. Das scheint mir das Erstaunlichste an dieser ohnehin sehr erstaunlichen Serie. Viel erstaunlicher als die sonst gern positiv hervorgehobenen flotten Sprüche äh geistreichen Dialoge oder die gelegentlichen erzählerischen Experimente.

Fernsehserien stellen also keine Gefährdung für den Roman dar. Für den Kinofilm sind sie es, entgegen beliebter Zeitgeistmeinungen, ebenfalls nicht. Selbst wenn ihre Anmutung ein wenig ‚filmischer‘ geworden ist, fühlt sie sich nach wie vor in erster Linie dem Innenraum und der Großaufnahme verpflichtet. Das verdeutlicht ein langfristiger Selbstversuch in meinem Haushalt. Nach der Geburt des Kindes sahen seine Mutter und ich eine gescheite Weile lang ausschließlich einzelne Fernsehserienfolgen, weil uns für Längeres mal die Zeit, mal die Wachsamkeit fehlte. Als wir uns eines Abends doch mal wieder für einen fürs Kino produzierten Spielfilm entschieden hatten, war es eine ästhetische Offenbarung. Fernsehserien sind heute visuell bestimmt interessanter, als sie es vor 40 Jahren freitags um 20 Uhr 15 im ZDF waren. Deshalb war der empfundene Unterschied zwischen Fernsehen und Film keineswegs so, als würde man nach Jahren in der Besenkammer endlich auf ein großes, freies Feld treten. Gleichwohl war es so, als trete man nach Monaten im Wohnzimmer endlich mal wieder hinaus auf die Straße mit all ihren Möglichkeiten. Wir hingen als Fernsehenthusiasten ja selbst dem Irrglauben an, dass Fernseh- oder Kinoproduktion heute schauwertig keinen großen Unterschied mehr macht. Der Unterschied ist allerdings nach wie vor gewaltig genug. Wer es nicht glaubt, kann den Test mit einfachen Mitteln zu Hause selbst durchführen. Erst mal ein Kind machen (notfalls adoptieren, es muss aber so klein wie möglich sein), der Rest ergibt sich von alleine.

„Aber die Geschichten! Die Geschichten, vertrackt und trickreich über mehrere Staffeln erzählt, die sind doch viel komplexer als in Spielfilmen!“ Nein, sind sie nicht. Serien dehnen, verdünnen und repetieren ihre Geschichten lediglich so lange, bis der Einstellungsbescheid kommt. Dann muss plötzlich alles ganz schnell sinnvoll zu Ende gehen. Das tut es in den seltensten Fällen, weil Geschichten Fernsehautoren eben nicht so wichtig sind, wie ihnen oft von wohlmeinenden (und nicht sehr aufmerksamen) Zuschauern unterstellt wird. Heute rümpft man gern die Nase über Opas wöchentliche Fernsehserie, in denen verlässlich in 45 Minuten ein Mörder gefasst, ein Monster getötet, ein Konflikt gelöst wurde, und nächste Woche dann wieder von vorne. Tatsächlich ist diese Form des Geschichtenerzählens weitaus anspruchsvoller als das unverbindliche Strecken und Verstricken von Handlungssträngen, bis ohnehin jeder die Übersicht über jedes einzelne Detail verloren hat. In Opas Fernsehen musste jede Woche aufs Neue eine Geschichte mit Hand und Fuß erzählt werden, und die musste glaubhaft machen, dass es sich nicht um denselben Mörder, dasselbe Monster, denselben Konflikt wie letzte Woche handelte. Wer etwas von Literatur versteht (also anders als der gemeine Fernsehkritiker oder Sommerschmökerlistenanleger), der weiß, dass die Kurzgeschichte die Königsdisziplin ist. Roman kann jeder. Ein Roman darf mal durchhängen, sich vorübergehend verlaufen. Die Kurzgeschichte hingegen kann sich keine einzige Schwachstelle, kein falsches Wort leisten. Zugegeben, der Vergleich hinkt ein wenig, denn Literatur und Fernsehen sind ja eben nicht dasselbe, wie ich schon sagte, dumdidum.

Am liebsten ist mir heute das offiziell mittelmäßige Fernsehen. Also Serien mit maskierten und kostümierten Protagonisten, die man bei entsprechender Sozialisation aus Comicheften kennt. Ich würde gerne mehr Comics lesen, doch geht es nicht. Ich habe es verlernt, Bild und Text gleichzeitig die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken, und das sollte der ernsthafte Comicleser schon tun. Ich weiß nicht, ob ich ein neues Gehirn oder eine neue Brille brauche, irgendwas funktioniert da jedenfalls nicht mehr richtig. Film und Fernsehen sind zum Glück weniger anspruchsvolle Medien als das Comicheft. Sie sind so leicht konsumierbar, dass sogar ich es schaffe. Beim offiziell anspruchsvollen Fernsehen war schon seit Jahren nichts mehr dabei, was mich ähnlich dauerhaft bei der Stange halten konnte wie Grüner Pfeil und Roter Blitz und alle ihre Freunde.

Von Gotham allerdings musste ich mich relativ schweren Herzens trennen. Es stellte sich heraus, dass ich unnötig explizite Gewaltdarstellung (nicht zu verwechseln mit notwendig expliziter Gewaltdarstellung) und hysterisches Dauerfeixen nicht mehr so leichtfertig verknuse wie mit 16. Wer konnte das ahnen? Da bleibe ich lieber beim Original aus den 60ern. Genauso albern, aber weniger zynisch.

Mir ist bewusst, dass die genannten Serien keine große Kunst sind. Doch sind sie goldenes Handwerk, und das ist nicht nichts. Handwerk kann nur dann wirklich golden sein, wenn es mit Liebe verrichtet wird, und Liebe ist doch schön. Im Zweifel ist mir ein mit Liebe geschaffenes Werk lieber als ein mit kühlem Intellekt berechnetes. Im Idealfall natürlich gerne beides auf einmal. Aber wann bekommt man im Leben schon den Idealfall?

Mit dem, was die anderen Kinder in letzter Zeit offiziell anspruchsvoll fanden, hatte ich, wie gesagt, so meine Probleme. Breaking Bad habe ich ausgelassen, weil ich Drogenhändler so doof finde. Game of Thrones hätte ich vor dem Sehen gern gelesen, und die fünfjährige Probezeit hat das erste Buch der Reihe ja auch bestanden. Dann allerdings fängt man an zu lesen, und die Leute und Ortschaften haben alle so komische Namen, dass man sofort wieder 14 Jahre alt ist und im Rollenspielkeller sitzt und denkt: Mist – Paladin der siebzehnten Stufe, aber Mathe nicht gemacht. Hoffentlich lässt Nicky mich abschreiben. So was kann ich nicht lesen, da bekomme ich Beklemmungen. Es liegt nicht am Stoff, es liegt an mir.

Egal ob herrlich mittelmäßig oder aufdringlich anspruchsvoll – das beste Fernsehen wird heute von Fernsehsendern produziert. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es klingt. Eine ähnlich oft gehörte Unsinnsbehauptung wie die, dass das Fernsehen der neue Roman sei, ist die, dass Opas Fernsehsender einpacken können, weil die besten Serien jetzt von Internetfirmen produziert würden. Ich weiß nicht von welchen, in meinem Internet laufen sie wohl nicht. Dass, was ich da an Streaming-Produktionen sehe, kann für richtiges Fernsehen keine Konkurrenz sein. Die unsympathischen und langweiligen Menschen von Transparent hätte ich gerne nach zehn Minuten ausgeschaltet, aber meine Frau fand, wir sollten ihnen zwanzig geben. Die ersten drei Minuten von Lady Dynamite gehören zum unlustigsten, unoriginellsten, stümperhaftesten, hochnotpeinlichsten, was ich jemals gesehen habe. Da ich es zu meinem und ihrem Glück ohne meine geduldige Frau gesehen habe, kann ich den Rest nicht beurteilen. Daredevil und Bosch … ach, wer bin ich denn, dass ich jetzt jede nichtsehenswerte Fernsehserienimitation aus dem Internet mit Gift und Galle aufwerte? Die einzige, die ich dauerhaft gerne sehe, ist House of Cards. Und das liegt nun nicht daran, dass sie so atemraubend und anspruchsvoll wäre, sondern dass sie so ein angenehmes Hintergrundsummen für den Feierabend macht. Es passieren ungefähr zwei aufregende Dinge pro Staffel, das reicht. Das Leben ist schon aufregend genug.

Selbstverständlich warte ich noch nicht sehnsuchtsvoll auf die nächste Staffel von House of Cards, denn ich bin mit der letzten längst nicht durch. Das sogenannte Koma-Gucken (dt.: Binge-Watching) ist in meinem Haushalt streng untersagt. Mehr als eine Folge pro Tag ist nicht gut für die Konzentration, und eine ungeheure Respektlosigkeit gegenüber denen, die sich viel Mühe gegeben haben, jede Folge so schön wie möglich hinzukriegen.

So, was habe ich noch auf dem Zettel?

Aha, irgendwas mit E-Books, und etwas über die Popeligkeit des demonstrativen Garnichtfernsehens. Das lass ich jetzt mal weg, Sie haben ja bestimmt auch noch was vor.

Servus, mach’s guad, und vielen Dank für den Steckerlfisch

Ich ziehe bald um, die Sentimentalität setzt bereits ein. Zwischen Überseekisten, Exportdokumentation und Inventarlisten bleibt derweil kaum Gelegenheit für ausgiebige Introspektion. Vielleicht schreibe ich mal ein Buch über München, wenn ich in Tokio bin, ging umgekehrt schließlich auch. Heute möchte ich im Schnelldurchlauf schon mal rekapitulieren, was eigentlich in den letzten rund 18 Jahren so passiert ist.

Als sich in Bremen 1998 zum ersten Mal jemand am Telefon mit „Grüß Gott!“ bei mir meldete, hielt ich das für einen Scherzanruf. Ich kannte diesen Ausdruck nur aus Heimatfilmen und wusste wirklich nicht, dass er noch irgendwo im aktiven Gebrauch war. Außerdem hielt ich Bayern insgesamt für rechtsradikal (CSU) und München für die Hauptstadt der Rechtsradikalen (dass die bayrische Landeshauptstadt die sicherste Sozi-Hochburg der Republik ist, weiß außerhalb Bayerns leider so gut wie niemand, zu mächtig ist die finstere Reputation des Umlandes). Trotzdem hatte ich mich dort für einen Job beworben, weil ich an der Uni die Übersicht verloren hatte und nicht glaubte, dass ich da noch mal hingehen würde. Und weil ich meinte, ich könnte mich an einem fernen Ort ganz neu erfinden (Spoiler: das ging nicht, das geht nie. Es liegt nicht in der Natur des Menschen, sich selbst jemals neu zu erfinden.) Die Grüß-Gott-Stimme am Telefon teilte mir mit, man habe meine Bewerbung erhalten und würde mich gerne zum Vorstellungsgespräch einladen.

Das Vorstellungsgespräch war die reinste Katastrophe. Es ging um eine Redakteursstelle bei einer Illustrierten für Computerspiele. Ich besaß erst seit ungefähr einem Jahr einen Computer, und die einzigen Spiele, die ich kannte, waren Duke Nukem 3D und Sam & Max. Die fand ich immerhin so toll, dass ich die Zukunft der Unterhaltung, der Kunst und des Erzählens im Bereich der Computer- und Videospiele sah, womit ich ja auch recht hatte. Ich log faustdick, was meine Qualifikationen anging, und die meisten Lügen flogen noch während des Gesprächs auf.

Noch überraschter als vom ersten Grüß-Gott-Anruf war ich vom zweiten, der mir mitteilte, dass ich den Job hätte, so ich ihn wollte. Ich habe zwar keine Ahnung von der Materie, aber man wolle mal jemanden mit einem „journalistischen Background“ ausprobieren.

