[Sicherheitshinweis: Wie jeder aussagekräftige Sekundärtext geht auch dieser auf den Inhalt seines Primärtextes ein. Oder, im Mimimi-Memmen-Duktus: Spoiler-Warnung.]
Keine Fernsehnachricht hat mich in diesem Jahr so begeistert wie die Ankündigung der vorletzten Woche, es solle zwei neue Folgen Luther geben. Zwei richtige neue Folgen, Folgen aus der Zukunft, keine sinnlose Prequälerei, wie es wohl mal angedacht war. Womit ich nicht sagen möchte, dass alle Prequels sinnlos wären. Allenfalls die allermeisten. Ausnahmen gibt es bestimmt. Wir machen weiter nach einer kurzen Werbeeinblendung.
Wie jeder Mensch mit einem schlagenden Herzen in der Brust liebe ich Luther, obwohl ich einsehe, dass die Serie logisch und psychologisch nicht immer auf dem solidesten Fundament steht und wohl keine Auszeichnungen für Originalität erhalten wird (wie sagte neulich jemand hier im Internet: finally, a cop show!). Sie ist halt eine Naturgewalt, und Naturgewalten halten sich nicht lange mit Kleinigkeiten wie Psychologie und Originalität auf. Mir persönlich ist naturgewaltiger Thrill jederzeit lieber als Fakten-Fakten-Vorabendkrimi.
Das Versprechen zweier neuer Luther-Folgen ist wie ein Versprechen, dass nun doch noch alles gut wird. Dass die dritte Staffel doch nur die dritte Staffel war, und nicht das Schlusskapitel, als die sie uns zunächst um die Ohren gehauen wurde.
Wir erinnern uns an das Ende mit Schrecken: Luther hatte gerade begonnen, zarte Bande zur klugen, attraktiven, charmanten, furchtlosen Mary zu knüpfen, nur um dann letztendlich doch mit der durchgeknallten Mörderin Alice durchzubrennen. Mary war übrigens entgegen anders lautenden Gerüchten ganz und gar keine langweilige Figur. Es sei denn, man definiert ‚langweilig‘ als: jeder, der kein durchgeknallter Mörder ist. Als wäre dieser Unsinn nicht Unsinn genug, hatte es dem Herrn Serienerfinder und Alleinautor Neil Cross kurz vorher gefallen, mit DS Ripley eine der niedlichsten Nebenfiguren des Ensembles einfach so abzuknallen. Nur, weil Cross seinem Stoff nicht traute (zu Unrecht), und meinte, dass die Serie schon lange keinen ‚Zoe-ist-tot‘-mäßigen Knalleffekt mehr hatte (brauchte sie auch nicht). Zoes Tod in der ersten Staffel war das zentrale Thema der Geschichte. Ripleys Tod in der dritten Staffel ist kaltherziger Unfug, die Geschichte hätte in jedem Aspekt auch ohne funktioniert. Es wurde theoretisiert, Ripleys Tod solle verdeutlichen, dass der Vigilant mit der Schrotflinte, der dafür verantwortlich ist, in echt keiner von den Guten ist. Ich sage: Das wird auch so klar. Die Entführung und angedrohte Ermordung einer hochschwangeren Unschuldigen hat da ausreichend starke Signalwirkung.
Doch der tote Ripley ist nicht das Hauptproblem, sondern die quicklebendige Alice.
Nicht, dass Missverständnisse aufkommen: Alice ist eine pfiffige Figur und wird von der putzigen Ruth Wilson sehr drollig gespielt. Sie hätte ihre eigene Serie verdient. Aber in Luther ist sie ein Störenfried geworden. Ein faules Requisit, das immer dann rausgeholt wird, wenn Luther sich selbst nicht mehr helfen kann. Sie bombt ihn aus der Haft. Sie tötet stellvertretend den Mörder seiner Frau. Sie tötet den Mörder von Luthers Freund und Kollegen. Sie tötet den Kindermörder, den Luther nur beinahe getötet hat. Die Intention ist klar: Alice symbolisiert Luthers allerdunkelste Seite. Sie ist der veräußerte Schweinehund, den er selbst noch nicht mal dann von der Kette lässt, wenn er Ganoven vom Balkon schubst. Diese Reduzierung allerdings wird Alice‘ Potenzial nicht gerecht. Sie sollte mehr als ein Stellvertreter-Symbol für einen Charakterzug einer anderen Figur sein. Außerdem kann man das, was Luther beinahe tut, und das, was Alice tatsächlich tut, schwerlich auf dieselbe Argumentationskette ziehen. Alice tut, was sie tut, weil sie kein Gewissen hat. Luther hingegen besteht aus so gut wie nichts anderem als Gewissen.