Klassische Computerspiele-Illustrierte haben allerdings keinen Bedarf für Journalismus. Die haben nur Bedarf für Buchhalter, die Formulare mit Testergebnissen ausfüllen. Ich kündigte noch vor Ablauf der Probezeit. Eine Panikreaktion, weil ich die Schande einer Kündigung durch den Arbeitgeber entgehen wollte. Rückblickend betrachtet war meine Anstellung wohl nicht so gefährdet, wie ich damals angenommen hatte, meine Arbeit war eigentlich anständig. Die richtige Entscheidung war es dennoch, denn ich war todunglücklich. Wo man einem Chefredakteur wirklich den Begriff ‚Pornomusik‘ erklären muss, und er es dann immer noch nicht versteht, kann man sein lyrisches Federkleid nicht allzu schillernd spreizen.

Eine neue Arbeitsstelle ist freilich stets schnell gefunden. Ich log und schleimte mich in eine PR-Agentur, selbstredend mit schlechtem Gewissen. Zum journalistischen Selbstverständnis gehört es, PR als die dunkle Seite der Macht zu sehen. Ich bekam den Job, weil die Agentur jemanden mit einer „flotten Schreibe“ suchte.

PR-Agenturen haben allerdings keinen Bedarf für „flotte Schreibe“. Die, die ausdrücklich danach suchen, sind die, die am wenigsten Ahnung davon oder Verwendung dafür haben. Eines Tages fragte einer der Agentur-Kunden meine Chefin in vollem Ernst und echter Verzweiflung, ob der Neuenkirchen „vielleicht geisteskrank“ sei, nachdem ich eine seiner Pressemitteilungen mal ohne Mehrkosten etwas „flotter geschrieben“ hatte.

Lange durfte ich dann nicht mehr bleiben. Dennoch erachte ich es bis heute als einen meiner größten beruflichen Triumphe, dass der Schwindel erst neun Monate und zwei Gehaltserhöhungen später aufgeflogen ist.

Falls wer meint, tiefer als PR-Agentur könne man nicht sinken: zwischenzeitlich habe ich noch schwarz bei einer namhaften Werbeagentur gearbeitet. Ich schrieb Rundfunkreklame für eine Möbelhauskette. Es ging um ein Geheimagentenpaar auf der Suche nach überirdischen Angeboten. Die Spots wurden produziert, aber nie gesendet.

Nächster Stopp: eine Verlagsneugründung, dort insbesondere ein sogenanntes Lifestyle-Magazin mit Schwerpunkt Unterhaltungselektronik. Unterhaltungselektronik ist nicht gerade das majestätischste Steckenpferd in meinem Stall, ist allerdings ein Thema, das man sich als geübter Blender schnell aneignen kann. Wegen „flotter Schreibe“ durfte ich in gewissen Bereichen des Heftes machen, was ich wollte, also war ich verhältnismäßig glücklich. Eigentlich bin ich ja ein genügsamer Typ.

Leider sind Menschen, denen die Wahl der richtigen Unterhaltungselektronikkomponenten extrem wichtig ist, in der Regel genau die Menschen, die extrem wenig lesen. Nach 1 ½ Jahren war das Magazin am Ende, ein halbes Jahr später der ganze Verlag. Lag vielleicht auch daran, dass der Verlag relativ wenig Skrupel hatte, wenn es um die Erstattung von Reisekosten ging. Eine Zeit lang war meines ein herrliches Leben im Klischee, ein Leben zwischen Deutschland, Marokko, Spanien, Italien, Großbritannien und Japan. Besonders Japan hatte es mir angetan. Sogar so sehr, dass ich eines Tages bei Edeka im Olympia Einkaufszentrum knapp zwei Euro locker machte und mir das Buch Gebrauchsanweisung für Japan von Gerhard Dambmann vom Grabbeltisch kaufte und mir vornahm: ‚Wenn ich einmal groß bin, möchte ich auch so ein Buch schreiben.‘

Nach der Abwicklung des Verlages ging ungefähr die gesamte Belegschaft zu Amazon. Amazon war mir als Unternehmen schon immer sympathisch. Auf einer Party anlässlich der Angebotserweiterung um Video- und Computerspiele, zu der ich einmal als Pressevertreter eingeladen war, gab es leckeres Dosenbier und gelbe Amazon-Badehandtücher als Geschenk. Meines hat extrem lange gehalten und war stets sehr flauschig. Also hatte ich mich gleich dreifach dort beworben: als Redakteur für Bücher, als Redakteur für Videokassetten und notfalls als Redakteur für Unterhaltungselektronik. Letzteres bin ich dann erst mal geworden, wohl wegen beruflicher Vorbelastung.

Meine knapp 15 Jahre bei Amazon brachen endlich den Fluch meiner Reputation als beruflich flatterhaft, die mir mein dreifacher Wechsel in nicht mal drei Jahren eingebracht hatte (dabei war nur der erste Wechsel komplett auf meinem eigenen Mist gewachsen). Ich würde die Amazon-Ära folgendermaßen bilanzieren: 7 magere Jahre, 7 fette Jahre, und eines, in dem ich schon nicht mehr so richtig da war (würde ich auch in der Kategorie ‚fett‘ sehen). Insgesamt keine schlechte Bilanz für ein Arbeitsverhältnis, finde ich. Arbeit ist schließlich Arbeit, und Ponyhof ist Ponyhof, und wenn man nicht gerade auf einem Ponyhof arbeitet, sind das zwei sehr unterschiedliche Dinge. Diesen Umstand habe ich nie als skandalös empfunden.

Selbstverständlich besteht das Leben nur zu einem Bruchteil aus Arbeit, der Rest ist Ponyhof. Das Büro meines frühen Lifestyle-Jobs war passenderweise in der Nähe von Straßenstrich und Kunstpark Ost. Letztere Nähe nutzten die Kollegen und ich recht ungehemmt. Zum Trinken, aber mitunter sogar zum Tanzen. Der Kunstpark war sozusagen unser Ponyhof. Hier feierte ich angstfrei meinen 30. Geburtstag unter Kollegen, die mir Freunde geworden waren, darunter auch CSU wählende Bayern. Einer von ihnen ließ zu vorgerückter Stunde gerne mal die Fäuste sprechen. Vor allem dann, wenn jemand sich anschickte, den Ausländern in unserer Gruppe blöd zu kommen. Sein Wahlverhalten heiße ich trotzdem nicht gut, das kann man auch anders lösen.

Später wurde der Kunstpark umbenannt in Kultfabrik und wurde genauso schrecklich wie dieser Name. Man ging dann nur noch notgedrungen und widerwillig zu unverzichtbaren Konzerten hin und danach schnell wieder weg. Als das Areal im letzten Jahr komplett geschlossen wurde, war es einem schon gänzlich egal. Bei meinem letzten Besuch wurde ich auf dem (kurzen) Weg vom Ostbahnhof zur Kultfabrik dreimal von unterschiedlichen Händlern angesprochen, ob ich gerne Drogen kaufen würde. Nein, wollte ich nicht, will ich nie. (Kleine Randnotiz für besorgte Bürger: Kein Grund zur Besorgnis; die fliegenden Händler waren allesamt weiße Milchgesichter in teurer Marken-Ghetto-Garderobe). Der Zweck meines Besuches war ein Konzert von Peter Murphy gewesen, ihm ging es an dem Abend auch nicht so gut. Hatte sich vielleicht auf dem Weg was andrehen lassen.

Zweimal musste ich in München eine Wohnung suchen, beide Male war es ein Kinderspiel. Ich kenne die epischen Horrorgeschichten anderer Wohnungssuchender und komme nicht umhin, ihnen eine Mitschuld zu geben. Sie scheinen an ihren eigenen Ansprüchen zu scheitern. Offenbar besteht jeder auf ein geräumiges Apartment im Glockenbachviertel oder in Schwabing oder sonst wo direkt über der eigenen Stammszenekneipe, selbstverständlich Altbau mit Parkettboden, und selbstverständlich technisch und hygienisch auf dem neuesten Stand und bitteschön bezahlbar vom Praktikumsgehalt. Ich hingegen habe rund 18 Jahre in Moosach gut und günstig gewohnt. Zuerst mit Teppichboden, bin ich auch nicht dran gestorben. Einer meiner Vermieter war besser als der andere, in Ordnung waren beide. Ich habe nie eine Wohnungsbesichtigung erlebt, bei der mehr Interessenten als meine Frau und ich anwesend waren. Ich habe es nicht als Zumutung empfunden, ein paar Stationen mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren zu müssen, wenn ich etwas mehr Aufregung haben wollte, als Moosach zugegebenermaßen zu bieten hat. Tatsächlich glaubte ich, dass die Distanzüberwindung im Begriff ‚Ausgehen‘ mitschwingt (für viele ist das aber wohl nur ein Synonym für ‚vor die Türschwelle treten‘).

Meine Zeit in München war nicht zuletzt eine Zeit stetiger Gesundung. Das mag mehr an der Zeit und der zunehmendem Alterseinsicht liegen als am Ort, im Bewusstsein wächst es trotzdem zusammen. Während ich eines Silvesters alleine zu Hause saß, so wie ich es gerne tat, und den Film Elementarteilchen schaute, sagte ich mir: ‚Wie wäre es, wenn ich mir nach dieser fast leeren Zigarettenschachtel nie wieder eine neue kaufe?‘ Und so kam es, dass ich mich bezüglich Elementarteilchen in erster Linie daran erinnere, dass ich während des Schauens meine letzte Zigarette geraucht habe. Ob ich sie rauchte wie Houellebecq, weiß ich nicht mehr.

Zu illegalen Drogen hatte ich in Bremen stets ein Verhältnis wie zu Toffifee: Ich habe mal ein oder zwei genommen, wenn welche auf dem Tisch standen; ich wäre aber nie auf die Idee gekommen, mir selbst welche zu kaufen (der Fachterminus ist wohl ‚Schnorrer‘). Da in München nie jemand welche auf meinen Tisch gestellt hat (Drogen, nicht Toffifee), durchlebte ich den unspektakulärsten kalten Entzug aller Zeiten.

Mein Alkoholkonsum, das muss ich eingestehen, blieb lange Zeit auf einem hohen Niveau, das bei aufgekratzten Teenagern vielleicht niedlich ist, bei Volljährigen allerdings eher traurig und beunruhigend. Ich war überrascht, wie einfach die Lösung war: Sport. Als aufgekratzter Teenager hatte ich stets gehässig über all die gut gemeinten Gesundheitskampagnen gekichert, die sogenannten ‚Kids‘ weismachen wollten, dass Sport viel mehr Böcke mache als Drogen, Alter. Das Problem dieser Kampagnen, so weiß ich inzwischen, ist nicht, dass die Aussage nicht stimmt. Das Problem ist, dass die Kids das nicht glauben. Könnt ihr aber, Kids.

Natürlich trinke ich weiterhin Alkohol, ich bin ja nicht blöd. Allerdings inzwischen auf familienfreundlichen Niveau.

Das war nun also in sehr groben Zügen Episode 2: München. Und so vieles wurde noch nicht mal angerissen. Etwa wie ich einmal Gefangener einer religiösen Sekte war. Oder wie ich eine Bande mallorquinischer Poker-Betrüger verklagte. Und die Familienwerdung scheint mir auch nicht ganz unerheblich.

War diese Episode besser oder schwächer als Episode 1: Bremen? Schwer zu sagen, sie war halt anders. Vielleicht ein kleines bisschen erwachsener, also mit mehr Längen. Jetzt freue ich mich auf jeden Fall auf Episode 3: Tokio.
(Die Bilder dieses Beitrags stammen übrigens von der verehrungswürdigen Quasi-Ko-Autorin meines nächsten Buches Matjes mit Wasabi.)

Ein bisschen Bond muss sein

Eigentlich habe ich immer noch keine Zeit zum Bloggen, aber ich muss kurz mal erklären, was Rassismus ist. Also: Wenn einer sagt, Roberto Blanco war (warum eigentlich ‚war‘?) „ein wunderbarer Neger“, dann ist das rassistisch. Selbst wenn derjenige meint, es nicht so gemeint zu haben.

Wenn hingegen einer sagt, er fände, dass Idris Elba nicht die Idealbesetzung für die Rolle des James Bond ist, dann ist das zunächst mal nur eine Meinung. Eine, die man als hyperempfindliche Fanperson gerne leidenschaftlich diskutieren darf. Aber bitte nicht leidenschaftlicher als die gute, alte „Connery oder Moore?“-Gewissensfrage.

Wenn man den zweifellos großartigen Elba (ohne Abb.) als Bond kritisch sieht (ich tue das nicht, meinetwegen soll er Bond spielen; meinetwegen kann er auch Yuka Sato spielen), stellt sich die Frage nach dem Warum, bevor sich einer (oder gleich die ganze Welt das halbe Internet) aufplustert und „Rassismus!“ schreit. Anthony Horowitz, Autor des aktuellen Bond-Romans Trigger Mortis, hat seine vorsichtig kritische Haltung damit begründet, dass Elba für die Rolle zu „street“ sei. Die Aufregung war groß, die weltweite Nachrichtenlage geizt ja auch gerade mit anderen Aufregerthemen.

Ich sage es frank und frei: Horowitz‘ Meinung war auch mein erster Gedanke, als die Elba-Gerüchte aufkamen. Nur nannte ich es nicht „street“, sondern „breitschultrig und geduckt“. Ich bin mir sicher, dass Horowitz ebenfalls genau das meinte. Andere meinen, das meine er nicht, sondern er meine „schwarz“, wenn er „street“ sagt. Dass er im selben Interview, in dem er sich den vermeintlichen Fauxpas leistete, einen anderen schwarzen Schauspieler als geeigneteren Kandidaten nennt, wird ihm nicht etwa mildernd angerechnet, sondern als noch rassistischerer Rassismus ausgelegt: was bildet sich der feine weiße Herr eigentlich ein, dass er bestimmen dürfe, wer ein wunderbarer und wer ein nicht so wunderbarer Neger wäre?

Dass manche leicht Entflammbaren „street“ mit „schwarz“ gleichsetzen, spricht eher für ihr eigenes rassistisches Weltbild als für ein bei Horowitz vermutetes. Horowitz‘ Fehleinschätzung, genau wie meine ursprüngliche, basiert auf Elbas Paraderolle DCI Luther, den impulsiven, straßenkämpfenden Stiernacken-Cop aus dem Fernsehen. Die Rolle spielt er so überzeugend, dass man ihn schon mal für ganz schön „street“ halten kann. Ich habe meine Elba-Bond-Meinung erst geändert, als ich Elba im Frack über rote Teppiche schweben sah.

Ich finde übrigens den weißen Bond-Favoriten Tom Hardy jetzt zu „street“. Das liegt vor allem daran, dass ich ihn nur als den Nuschler aus dem Batman-Film kenne und davon gehört habe, dass er Mad Max spielt. Vermutlich kann er aber auch anders, also bitte nicht übel nehmen. Ist ja nur meine Meinung.

Mit dieser wage ich mich jetzt sogar noch tiefer rein ins Minenfeld und sage: Man darf in Ausnahmefällen sogar finden, dass Idris Elba zu schwarz ist, um Bond zu spielen. Puh, ich weiß, das wird heikel. Es kommt halt drauf an, ob man an der literarischen Figur festhält, oder die Gepflogenheiten der Filminterpretationen akzeptiert. Der Ur-Bond der Fleming-Romane ist, anders als der Film-Bond, kein leeres Gefäß, das dankenswerterweise alle paar Jahre mit frischem Zeitgeist aufgefüllt wird, sondern hat eine sehr klar definierte Biografie, sogar einen detaillierten Stammbaum. Auf Grundlage dessen wäre es zumindest sehr, sehr unwahrscheinlich, dass James Bond als etwas anderes als ein kleiner Kaukasier geboren werden könnte.

Aber erstens ist Bond eh eine sehr, sehr unwahrscheinliche Figur, zweitens scheren sich zum Glück die Filme einen Dreck um die Romane, die zu einem Großteil ziemlich töricht sind. Der Film-Bond tritt mit jedem neuen Bond-Darsteller in eine neue Bond-Ära. Es ist Zeit für die Elba-Ära. Vielleicht sogar für die Street-Ära.

Ein gern gehörteres Argument gegen Elba als seine Hautfarbe ist sein Alter. Ein Außendienst-Agent in den 40ern sei eben unrealistisch.

Etwas Unrealistisches in einem Bond-Film?! Nein, das geht auf gar keinen Fall!

Flachs beiseite, Idris Elba wäre schon eine gute Wahl. Das einzige, was mich an ihr stört, ist, dass sie inzwischen ein bisschen zu offensichtlich ist. Lieber lässt man sich doch überraschen.

Festzuhalten wäre für die Schlechtmenschen, die gerade vom Stammtisch oder vom Zündeln heimkommen, dass ein schwarzer Bond selbstverständlich kein politisch-korrektes Marketing-Gimmick ist, sondern nur ein konsequentes Erkennen und Anerkennen der Tatsache, dass nun schon seit geraumer Zeit nicht jeder echte englische Engländer automatisch blütenweiß ums Näschen daherkommen muss. Sicherlich auch nicht jeder Geheimagent.

Wenn ich allerdings ganz ehrlich bin, habe ich gar keine allzu große Meinung zu der Frage, wer der nächste Bond sein sollte. Mir ist es wichtiger, dass die Filme gut werden. Ich teile durchaus die langweilige Konsensmeinung, dass George Lazenby und Timothy Dalton keine Idealbesetzungen waren (obwohl Dalton nah dran kam). Andererseits gehören alle ihre Filme zu den allerbesten, die die Reihe zu bieten hat. Bond ist keine sonderlich spannende Figur, sie braucht keinen sonderlich spannenden Darsteller. Kennt eigentlich noch jemand Andreas Elsholz?

(Kurz mal eben zur Causa Lazenby: interessanter Typ, und seinerzeit gar nicht so unbeliebt, wie es retrospektiv dargestellt wird. Tatsächlich wurde er mehrfach bekniet, für mehrere Bond-Filme zu unterschreiben. Nur war er der Meinung, diese albernen Schnickschnackstreifen stünden seiner großen Kunstkinokarriere im Weg.

Hab ja nur gesagt: interessanter Typ ist. Nicht: ausgewiefter Fuchs.)

Als vor ein paar Jahren die James-Bond-DVD-Komplettbox so schleuderbillig wurde, dass man sie nicht nicht kaufen konnte, habe ich mir mal den Spaß gemacht alle Filme hintereinander weg zu sehen, natürlich mit Schlaf- und Arbeitspausen. Ich war schockiert, wie schnell Sean Connery verblasste. In jungen Jahren hätte ich noch jedem die Nase blutig geschlagen, der die Connery/Moore-Frage debil lächelnd mit „Roger Moore!“ beantwortete. Doch jetzt sah ich einen Connery, der zwei Filme lang strahlte, und ab Goldfinger nur noch lustlos durch die Kulissen schlurfte, auf der Suche nach seinem Gehaltscheck.

Was war es für eine Wohltat, als in Leben und sterben lassen endlich Roger Moore mit seinem Charme und seiner Spielfreude das Ruder übernahm! Diese Spielfreude ließ zwar Unken zufolge auch im Laufe seiner Karriere nach, aber ich sage: das ist Erbsenzählerei gegen Connerys Sturzflug. Ganz ehrlich: Diamantenfieber hätte niemals veröffentlicht werden dürfen. Octopussy Meisterwerk dagegen.

Will damit eigentlich nur sagen: Lieblings-Bond ist ein Rotationsjob, und letztendlich hat die Qualität des Hauptdarstellers keinen großen Einfluss auf die Qualität des Films (Diamantenfieber hat weiß Gott noch größere Probleme als die unrealistische Sean-Connery-Puppe, die da immer in die Kamera gehalten wird). Bond-Filme sind keine Schauspielerfilme, sondern wunderbare Schnickschnackstreifen.

Und ganz eigentlich will ich sagen: am liebsten wäre mir, wenn der nächste Bond eine asiatische Frau wird. Und ich möchte jetzt nicht hören, dass Lucy Liu zu alt für irgendwas sei.

Lob der Latte-Macchiato-Mütter und Craft-Beer-Väter

Optimistisch hatte ich geglaubt, das larmoyante Herumhacken auf Menschen, für die es im Leben etwas mehr sein darf als Heim, Herd, Sack, Asche und Industrieplörre, würde den larmoyanten Herumhackern selbst irgendwann langweilig werden. Dem scheint leider nicht so zu sein, deshalb muss ich jetzt doch mal was loswerden: ein Hoch auf die Latte-Macchiato-Mütter, überall! Mögen sie mit ihrer Anmut weiterhin die Stadtbilder verschönern und mit ihren Designerkinderwagen (Bayern: Designerkinderwägen) noch so manchem frühvergreisten Griesgram den Weg verstellen. Und ein Hoch auf ihre Partner, die Craft-Beer-Väter! Auf dass sie sich niemals einreden lassen, ihr Bier sei gar kein echtes Männer-Bier, nur weil mehr Geschmack, mehr Alkohol und kein Hopfenextrakt drin ist.

Wir Latte-Macchiato-Mütter (Craft-Beer-Väter mitgemeint) wurden großgezogen von einer Generation von Jacobs-Krönung-Müttern und Haake-Beck-Pils-Vätern (Bayern: Augustiner-Bräu-Vätern). Wir lieben sie, doch das bedeutet nicht, dass wir alles genauso machen müssen wie sie. Das Herumhacken auf unserem Lebenswandel hat etwas von der Runter-von-meinem-Rasen-Mentalität der Generation vor unserer Elterngeneration, die an dieser Stelle aus dem Jenseits jault: „Jacobs Krönung und Haake Beck Pils? Luxus! Wir hatten damals nur die Spucke der Besatzer zu trinken und mussten uns vorstellen, es wäre Jacobs Krönung und Haake Beck Pils! Und aus uns sind trotzdem zufriedene, tolerante, lebenslustige alte Herrschaften geworden! Äh, Moment mal …“

Wat de Buur nich kennt, dat frett he nich. Die Ablehnung des relativ modernen Genusswandels erinnert auch an das verzweifelte Festklammern an der eigenen Jugend. Alles soll genauso bleiben, wie es immer war, und die Musik von heute ist ja nur noch Boingboingboing, und wer Bier trinkt, das es letztes Jahr noch nicht gab, ist ein Mädchen. Was schön und neu ist, muss schnell mit der Gentrifizierungskeule alt und hässlich geschlagen werden. Speziell die Kritik an den Latte-Macchiato-Müttern geht von der antifeministischen Uralthaltung aus, Frauen müssten mit Einsetzen der Mutterschaft das Frausein einstellen. Sie dürften sich fortan nur noch in den eigenen vier Wänden aufhalten und im Trainingsanzug Jacobs Krönung schlürfen. Andere Interessen als Kinder, Kinder, Kinder sind Zeichen von Selbstsucht und stören da draußen die Greise zwischen 30 und 50, die gerade auf dem Weg in ihre Siff- und Suff-Kneipe sind, in der seit dem 20. Jahrhundert nicht mehr geputzt wurde, was sie so gemütlich und ihre Kundschaft so gut gelaunt macht.

Man verwechsle diese Verteidigung ganz normaler Menschen nicht mit Hipster-Verteidigung. Selbstverständlich kann einem das Klein-klein um die neuesten Bier- und Kaffeemarotten auf den Senkel gehen. Vor ein paar Jahren wurde einem noch die Freundschaft gekündigt (richtige Freundschaft, nicht Facebook-Freundschaft), wenn man mal unachtsam ausgeplaudert hatte, man würde zu Hause heimlich Filterkaffee trinken. Die Musik hörte schlagartig auf, alle Scheinwerfer und Blicke waren auf einen gerichtet, und eh man sich versah, saß man ganz alleine da und das Licht ging aus. Inzwischen ist Filterkaffee wieder der letzte Schrei. Natürlich nur mit dem RICHTIGEN Filter und der RICHTIGEN Filterkaffeemaschine. Dieser ganze Kaffeetechnikfetischismus ist natürlich papperlapapp. Ich verrate schnell, was man für guten Kaffee braucht: guten Kaffee. Wenn es sich einrichten lässt noch gutes Wasser (ist in München leider schwieriger zu bekommen als guter Kaffee). Das langt. Dann ist es relativ egal, ob die Maschine drum herum 40 oder 400 Euro gekostet hat (tut mir leid, vielleicht haben Sie den Bon ja noch).

Im Großen und Ganzen ist es aber begrüßenswert, dass immer mehr Menschen eher bewusst genießen als gewohnheitsmäßig kippen. Zum Wohle.

Endlich: Sex bei Houellebecq

Kennen Sie den noch?

Michel Houellebecq, der Skandalautor von vor zwei Monaten. Ich hatte mir das dazugehörige Skandalbuch Unterwerfung noch am Skandalerscheinungstag gestreamt-oder-wie-das-heißt, damit ich schnell etwas drüber schreiben könne, bevor das Thema wieder vorbei sei.

Gut, habe ich halt nicht geschafft. Nicht weil ich so langsam lese oder schreibe, auch den Planungsunsicherheitsfaktor Baby trifft nur eine Teilschuld. Hauptschuld hat allein das Buch, ich musste mehrmals pausieren und andere Lektüren einschieben. Nicht wegen Ekel, Empörung oder Ergriffenheit, sondern aus Langeweile. Dabei bin ich eigentlich ein bei jeder neuen Veröffentlichung glucksender Houellebecq-Fanboy (kurz: Houelleboy). Ich sammle jeden Schnipsel über den süßen Fische-Boy aus Frankreich und mag alle seine Bücher, außer vielleicht Die Möglichkeit einer Insel, und jetzt eben Unterwerfung.

Schon am Titel hakt’s, er ist zumindest irreführend. Es geht hier in erster Linie nicht um eine Unterwerfung, sondern um eine Ermüdung. Der Protagonist des Romans ist, wie Houellebecq, Huysmans-Experte. Und wie Joris-Karl Huysmans sich in der Herbst/Winter-Saison seines Lebens, körperlich und seelisch erschöpft, dem Katholizismus zuwendete, so wendet sich Houellebecqs Romanfigur lebensmüde dem Islam zu. Houellebecq hat erkannt, dass der Katholizismus inzwischen außerhalb von Entwicklungsländern seine religiöse Bedeutung komplett verloren hat (seine gesellschaftliche nicht, die katholischen Werte trägt jeder noch so überzeugte abendländische Atheist unter Haut und Nägeln). Für jemanden, der sich einer echten Religion ohne Larifari anschließen will, ist der Islam also konkurrenzlos. Eigentlich ein schönes Thema, wäre der Roman nicht genauso müde geschrieben und konzipiert, wie es seine Hauptfigur ist. Das mag durchaus künstlerische Absicht sein. Jedoch ist nicht jede bewusste Entscheidung automatisch eine richtige Entscheidung. Houellebecqs Romane waren stets Thesenromane, aber immerhin waren unter den Thesen noch Romane auszumachen. Wenn in Unterwerfung zwei Figuren miteinander sprechen, dann entstehen daraus keine Dialoge, sondern aufeinanderfolgende Monologe in der Länge und im Duktus von Aufsätzen. Dabei gibt es Figuren, die offenbar dem Autoren nach dem Mund reden, und solche, die offenbar das Gegenteil tun; jene sind selbstverständlich lächerliche Figuren.

Immerhin taugt das Buch kaum zur Steilvorlage der Pegida-Arschgeigen äh -Bewegung (zu inter … inti … intellele-dingsbums) oder sonst irgendeinen Skandal (zu müde). Darin waren sich die meisten deutschen Medien dann auch einig, zumindest im ersten Punkt, nachdem sich die französischen wohl sehr aufgeregt hatten. Bei der taz zeigte man majestätische Großmut und tat einen erleichterten Stoßseufzer: Houellebecq sei gar kein rechter Autor, war dort zu lesen, quasi Begnadigung. Nun haben wir zwar erst März, ich wage aber schon jetzt die Prognose, dass das eine der steilsten Thesen des Jahres bleiben wird. Houellebecq war, ist und bleibt so rechts wie der deutsche Straßenverkehr. Das ist ja nicht schlimm, so was kann in einer Demokratie schon mal vorkommen. Daran stirbt man nicht, nicht mal als linker Leser. Gerade als solcher sollte man bevorzugt rechte Autoren lesen, sonst erfährt man nichts von der Welt außerhalb der eigenen Doktrin. Umgekehrt gilt das natürlich genauso. Man nennt es „Blick über den Tellerrand“. Irgendwann sieht man dabei vielleicht, dass es großer Blödsinn ist, so ein hochkomplexes Feld wie Politik in lediglich zwei Richtungen zu unterteilen; dass das Beharren auf „rechts“ und „links“ nur ein bockiges und bequemes Festhalten an „Cowboy“ und „Indianer“ im Erwachsenenalter ist. Ich bin in der Erkenntnis schon fast soweit. Bis ich es auch in der Konsequenz bin, bleibe ich bei meinem gemütlichen Schubladendenken: Houellebecq rechte Schublade, ich linke Schublade, gemeinsam sind wir ein gut geölter Schuhschrank im Hausflur der Ideologien.

Michel Houellebecq hat seine bekannten Aussagen zum Islam („dümmste Religion der Welt“) inzwischen nach Koran-Lektüre („ein kluges Buch“) öffentlich revidiert, was von der Presse nach wie vor weniger laut posaunt wird als die ursprüngliche Aussage. In Unterwerfung gibt er sich buchhalterisch neutral, er zählt allzu brav Vor- und Nachteile eines Frankreichs unter islamischer Regierung ab (gut: weniger Frauen in akademischen Berufen, schlecht: weniger Frauen in Miniröcken). So müde wie über alles wird über Leichen gegangen und das rasche Verschwinden der jüdischen Kultur in ein paar lapidaren Randbemerkungen abgehandelt. Hinter der müden Fassade lauert da doch ein bisschen von der alten Houellebecq-Dämonik. Gerade bei diesem Thema hätte man im deutschen Feuilleton auch mal etwas genauer lesen und hinterfragen dürfen, aber ich möchte niemanden wecken.

Man muss ohnehin Houellebecq gar nicht erst mit diesem ganzen Politidingsbums kommen, wie Die Welt eindrucksvoll bewiesen hat. Zum persönlichen Gespräch mit dem Autoren schickte man einfach eine Praktikantin aus der Beauty-Redaktion, die dann keck ein paar Selfies knipste und hinterher betont stolz drauf war, keine politischen Fragen gestellt zu haben. Es ist mit dem deutschen Feuilleton hinsichtlich der Literaturbesprechung gar nicht immer so schlimm, wie in letzter Zeit gerne mal behauptet wird. Oft ist es noch viel, viel schlimmer.

Eines hat mir an Unterwerfung gefallen: Die Bettszenen. An dieser Stelle möchte auch endlich mal etwas Provokantes sagen: Ich interessiere mich nicht für Sex [dramatische Wirkungspause] in der Literatur. Oder allen anderen Kunstformen. (Zur Wahrung meiner eigenen Menschenwürde habe ich auf den obligatorischen „Ich bin nicht prüde, aber“-Einstieg verzichtet.) Ich sollte das präzisieren: Ich interessiere mich nicht für die mechanische oder romantische Beschreibung des Vorgangs, seines Versprechens und seiner Anbahnung, vulgo Erotik bzw. Pornografie (aus Desinteresse differenziere ich da ebenso wenig, wie ich werturteile). Durchaus interessiere ich mich für die gesellschaftliche Bedeutung und die politischen wie wirtschaftlichen Möglichkeiten der Instrumentalisierung des Vorgangs, seines Versprechens und seiner Anbahnung. Das hatte Houellebecq für mich immer lesenswert gemacht: nicht die Ferkelei, sondern die höhere Bedeutung der Ferkelei. In Unterwerfung hat die Ferkelei keine höhere oder tiefere Bedeutung, sie lockert nur das müde Einerlei auf, also wie im richtigen Leben. Dass ich entsprechende Passagen dennoch als die erfrischendsten des Romans wahrgenommen, ihnen beim Lesen sogar regelrecht entgegengefiebert habe, kann zweierlei bedeuten: das Buch hat sonst nicht viel zu bieten, oder ich werde mit zunehmendem Alter immer ferkeliger. Ich entscheide mich fürs erste. Und ich überlasse dem deutschen Feuilleton die Themen, die es versteht.

Das war mein Jahr auf Facebook – danke, dass du ein Teil davon warst, Bruce Lee

Im letzten Jahr gab es einschneidende Veränderungen in meinem Leben, zum Beispiel bin ich Facebook beigetreten. Vorher hatte ich meine Verweigerung zu einer Lebenseinstellung hochgejubelt, möglicherweise war sogar einmal die Rede davon, man dürfe mir jederzeit die Kehle durchschneiden, wenn ich doch bei diesem Quatsch erwischt werden sollte. Das nehme ich hiermit zurück: bitte nicht mehr die Kehle durchschneiden. Ich bin Facebook beigetreten, weil ich gehört hatte, dass man damit explosionsartig mehr Bücher verkaufen kann. Das hat sich nicht bestätigt, dafür weiß ich jetzt viel mehr über die Trinkgewohnheiten und das Intimleben meiner Kindheitsfreunde und Arbeitskollegen. Es hat sich also trotzdem gelohnt. An meinen hauptsächlichen Facebook-Erkenntnissen möchte ich Sie an dieser Stelle teilhaben lassen.

Ich weiß nicht, wofür „Gruppen“ da sind

Ich freue mich zwar, dass mir die anderen Mitglieder des Bruce-Lee-Fanclubs jeden Morgen ein paar Hundert Fotos von Bruce Lee auf die Startseite klatschen, zum Beispiel solche:

Aber ich weiß nicht warum. Ich bezweifle, dass es inzwischen noch „seltene“ Fotos von Bruce Lee gibt (und falls es sie jemals gab, ist damit seit Facebook Schluss). Und bevor noch mal jemand ganz aufgeregt das Bild postet, auf dem der erwachsene Bruce Lee (gestorben 1973) und der erwachsene Michael Jackson (geboren 1958) Arm in Arm stehen: das ist ungefähr so authentisch wie das Foto, auf dem Gandhi und Justin Bieber sich in den Armen halten. Liest wahrscheinlich eh wieder keiner, und nächste Woche ist das Bild wieder mindestens fünfmal drin.

Selbstverständlich werde ich aus dem Bruce-Lee-Fanclub niemals austreten, das ist eine Ehrensache. Anders sieht es bei diesen ganzen Gruppen für „Autoren“ aus. Bislang konnte mich keine halten. Es scheint zwei Arten davon zu geben: solche, die Eigenwerbung zulassen, und solche, die das nicht tun. In der ersten Kategorie gibt es nichts als Eigenwerbung, die exakt niemanden erreicht, weil in diesen Gruppen nur Mitglieder sind, die sich ausschließlich für ihre eigene Eigenwerbung interessieren. In den Gruppen, die Eigenwerbung nicht zulassen, gibt es zwei Arten von Beiträgen: Eigenwerbung und weinerliche Beschwerden über diese Eigenwerbung inklusive der Androhung, alles hinzuschmeißen, wenn die Mitglieder nicht sofort Vernunft annähmen. Freilich stellen die Beschwerdeführer selbst ebenfalls keine gehaltvolleren Beiträge ein.

Ich würde gerne einer Autorengruppe beitreten, in der man ab und an gängige Recherchefragen in die Runde werfen kann und prompt eine kompetente Antwort bekommt, zum Beispiel: Weiß hier jemand, ob in den 70ern Passagierschiffe zwischen Südkorea und Hongkong verkehrten, und was eine einfache Fahrt gekostet hat? (Ernsthaft, weiß das jemand?) Falls irgendwer eine entsprechende Gruppe kennt: es wäre schön, wenn ich bei eurer Bande mitmachen dürfte.

Gegen Politik lässt sich wohl nichts machen

Ein bisschen angewidert bin ich davon, wie politisch es auf Facebook zugeht. Die politische Positionierung spielt für meine Anwiderung keine Rolle. Vor meiner aktiven Zeit war ich der Auffassung, Facebook sei eine Software zur Verbreitung von Katzen- und Frühstücksbildern, und das ist ganz genau das, was ich dort sehen möchte. Seien Sie unbesorgt: es gibt politische Räume in meinem Leben, ich bin weder Verweigerer noch Verdrossener. Meine Facebook-Startseite ist allerdings keiner der Orte, an denen ich die neuesten Variationen der immer gleichen Verschwörungstheorien zu Schweinesystemen und Schurkenstaaten von Antifa und Pegida lesen möchte. Kann ich aber wohl nicht ändern. Ebenso wenig kann ich daran ändern, jeden Tag ein paar Mal von immer denselben Pappenheimern zu lesen zu bekommen, wie bekloppt und inkompetent die bei Spiegel Online sind. Ja, Herrschaftszeiten, dann lest und verbreitet den Quatsch halt nicht! Mach ich doch auch nicht.

Apropos „nicht lesen“: dem Aufruf von neulich, man solle alle seine Freunde rauswerfen, die Pegida und die sogenannte Bild-Zeitung „geliket“ haben, bin ich trotz grundsätzlichem Verständnis nicht nachgekommen. Ich habe nicht mal geprüft, wer das wäre, aus zweierlei Gründen. Der erste Grund ist selbstverständlich Angst. Es könnte ja jemand dabei sein, den ich wirklich kenne, nicht nur in Spaß. Da sage ich hinterher lieber, ich hätte von nichts gewusst, so deutsch bin ich. Der zweite Grund ist, dass manche Pappenheimer aus den richtigen Gründen das Falsche tun. Als ich noch im journalistischen Tagesgeschäft war, brachten nicht wenige durchaus redliche Kollegen jeden Morgen die Bild-„Zeitung“ mit ins Büro, zur Feindbeobachtung und Volksmundbelauschung. Ich fand diesen Ansatz damals schon falsch und empfinde noch heute so. Gute Journalisten müssen nicht jeden Tag lesen, was böse Journalisten schreiben. Es reicht, hin und wieder die Boulevard-Schlagzeilen am Kiosk zu überfliegen oder mal ein Exemplar aus dem Automaten zu klauen. Finanzieren sollte man den Feind nicht. Außerdem bezweifle ich, dass John le Carré jede Woche Jerry Cotton liest, um kriminalliterarisch auf dem Laufenden zu bleiben.

Ich werde also dubiose „Likes“ nicht ohne Weiteres ahnden. Wer allerdings Bild und Pegida aus anderen Gründen als beruflichem Interesse oder ähnlichem folgt, darf gerne freiwillig gehen. Sehr wohl habe ich nach jüngsten Ereignissen in Paris ein paar Unholde unkommentiert rausgeworfen, die unvertretbare Sympathien oder Antipathien kundtaten, außerdem habe ich ein paar Wackelkandidaten auf die Bewährungsliste in meinem Kopf gesetzt. Undemokratisch, jemanden ohne Warnung und Begründung rauszuwerfen? Mir doch egal, auf Facebook wird gemacht, was ich sage. Ehe ich mich noch mehr aufrege, schnell noch ein Bild von Bruce Lee, das beruhigt mich immer.

Auf Facebook vernachlässigt man den Rest des Internets

Ich neulich so zu einem: „… und dann gab es kürzlich auch noch einen Mini-Weihnachtskrimi von mir, der als Gratis-E-Buch erschienen ist.“

Der eine so: „Ach, davon hast du aber gar nichts in deinem Blog geschrieben, oder?“

Ich: „Oh … muss ich vergessen haben. Ich habe es aber auf Facebook gepostet …“

Einer: „Du bist bei Facebook?!“ (Wetzt so das Messer, ich so voll schnell weg)

Es stimmt, ich lagere vieles von dem Quatsch (und einiges an handfesten Informationen), das früher in den Blog gekommen wäre, auf Facebook aus. Nicht nur weil man dort schneller und offensichtlicher geliebt wird, sondern vor allem, weil es leichter ist. Man muss nicht ständig die spitzen Klammern für die HTML-Tags suchen und die Bilder gesondert hochladen und man kann es mal eben mit dem Handy auf dem Klo machen. Trotzdem geht es natürlich nicht an, dass ich denen, die weiterhin tapfer nicht auf Facebook sind, einfach so ein neues Büchlein verschweige. Für Büchlein bin ich schließlich da.

Also: Anfang November letzten Jahres ist mein E-Büchlein Bescherung in Kabukicho erschienen, man kann es auch antizyklisch lesen, außerdem ist es auch fürs nächste Weihnachtsfest wieder gültig. Es enthält die titelgebende Kurzgeschichte, jene ist ein Prequel zur Inspector-Sato-Reihe, ein paar Worte zur selbigen und eine Leseprobe aus dem nächsten Band, Roppongi Ripper.

Oh, ich glaube, den hatte ich an dieser Stelle auch noch gar nicht erwähnt.

Kommen Sie doch einfach zu Facebook, so oder so.

Begnadigt: Helene Fischer, Ernst Stavro Blofeld und die Nusswut-Frau

Kurz vor Weihnachten begnadige ich drei von der Öffentlichkeit Verurteilte, die jetzt lange genug gelitten haben.

1. Helene Fischer. Helene Fischer ist jemand, von dem ich so richtig erst Notiz genommen habe, seit ich ein bisschen bei den sozialen Medien, also Facebook, mitmache. Das tue ich seit nicht mal einem Jahr. Mir war der Name natürlich schon vorher hier und da mal untergekommen, aber ich hätte nicht mit absoluter Sicherheit sagen können, ob es sich bei Helene Fischer um eine Fußballspielerin, eine Familienministerin oder eine Fernsehansagerin handelt. Dass ich inzwischen so viel über Helene Fischer weiß, liegt daran, dass in den sozialen Medien, also Facebook, so viel über Helene Fischer geschrieben wird. Und zwar, so scheint es, ausschließlich von Menschen, die Helene Fischer nicht leiden können. Neulich ging sogar die Aufforderung um, man solle sofort alle Freunde entfreunden, die Pegida und/oder Helene Fischer „geliket“ haben. Die einen sind Nazis, da ist Entfreundung eine Selbstverständlichkeit. Aber die andere ist doch bloß eine Schlagersängerin, wenn ich das richtig verstehe. Schlager mag ich nicht. Reggae mag ich auch nicht. Trotzdem käme ich nie darauf, jeden zu entfreunden, der Jimmy Cliff „geliket“ hat.

Jetzt höre ich schon das Gegenargument: „Jahaha – aber wenn du Helene Fischer begnadigst, kannst du auch gleich Unheilig begnadigen! Das ist doch genau der Toleranzwahn, den die-da-oben und ihre Systempresse uns verordnen wollen!“ Ich sage: No, no, no, my darling, ich lasse mir nicht mit der Neoliberalismuskeule kommen. Es verläuft ein gar nicht so feiner Grat zwischen der aufrichtigen Schlagersängerin Helene Fischer und dem unaufrichtigen Schlagersänger Unheilig (ich gehe grammatisch mal davon aus, dass das in Festbesetzung inzwischen nur noch dieser eine Typ ist). Nicht, weil Unheilig einmal in der Gothic-Szene angefangen und irgendwelche Subkulturen verraten und verkauft hätte. Schlager ist ja auch nicht gerade Hochkultur, und die Gothic- und Schlager-Subkultur hatten in ihren unpraktikablen Romantik-Vorstellungen schon immer viele Berührungspunkte. Unheilig ist nicht zu begnadigen, weil Unheilig so tut, als wäre Unheilig etwas Besseres, Poetischeres, Gediegeneres, Geschmackvolleres als gemeiner Schlager. Helene Fischer hingegen bekennt sich zu ihrem Genre. Es ist ein Genre, das man nicht schätzen muss. Die Konsequenz daraus ist, dass man sich nicht weiter damit beschäftigt. Dünkel oder gar Verachtung sind unangebracht. Die Lieblichkeit eines typischen Schlagers ist schließlich nicht mehr Pose als die Rotzigkeit eines typischen Punkrock-Songs, und musikalisch ist Helene Fischer sicher nicht anspruchsloser als GG Allin. Unterm Strich kommt bloß „Geschmackssache“ dabei heraus. Über Geschmack lässt sich zwar herrlich streiten, aber, ach, es ist so ermüdend.

Also: Helene Fischer, begnadigt. Genauso wie:

2. Ernst Stavro Blofeld. Ich lese gerade Ian Flemings James-Bond-Romane, einige erstmals, manche erneut. Das ist kein Vergnügen, ich bin mir gar nicht sicher, warum ich mir das antue. Seien wir ehrlich: Ohne die viel erfreulicheren Filme würde keiner von denen heute noch aufgelegt. Ich bin mir außerdem nicht sicher, ob ich alle schaffen werde, deshalb konzentriere ich mich zunächst auf das Hauptwerk, den Blofeld-Zyklus. Dass der gerade wieder dank der Gerüchte, Christoph Waltz könnte der nächste Film-Blofeld sein, verstärkt im öffentlichen Interesse steht, ist reiner Zufall, ich schwöre.

Man lebt nur zweimal ist der Roman, den James Bond größtenteils als Japaner verkleidet unter Japanern verbringt, selbstverständlich von authentischen Japanern unerkannt. Im viel erfreulicheren Film gibt es diesen unglücklichen Passus ebenfalls, er fällt dort allerdings gnädigerweise kürzer aus. Man lebt nur zweimal ist ebenfalls der Roman, bei dem ich mich dabei ertappte, wie ich Blofeld plötzlich zuzischte: „Töte ihn! Töte ihn! Lass ihn in deinem geheimen Todesgarten elendig verrecken!“

Ich gehöre normalerweise nicht zu den Literaturrezipienten, die sich aus Radaulust oder einer merkwürdigen Auffassung von Nonkonformismus auf die Seite der Bösen schlagen; da könnte ich ja gleich Nazi werden. Aber meine Fresse – was ist dieser literarische Ur-Bond für ein stumpfer, ungehobelter Vollpfosten. Ein weinerlicher Alkoholiker, ein Anti-Intellektueller, ein Anti-Gentleman, kurzum ein Unsympath. Er ist noch nicht mal der wohlfeile Genussmensch, für den ihn viele dank der erfreulich weißgewaschenen Filme halten. Tatsächlich macht er sich ausdrücklich nichts aus Feinschmeckerei. Dass er dennoch ab und an feinschmeckt, liegt einzig daran, dass der Geheimdienst Ihrer Majestät für seine Spesen aufkommt (so im Roman Im Geheimdienst Ihrer Majestät nachzulesen). James Bond ist nichts anderes als eine gehässige, kleine Beamtenseele. Ich bin überzeugt: Ian Flemings James Bond würde Pegida „liken“ (Helene Fischer weiß ich nicht).

Die Abneigung gegen diesen James Bond eint also Blofeld und mich. Er kann kein ganz schlechter Mensch sein. Seine Beziehung zu Frau Bunt ist außerdem um einiges anrührender und interessanter als Bonds langweilige Vielweiberei. Ich begnadige ihn hiermit und hoffe, dass das James-Bond-Universum noch zu meinen Lebzeiten in der rechtefreien Zone ankommt, damit ich endlich mein revisionistisches Blofeld-Epos angehen kann, möglicherweise in Versform.

(Kleine Randnotiz und Werbeunterbrechung: Mein liebster Bond-Romanautor ist übrigens Raymond Benson. [Was da gerade so gebumst hat, war ein Fleming-Purist, der mit verkrampfter Hand über der Herzgegend zu Boden gegangen ist.] Benson hat zwar nicht die literarische Bauernschläue, die bei Fleming bei aller Dumpfheit manchmal durchblitzt, dafür machen seine Romane von vorne bis hinten Spaß. Bei Spaßliteratur kein unwesentlicher Faktor. Noch mehr Spaß als seine Bond-Romane machen mir allerdings seine Romane um die Eigenkreation The Black Stiletto.)

3. Die Nusswut-Frau. Alle haben sich sehr aufgeregt oder sich sehr mokiert, je nach Tagesform, als sich neulich eine südkoreanische Fluglinienaufsichtsrätin im Vorfeld eines Fluges von New York nach Südkorea sehr darüber aufregte, dass ihr in der ersten Klasse Nüsse erstens in einem Plastiktütchen und zweitens ungefragt serviert worden waren, was einiges an personellem Heckmeck und eine Flugverspätung zur Folge hatte. Alle, nur ich nicht. Denn eines steht fest: sie hat ja recht. In der ersten Klasse sollte nichts in Plastiktüten serviert werden, und ungefragt sollte gar nichts in gar keiner Klasse serviert werden. Dass man sich darüber aufregt, wenn das nicht klappt, regt mich nicht auf. Mich regt auf, dass man sich darüber aufregt, dass sich darüber jemand aufregt. Ich bin kein Erster-Klasse-Passagier und werde in diesem Leben wohl keiner mehr (es sei denn, das mit dem Blofeld-Versepos klappt; aber dann werde ich wahrscheinlich gleich im Privatjet mein Kätzchen kraulen [das ist kein Euphemismus für etwas Unanständiges, sondern eine hochwertige cineastische Anspielung]). Dennoch bin ich immer gerne dazu bereit, für etwas mehr Klimbim etwas tiefer in die Tasche zu greifen. Dann erwarte ich allerdings auch, dass das Klimbim es emotional wert ist (materiell ist es das nie, doch ich bin ja kein Materialist). Wenn dann eine ungewollte Nuss in Plastik kommt, stimmt mich das missmutig. Ich habe schließlich kaum andere Sorgen.

Was einen Schatten auf diese schöne Geschichte von zivilem Ungehorsam wirft, ist die Zickigkeit, mit der die Nusswut-Frau mutmaßlich zu Werke gegangen ist (wir müssen uns, wie bei allen Weltnachrichten, auf Hörensagen verlassen; wir waren schließlich nicht dabei). Zickigkeit steht selbstverständlich auch in meinem Gesetzbuch unter „V“ wie „Verbrechen“. Eine Erste Klasse ist keine Einbahnstraße – sie fordert nicht nur Erste-Klasse-Flugpersonal, sondern auch Erste-Klasse-Fluggäste. Und erstklassig hat sich die Nusswut-Frau nun ganz und gar nicht aufgeführt (nach allem, was man so hört).

Aber genau das ist ja die Natur einer Begnadigung: Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Also: Nusswut-Frau begnadigt, wenn auch knapp.

Die Verspätung des Fluges wurde für dieses Urteil nicht berücksichtigt. Herrschaftshimmelszeiten, das waren 11 Minuten! Das mag für einen Regionalzug inakzeptabel sein. Bei Interkontinentalflügen wage ich zu bezweifeln, dass 11 Minuten ohne vorherige Nusswut überhaupt auffallen.

Luther, Twin Peaks, hallo Jar Jar Binks (oder: ah, la nostalgie, cette petite mort)

[Sicherheitshinweis: Wie jeder aussagekräftige Sekundärtext geht auch dieser auf den Inhalt seines Primärtextes ein. Oder, im Mimimi-Memmen-Duktus: Spoiler-Warnung.]

Keine Fernsehnachricht hat mich in diesem Jahr so begeistert wie die Ankündigung der vorletzten Woche, es solle zwei neue Folgen Luther geben. Zwei richtige neue Folgen, Folgen aus der Zukunft, keine sinnlose Prequälerei, wie es wohl mal angedacht war. Womit ich nicht sagen möchte, dass alle Prequels sinnlos wären. Allenfalls die allermeisten. Ausnahmen gibt es bestimmt. Wir machen weiter nach einer kurzen Werbeeinblendung.

Wie jeder Mensch mit einem schlagenden Herzen in der Brust liebe ich Luther, obwohl ich einsehe, dass die Serie logisch und psychologisch nicht immer auf dem solidesten Fundament steht und wohl keine Auszeichnungen für Originalität erhalten wird (wie sagte neulich jemand hier im Internet: finally, a cop show!). Sie ist halt eine Naturgewalt, und Naturgewalten halten sich nicht lange mit Kleinigkeiten wie Psychologie und Originalität auf. Mir persönlich ist naturgewaltiger Thrill jederzeit lieber als Fakten-Fakten-Vorabendkrimi.

Das Versprechen zweier neuer Luther-Folgen ist wie ein Versprechen, dass nun doch noch alles gut wird. Dass die dritte Staffel doch nur die dritte Staffel war, und nicht das Schlusskapitel, als die sie uns zunächst um die Ohren gehauen wurde.

Wir erinnern uns an das Ende mit Schrecken: Luther hatte gerade begonnen, zarte Bande zur klugen, attraktiven, charmanten, furchtlosen Mary zu knüpfen, nur um dann letztendlich doch mit der durchgeknallten Mörderin Alice durchzubrennen. Mary war übrigens entgegen anders lautenden Gerüchten ganz und gar keine langweilige Figur. Es sei denn, man definiert ‚langweilig‘ als: jeder, der kein durchgeknallter Mörder ist. Als wäre dieser Unsinn nicht Unsinn genug, hatte es dem Herrn Serienerfinder und Alleinautor Neil Cross kurz vorher gefallen, mit DS Ripley eine der niedlichsten Nebenfiguren des Ensembles einfach so abzuknallen. Nur, weil Cross seinem Stoff nicht traute (zu Unrecht), und meinte, dass die Serie schon lange keinen ‚Zoe-ist-tot‘-mäßigen Knalleffekt mehr hatte (brauchte sie auch nicht). Zoes Tod in der ersten Staffel war das zentrale Thema der Geschichte. Ripleys Tod in der dritten Staffel ist kaltherziger Unfug, die Geschichte hätte in jedem Aspekt auch ohne funktioniert. Es wurde theoretisiert, Ripleys Tod solle verdeutlichen, dass der Vigilant mit der Schrotflinte, der dafür verantwortlich ist, in echt keiner von den Guten ist. Ich sage: Das wird auch so klar. Die Entführung und angedrohte Ermordung einer hochschwangeren Unschuldigen hat da ausreichend starke Signalwirkung.

Doch der tote Ripley ist nicht das Hauptproblem, sondern die quicklebendige Alice.

Nicht, dass Missverständnisse aufkommen: Alice ist eine pfiffige Figur und wird von der putzigen Ruth Wilson sehr drollig gespielt. Sie hätte ihre eigene Serie verdient. Aber in Luther ist sie ein Störenfried geworden. Ein faules Requisit, das immer dann rausgeholt wird, wenn Luther sich selbst nicht mehr helfen kann. Sie bombt ihn aus der Haft. Sie tötet stellvertretend den Mörder seiner Frau. Sie tötet den Mörder von Luthers Freund und Kollegen. Sie tötet den Kindermörder, den Luther nur beinahe getötet hat. Die Intention ist klar: Alice symbolisiert Luthers allerdunkelste Seite. Sie ist der veräußerte Schweinehund, den er selbst noch nicht mal dann von der Kette lässt, wenn er Ganoven vom Balkon schubst. Diese Reduzierung allerdings wird Alice‘ Potenzial nicht gerecht. Sie sollte mehr als ein Stellvertreter-Symbol für einen Charakterzug einer anderen Figur sein. Außerdem kann man das, was Luther beinahe tut, und das, was Alice tatsächlich tut, schwerlich auf dieselbe Argumentationskette ziehen. Alice tut, was sie tut, weil sie kein Gewissen hat. Luther hingegen besteht aus so gut wie nichts anderem als Gewissen.

Ob man seine Mittel gutheißt oder nicht: Luther kämpft gegen das Böse. Alice kämpft nur gegen die Langeweile. Wenn nun Luther am Ende der (gottlob vermeintlich) letzten Folge mit Alice Hand in Hand in den Sonnenaufgang spaziert, dann ist das entweder ein Faustschlag ins Gesicht der treuen Zuschauer, oder zumindest eine gepfefferte Backpfeife, je nach Interpretationsansatz.

Interpretationsansatz ‚Faustschlag in das Gesicht des Zuschauers‘: Nach diesem Ansatz hat das Hand-in-Hand-mit-Alice-Ende zu bedeuten, dass Luther nie der war, für den wir ihn gehalten haben. Nie der, für den wir immer wieder eingeschaltet haben. Wenn er mit der durchgeknallten Mörderin durchbrennt, dann war er nie die solitäre stählerne Faust der Gerechtigkeit, sondern nur einer von viel zu vielen. Einer von all diesen öden, blöden Adrenalin-Junkies. Und so einem haben wir unsere Aufmerksamkeit geschenkt? Das hat er nicht verdient. Das haben vor allem wir nicht verdient.

Interpretationsansatz ‚Backpfeife in das Gesicht des Zuschauers‘: Luther war sehr wohl die längste Zeit der, für den wir ihn gehalten haben. Doch auch ein Mann aus Stahl setzt irgendwann Rost an und wird gebrochen. Er musste einfach zu viel einstecken und wusste nicht mehr, was er tat.

Das mag realistisch sein, aber Realismus sollte beim Fernsehen nicht von zentraler Bedeutung sein. Als halbstarker Rabauke hat man für Happy Ends nichts als Spottlieder übrig und gefällt sich darin, die Dunkelheit zu preisen, als wohne ihr eine größere Wahrheit inne als dem Hellen. Mit dem Sammeln von Lebenserfahrungspunkten allerdings schwinden diese Flausen aus den Köpfen und es kommt die Erkenntnis hinein: Wir schalten den Fernseher ein, um das Licht zu sehen. Eine Figur, die uns über drei Staffeln bei allen gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten ein Freund geworden ist, wollen wir am Schluss nicht als gebrochenen Schwachkopf sehen.

Ich entscheide mich dennoch für diesen zweiten Interpretationsansatz, denn der kann durch die neuen Folgen in Würde widerrufen werden. Wollen wir nicht alles, was geschehen ist, überbewerten. Wir kennen schließlich alle solche Tage: zu wenig geschlafen, zu schlecht gegessen, die Freundin wurde entführt, man selbst des Mordes an einem Kollegen beschuldigt, eine Kugel ins Bein geschossen – da kann es schon mal zu Kurzschlusshandlungen kommen. Ein starker Kaffee, eine Mütze Schlaf, den Verband gewechselt – und Luther ist wieder der Alte. Ich bin guter Hoffnung, dass es so in den neuen Folgen kommt.

Bei der anderen großen Fernsehankündigung dieses Jahres habe ich größere Skepsis.

Als ich zum ersten Mal davon hörte, dass Twin Peaks zurückkommt, wurden sofort Erinnerungen an die Große Enttäuschung von 1999 wach. Drei Tage und drei Nächte lang lief damals der Download von Star Wars – Episode I: The Phantom Menace über den Uni-Server, und als man dann endlich im Freundeskreis einen Computer gefunden hatte, der so was abspielen kann … ach, Sie wissen schon. Heute sind die Internetverbindungen schneller, aber die Menschen nicht kreativer. Selbstverständlich werde ich mir die neuen Twin Peaks-Folgen ansehen, und wenn sie gut geworden sind, werde ich zufrieden lächeln. Aber zu großen Hoffnungen mag ich mich nicht hinreißen lassen. Nach dem indiskutablen Inland Empire, den lieb- und einfallslosen Video-, Musik- und Werbewerken der letzten Jahre und seiner beängstigenden wie enttäuschenden Begeisterung für esoterisches Meditationsgedöns halte ich die Hoffnung auf ein überzeugendes neues Werk von David Lynch für in etwa so berechtigt wie die Hoffnung auf ein überzeugendes neues Werk von Dario Argento.

Ich muss außerdem kleinlaut gestehen, dass das gute alte Twin Peaks in zumindest meinen Augen nicht sonderlich gut gealtert ist. Ich habe damals alles mitgemacht: Private Guck-Partys mit Kirschkuchen und Kaffee organisiert, Quizpreise bei offiziellen Twin-Peaks-Mottopartys in Großraumdiskotheken abgeräumt, und ich hatte das Print-Magazin Wrapped in Plastic noch abonniert, als das letzte Secret Diary of Laura Palmer längst verramscht war. Als ich jedoch zur DVD-Veröffentlichung der Serie vor ein paar Jahren die alte Jugendliebe noch einmal neu entflammen wollte, bin ich auf halbem Wege wieder ausgestiegen. Und das obwohl ich stets der stolzen Außenseitermeinung war, dass die zweite Staffel besser gelungen war als die erste; gerade weil so versponnen. Lynch guckt man ja wohl wegen des Lynchigen, nicht weil man wissen will, wer wen wie wo warum umgebracht hat. Dafür gibt es Vorabendkrimis.

Überhaupt wird es so langsam ein bisschen viel mit diesen Nostalgiefortsetzungen. Den Star Wars-Trailer von neulich erspare ich Ihnen an dieser Stelle, sie kennen ihn bestimmt bereits auswendig. Star Wars kann mir eh gestohlen bleiben, ich möchte mein Krieg der Sterne zurückhaben. Der Trailer gibt da Anlass zur Hoffnung, das will ich nicht bestreiten. Doch auf Trailer ist immer seltener Verlass. Die Älteren erinnern sich bestimmt noch an die für Prometheus und Guardians of the Galaxy. Da stellte sich dann später auch heraus, dass es sich bloß um Filme handelte.

Immerhin sieht der Star Wars-Trailer danach aus, als hätte man komplett neues Material gedreht. Ganz anders als ein gewisser anderer Nostalgiefortsetzungstrailer, der so aussieht, als hätte man die ersten vier Filme nur neu zusammengeschnitten und die beliebtesten Bonmots von anderen Schauspielern einsprechen lassen.

Überhaupt, Nostalgie. Mit ihr ist es wie mit dem Sterben. Genauer: wie mit den fünf Sterbephasen nach Kübler-Ross. Die ersten beiden Phasen habe ich hinter mir: Die des Nicht-Wahrhaben-Wollen („Nostalgisch? Ich doch nicht! So was passiert nur den anderen!“) und die des Zornes („Ich werde nie zu einer dieser bescheuerten Drei-Fragezeichen-Playback-Lesungen gehen!“). Ich bin jetzt in der Phase des Verhandelns (was nicht heißt, dass ich jemals zu einer dieser bescheuerten Drei-Fragezeichen-Playback-Lesungen gehen werde): Nostalgie lasse ich dann zu, wenn sie sich auf Dinge bezieht, zu denen ich eigentlich gar keinen starken biografischen Bezug habe. Quasi Phantomnostalgie, eine Nostalgie der verpassten Gelegenheiten. Großen Spaß habe ich auf meine alten Tage zum Beispiel mit den Filmen der Reihe Mad Mission, die ich in jungen Jahren zwar wahrgenommen, aber zunächst nicht angesehen hatte.

Würde jemand in Hongkong diese Serie mal fortsetzen, rebooten oder reimaginieren, würde ich in Sekunden zur glucksenden kleinen Fanperson. Bis dahin gefallen mir die amerikanischen Remakes mit Vin Diesel und Paul Walker allerdings auch ganz gut.

Wie ich Diablo 4 rettete

Vor rund zwei Jahren habe ich mir ein Computerspiel gekauft, und jetzt komme ich endlich dazu, es zu spielen. Denn Diablo III ist das perfekte Spiel für Säuglingseltern. Man kann schnell mal eine Runde einschieben, wenn sich das Kind gerade zu seinem nächtlichen Halbstundenschlaf hat bewegen lassen und der andere Elternteil das unter der Dusche feiert. Gottlob ist das Spiel nicht gut genug, um größeren Trennungsschmerz auszulösen, wenn man sich nach dieser kurzen Zeit der inneren Einkehr und des Monsterzerhackens wieder anderen Herausforderungen stellen muss.

Das ist zwar praktisch, aber in einem gewissen Sinne auch ein bisschen schade. Die vorherigen Diablo-Spiele konnte man schließlich ganze Semesterferien am Stück durchspielen, ohne dass es stinklangweilig wurde. Mag sein, dass der verflossene Reiz und der gedämpfte Enthusiasmus ein bisschen damit zu tun hat, dass 44 eben doch nicht die neue 27 ist. Andererseits komme ich jetzt in genau den Lebensabschnitt, in dem ich mich intellektuell merklich zurückentwickle und mit Wonne jede Prätention fahren lasse (bitte verraten Sie meiner Frau nicht, wie viele Batman-Comics ich mir in den letzten Tagen heimlich heruntergeladen habe). Ich bin mir sicher, dass es nicht an mir liegt, sondern an Diablo 3. Um die Reihe vor sich selbst retten, habe ich einen Fünf-Punkte-Plan aufgestellt, der bei der Produktion des nächsten Spiels befolgt werden muss.

Bevor es losgeht, muss ich mich schon für den ersten Punkt entschuldigen. Es wurde schon so viel über diesen Aspekt gemeckert, dass man sich als Troll fühlt, noch einmal damit anzukommen. Andererseits ist der Troll ja aus der Fantasy kaum wegzudenken, und die Kritik bleibt berechtigt. Wer also den Elefanten im Zimmer, wie man im anglofonen Raum sagt, bereits bemerkt hat, kann gleich zum zweiten Punkt springen.

1. Der Elefant

Der Immer-Online-Zwang selbst für Spieler, die einen heiligen Eid geschworen haben, niemals, niemals, niemals mit anderen Kindern zu spielen, muss weg. Er machte Diablo III für Tage nach der Veröffentlichung unspielbar, sorgte auch danach noch für massive technische Probleme, ist eine Ressourcen fressende, unfreundliche, gruselige Gängelung ehrlicher Käufer. So geht man nicht mit Kunden um, Kunden sind schließlich Könige, und Könige können selbst entscheiden, wann sie online sein möchten.

2. Nicht das Rollenspiel in ‚Action-Rollenspiel‘ vergessen

Liebe Diablo-Entwickler: wir sind zwar blöd, aber nicht so blöd, wie ihr zuletzt wohl gedacht habt. Die Diablo-Spiele betonten die Action in ‚Action-Rollenspiel‘ immer stärker als das Rollenspiel, und das war auch gut so. Wir wollen bloß keine verzweigten Dialog-Bäume, Mitentscheidungspflicht in Handlungsdingen oder Open-World-Unsinn. Die Action war immer die Suppe von Diablo. Doch die Rollenspielelemente, in erster Linie also die sorgsame Pflege und Weiterentwicklung der eigenen Spielfigur, waren stets das Salz. Durch die weitere Reduzierung, vulgo Runterdummung, der rollenspielerischen Elemente in Diablo III schmeckt die Suppe etwas fade. Diablo III ist kaum mehr als ein aufwendig getarntes Arcade-Spiel. Das kann man mal kurz zwischendurch schlürfen, aber es ist kaum ein Hauptgang, wenn ich meine Suppen-Metapher mal überstrapazieren darf. Ich möchte nächstes Mal beim Stufenaufstieg wieder mehr entscheiden dürfen als die Schnellzugriffstaste für die zwangszugeteilte neue Fertigkeit. Ich möchte außerdem mehr Charakterklassen zur Auswahl haben. Oder zumindest welche, die sich unterschiedlich spielen. Habe es bisher als Dämonenjägerin und Mönchin (oder heißt das dann Nonne?) versucht und spielerisch keinen Unterschied feststellen können. Wenn ich mich recht erinnere, war es noch in Diablo II ein ganz anderes Erlebnis, ob man den Barbaren oder die Geisterbeschwörer gab.

In diesem Sinne:

3. Mehr bessere Story

Man kann an der Handlung von Diablo ff. nicht viel aussetzen, weil man sie gar nicht kennt, wenn man ehrlich ist. Oder hat irgendjemand jemals zugehört, wenn irgendwer im Spiel geredet hat? Hat sich jemals jemand die ganzen Auftragsbeschreibungen und anderen Textbeiträge, die man irgendwann zufällig in irgendwelchen Untermenüs findet, wirklich durchgelesen? Hab ich mir gedacht, ich auch nicht. Irgendwas mit Gut und Böse halt, Dunkelheit, Höllenfürsten, hu. Das Spiel ist auch ohne Kenntnis der Handlung spielbar. Daran sollte man nicht rütteln. Andererseits könnte man sich ja mal eine ausdenken, die zum Mithören und Mitlesen zwingt – nicht, weil man sonst nichts verstünde, sondern weil man sich wirklich dafür interessiert? Ich selbst habe übrigens eine geldwerte Story-Idee für ein neues Diablo-Spiel, die ich allerdings ohne Geld niemandem verrate. Es ist eine Idee, die den Spielfluss so unberührt lässt, wie es sich für ein Diablo-Spiel gehört, aber trotzdem mindestens eine garantiert unerwartete, schockierende Wendung hat (kurz vor Showdown, würde ich vorschlagen).

Dafür allerdings müsste man sich …

4. Einfach mal was trauen

Das ästhetische, spielerische und erzählerische Konzept der Diablo-Spiele zu ändern, wäre ein Wagnis. Greift man zu tief ein, maulen die Mäuler: „Pfui Teufel, das ist kein Diablo mehr!“ Macht man derweil weiter wie bisher, skandiert der Wutgamer zu recht: „Unter den Talaren / der Muff von 17 Jahren!“ Behutsame Innovation ist angezeigt. Warum kann man nicht eine andere Perspektive als die ständige Schrägvonoben-Sicht zumindest anbieten? Traditionalisten müssten das Angebot ja nicht annehmen. Möglicherweise ist das technisch ganz furchtbarer Mehraufwand, doch das darf als Gegenargument nicht zählen bei einer Serie, die nur alle Jubeljahre unter viel Premium-Event-Getöse eine neue Folge vom Himmel auf den Markt rieseln lässt. Notfalls kann man ja am Umfang schrauben. Ich habe nie verstanden, warum die Diablo-Fortsetzungen ausgerechnet mit dem Mehr an Umfang gegenüber dem Vorgänger protzten. Quantität ist doch nun wirklich nicht das, was zählt. Gerade bei einem inhärent sehr repetitiven Konzept wie dem der Diablo-Reihe finde ich die Aussicht auf „jeder Nebenauftrag viermal so umfangreich wie das gesamte letzte Spiel!“ eher abschreckend, so viel Zeit habe ich nicht, hatte ich auch präfamiliär nicht.

Und warum muss es überhaupt diese durchgenudelte Europäisches-Mittelalter-Fantasy sein? Die ist doch alt. Warum nicht Tempel, Kirschblüten, fliegende Schwertkämpfer, Cowboys, Indianer und Astronauten? Warum sollte Diablo 4 nicht Diablo 4000 AD sein?

Und dann wäre da noch dieses Thema, fast so leidig wie Punkt 1:

5. Erst veröffentlichen, wenn es in allen Darreichungsformen fertig ist

Hand aufs Herz: niemand spielt freiwillig Computerspiele. Die Dame und der Herr von Welt werden immer die hedonistisch korrekte Konsole dem lustfeindlichen Heimcomputer vorziehen, wenn sie die Wahl haben. Wenn es allerdings zur Veröffentlichung der PC-Version eines lang herbeigehofften Titels nur heißt, die Konsolenversion erscheine „vielleicht höchstwahrscheinlich ganz bestimmt eventuell irgendwann“ greift man vorsichtshalber doch zu diesem vulgären Relikt des 20. Jahrhunderts. Erscheint schließlich die Konsolenversion und gurren alle Vögelchen, sie sei viel besser als die PC-Version (ist sie das jemals nicht?) und laufe sogar ohne Internet (aha! es ist also kein Ding der Unmöglichkeit!), tut sich eine innere Leere auf.

Da fällt mir noch ein Unterpunkt ein: Ein Add-on muss wieder Add-on sein. Es wurden einige Äuglein gerieben, als die Diablo III-Erweiterung Reaper of Souls für die Xbox erschien und nur im Bundle mit dem Originalspiel zum Vollpreis erhältlich war. Meine Äuglein waren unter den geriebenen, denn ich muss hier eine schreckliche Verfehlung gestehen:

Ja, ich gebe zu, ich habe mir Diablo III zähneknirschend für die Xbox noch einmal gekauft (nicht nachmachen, Kinder, das ist sklavenkapitalistisches Unfugsverhalten für Lämmer und andere Opfer, und ich schäme mich dafür jeden Tag), weil meine Abneigung gegen den Heimcomputer inzwischen so groß ist, dass ich daran nur noch sitzen mag, wenn Bücher ins Reine getippt oder Urlaubsfotos manipuliert werden müssen. Ein drittes Mal kaufe ich mir das Spiel allerdings nicht, Add-on hin oder her. Und überhaupt – Reaper of Souls. Irrer Titel. Wie viele Sekunden haben zwei Zwölfjährige denn darüber gebrütet? Ist ihnen nichts mit ‚Oblivion‘ oder ‚Reckoning‘ eingefallen?

Oh, apropos Xbox, da wäre ein weiterer Unterpunkt: Charaktere wollen frei sein sein. Warum darf meine Computer-Dämonenjägerin nicht auf der Xbox spielen? Portieren von Figuren zwischen Systemen sollte heutzutage möglich sein, andere Spiele haben es auch hinbekommen (behaupte ich zumindest, selbst wenn mir gerade keines einfällt), und Online-Features scheint Diablo III ja zu haben.

Danke fürs Zuhören, alles andere kann so bleiben.

(Dieser Beitrag verzichtet auf Illustrationen, weil es im Internet schon genügend Bildschirmaufnahmen von Diablo-Spielen gibt. Sie sehen eh alle gleich aus.)

Ich würde so gerne mal wieder ein Buch kaufen

Und zwar bei dir, lieber stationärer Buchhandel. In letzter Zeit kaufe ich Bücher wieder verstärkt übers Internet. Dabei teile ich sie, all die romantischen Vorstellungen, von denen jetzt überall wieder so viel zu lesen ist (pikanterweise gerade im Internet): die von der kleinen, freundlichen, mit Liebe sortierten Buchhandlung an der Ecke ebenso wie die von dem sonnenlichtdurchfluteten City-Megastore mit Cappuccino-Sitzecke und mehrsprachiger Monsterauswahl. Beides toll, in der Theorie. Ich hätte auch durchaus keine Gewissensbisse, den Internethandel nicht mehr genügend zu unterstützen, wenn ich meine Bücher nicht dort bestellte, wo ich meine Windeln abonniere (also nicht direkt meine Windeln … Sie verstehen schon). Ich unterstütze den Internethandel schon in genügend anderen Bereichen, da kann ich Kulturgüter gern an kulturell wohlfeileren Orten kaufen. Denn die romantische Vorstellung vom Kulturgut Buch teile ich auch, immer noch, trotz der ganzen Lehrerkinder-, Katzenberger-, Torwart- und „Glaub an dich, dann glaubst du an dich“-Bücher da draußen. Die segensreiche Preisbindung kann man meinetwegen gerne auf andere Kulturgüter (Musik, Film, Hörbuch) ausweiten, den Kulturschaffenden und somit auch den Kulturkonsumierenden wird es nützen. Ich hatte in den letzten Jahren durchaus schöne Erlebnisse in real existierenden Buchhandlungen, bin selten ohne Transaktion aus einer hinausgegangen – ob in Bangkok, Barcelona, London, Paris, Seoul, Singapur, Taipeh oder Tokio.

Warum nur kommt das in München, Rothenburg oder Bremen nicht vor? Wieso finde ich dort weder die Dinge, die ich suche (und das ist wirklich selten allzu extravagant; ich bin simpler gestrickt, als ich es selbst wahrhaben möchte), noch Dinge, die ich spontan begehren kann? Die Bücher, die ich mir zuletzt in den Buchhandlungen der zuvor genannten internationalen Angeber-Städte gekauft habe, waren teils genau die, die meiner vorformulierten Kaufabsicht entsprachen, teils verheißungsvolle Zufallsentdeckungen, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte, weder aus der Presse noch von Algorithmen oder Verlagsvorschauen. Letzteres, weil sie von Verlagen stammten, die ich nicht ohne Weiteres auf dem Schirm hatte.

Das wird in einer deutschen Mainstream-Buchhandlung nicht passieren (und nur um solche, vorgeblich breit aufgestellte Buchhandlungen geht es mir – dass es ganz wunderbare fachgebietspezialisierte Läden gibt, stelle ich nicht in Abrede), denn dort wird nichts ins Regal gestellt (geschweige denn auf den Tisch gelegt), was kleiner ist als Heyne. Die Hälfte aller Bücher sieht aus wie Dan Brown, und die Hälfte davon ist bei genauerer Betrachtung auch Dan Brown. Die andere Hälfte ist Pirincci und Sarrazin, also etwas, was ich bei einem Händler mit Gehirn und Gewissen gar nicht sehen möchte. Bei den Kettengeschäften ist das so, weil sie mit den Kettenverlagen kuscheln, beziehungsweise die mit ihnen. Bei den Kleinen ist das womöglich so, weil sie um ihre Existenz bangen und sich Bestseller im Zweifelsfall besser verkaufen als gute Bücher. Dafür vollstes Verständnis, macht den Zustand aber nicht besser. Es ließe sich bestimmt ein Mittelweg finden. Vielleicht mal ein oder zwei Bücher ins Sortiment nehmen, mit denen keiner rechnet. Das wäre ein Anfang, und es wäre bestimmt immer noch genug Platz für Darm mit Charme.

Am Rande sei darauf hingewiesen, dass ich in den meisten der im ersten Absatz erwähnten Auslandsstädte die Landessprache gar nicht genügend beherrsche, um in ihr andere als Miffy-Bücher fließend zu lesen (Abb. unten). Meine wunderschönen Einkaufserlebnisse beziehen sich also im Zweifelsfall lediglich auf die Abteilungen für englischsprachige Bücher in den betreffenden Häusern. Daraus lässt sich der Schluss ziehen: Deren Fremdsprachenabteilungen sind liebevoller bestückt als die Landessprachenabteilungen hiesiger Buchläden. Der Fairness halber sei gesagt, dass es sich in der Mehrzahl nicht um irgendwelche Buchläden handelte, die ich dort besuchte, sondern um bibliophil bekannte Vorzeigegeschäfte. Aber gerade drum sollte man sich an ihnen ein Beispiel nehmen. Wenn man nicht von den Besten lernt, wird’s nicht besser.

Es geht nicht darum, dass jeder Buchhändler jede Underground-Veröffentlichung aus jedem Independent-Knochenbrecher-Verlag vorrätig und im Schaufenster haben sollte. Es geht darum, kleinere Verlage, die genauso professionell arbeiten und anbieten wie jede Random-House-Abteilung, überhaupt in Betracht zu ziehen. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass das außerhalb von Spezialgeschäften geschieht. Ich demonstriere es gern einmal am eigenen Beispiel. Dabei begebe ich mich auf dünnes Eis, denn es klingt leicht jammerlappig, wenn sich Autoren über mangelnde Präsenz der eigenen Titel bei einzelnen Händlern beschweren: „Buhhuhu – die halten meine Bücher in Geiselhaft! Da muss schnell eine Petition/ein offener Brief/der Staat her!“ So ein Blödsinn. Hat’s ein Händler nicht, geht man halt zum nächsten. Ist ja nicht so, dass beim Handel mit Büchern in Deutschland irgendjemand auch nur annähernd ein Monopol hätte (die gegenteilige Unsinnsbehauptung wird auch durch ihre gebetsmühlenartige Wiederholung nicht wahrer; zu meiner Überraschung hat zuletzt ausgerechnet die Taz versucht, ein bisschen empirische Vernunft in eine Debatte zu bringen, in der die meisten nur diffus gefühlsduseln). Trotzdem kann es anstrengend sein, Händler um Händler abzuklappern, bis man ein Buch findet, das nicht von Dan Brown ist und in etwa vielleicht sogar dem Buch entspricht, nach dem man gesucht hat. Ich also bin wie jeder andere Autor auch: wenn ich in einer Buchhandlung bin, schaue ich erst mal unauffällig, ob meine eigenen Bücher vorrätig sind. Drei sind bislang veröffentlicht: eines in einem sehr großen Verlag, eines in einem relativ kleinen Verlag mit kuscheliger Anbindung an einen größeren Verlag, und eines in einem kleinen Verlag, der alles ganz alleine stemmen muss. Das Buch aus dem großen Verlag finde ich so gut wie immer. Das aus dem relativ kleinen Verlag mit guten Beziehungen finde ich angesichts des etwas abseitigen Themas überraschend häufig, auch wenn ich meistens etwas länger suchen muss. Das aus dem kleinen Verlag so gut wie nie. Es geht mir, wie gesagt, nicht um die himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass gerade mein Buch gerade nicht bei Hugendubel auf dem Tisch am Eingang liegt (da liegen ja meist eh die Mängelexemplare und scheinreduzierten Kochbücher). Es geht um das strukturelle Problem, dass dieses Buch – und andere Bücher anderer Autoren, anderer Verlage – im Handel komplett unsichtbar ist, abgesehen vom Internet-Handel. Da hilft auch nicht das ständig breitgetretene Argument, der Buchhandel könne ja jedes lieferbare Buch in Windeseile bestellen. Ich will gar nicht erst davon anfangen, dass man immer wieder auf Mitarbeiter trifft, die das offenbar nicht können. Oder davon, dass es schon etwas anderes ist, ob man ein Buch am nächsten Tag an die Wunschadresse geliefert bekommt, oder nach Feierabend noch mit dem Abholschein in die Stadt hetzen muss, bevor das Ladenschlussgesetz seine hässliche Fratze zeigt. (Ja ja – früher ging es auch ohne Internet und Lieferung frei Haus und ständige Verfügbarkeit von allem. Genauso wie es früher auch ohne Telefon/Heizung/Penicillin ging. Ansprüche ändern sich nun mal mit den Möglichkeiten, darüber gibt es kein Mokieren.) Es geht darum, dass ein Kunde nicht nach einem Buch fragen kann, von dem er gar nicht wissen kann, dass es existiert.

Man muss es so sagen: der große, böse Internet-Handel ist ein Segen für liebenswerte, kleine Verlage und deren liebenswerte, kleine Autoren. Egal, was die Verschwörungstheoretiker gerade behaupten: Algorithmen unterscheiden nicht zwischen opportun und inopportun, allenfalls zwischen gut lieferbar oder nicht so gut lieferbar. Da stehen klein und groß gleichberechtigt nebeneinander.

Ist dies also ein Plädoyer für den hemmungslosen Internet-Kaufrausch? Nein, ich plädiere dafür, dass der stationäre Handel gefälligst ordentlich arbeitet und zumindest ansatzweise die Vielfalt des deutschen Buchmarktes darstellt, verdammt noch eins. Dann klappt’s auch wieder mit uns. Ich komme demnächst zu einem unangekündigten Kontrollbesuch vorbei. Ich will, dass sich bis dahin was geändert hat. Und ich will, dass ich dann mit mindestens einem Buch (kein Kochbuch, kein Mängelexemplar) den Laden verlasse. Davon haben wir beide etwas, lieber, noch immer hochgeschätzter stationärer Buchhandel.