Ob man seine Mittel gutheißt oder nicht: Luther kämpft gegen das Böse. Alice kämpft nur gegen die Langeweile. Wenn nun Luther am Ende der (gottlob vermeintlich) letzten Folge mit Alice Hand in Hand in den Sonnenaufgang spaziert, dann ist das entweder ein Faustschlag ins Gesicht der treuen Zuschauer, oder zumindest eine gepfefferte Backpfeife, je nach Interpretationsansatz.
Interpretationsansatz ‚Faustschlag in das Gesicht des Zuschauers‘: Nach diesem Ansatz hat das Hand-in-Hand-mit-Alice-Ende zu bedeuten, dass Luther nie der war, für den wir ihn gehalten haben. Nie der, für den wir immer wieder eingeschaltet haben. Wenn er mit der durchgeknallten Mörderin durchbrennt, dann war er nie die solitäre stählerne Faust der Gerechtigkeit, sondern nur einer von viel zu vielen. Einer von all diesen öden, blöden Adrenalin-Junkies. Und so einem haben wir unsere Aufmerksamkeit geschenkt? Das hat er nicht verdient. Das haben vor allem wir nicht verdient.
Interpretationsansatz ‚Backpfeife in das Gesicht des Zuschauers‘: Luther war sehr wohl die längste Zeit der, für den wir ihn gehalten haben. Doch auch ein Mann aus Stahl setzt irgendwann Rost an und wird gebrochen. Er musste einfach zu viel einstecken und wusste nicht mehr, was er tat.
Das mag realistisch sein, aber Realismus sollte beim Fernsehen nicht von zentraler Bedeutung sein. Als halbstarker Rabauke hat man für Happy Ends nichts als Spottlieder übrig und gefällt sich darin, die Dunkelheit zu preisen, als wohne ihr eine größere Wahrheit inne als dem Hellen. Mit dem Sammeln von Lebenserfahrungspunkten allerdings schwinden diese Flausen aus den Köpfen und es kommt die Erkenntnis hinein: Wir schalten den Fernseher ein, um das Licht zu sehen. Eine Figur, die uns über drei Staffeln bei allen gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten ein Freund geworden ist, wollen wir am Schluss nicht als gebrochenen Schwachkopf sehen.
Ich entscheide mich dennoch für diesen zweiten Interpretationsansatz, denn der kann durch die neuen Folgen in Würde widerrufen werden. Wollen wir nicht alles, was geschehen ist, überbewerten. Wir kennen schließlich alle solche Tage: zu wenig geschlafen, zu schlecht gegessen, die Freundin wurde entführt, man selbst des Mordes an einem Kollegen beschuldigt, eine Kugel ins Bein geschossen – da kann es schon mal zu Kurzschlusshandlungen kommen. Ein starker Kaffee, eine Mütze Schlaf, den Verband gewechselt – und Luther ist wieder der Alte. Ich bin guter Hoffnung, dass es so in den neuen Folgen kommt.
Bei der anderen großen Fernsehankündigung dieses Jahres habe ich größere Skepsis.
Als ich zum ersten Mal davon hörte, dass Twin Peaks zurückkommt, wurden sofort Erinnerungen an die Große Enttäuschung von 1999 wach. Drei Tage und drei Nächte lang lief damals der Download von Star Wars – Episode I: The Phantom Menace über den Uni-Server, und als man dann endlich im Freundeskreis einen Computer gefunden hatte, der so was abspielen kann … ach, Sie wissen schon. Heute sind die Internetverbindungen schneller, aber die Menschen nicht kreativer. Selbstverständlich werde ich mir die neuen Twin Peaks-Folgen ansehen, und wenn sie gut geworden sind, werde ich zufrieden lächeln. Aber zu großen Hoffnungen mag ich mich nicht hinreißen lassen. Nach dem indiskutablen Inland Empire, den lieb- und einfallslosen Video-, Musik- und Werbewerken der letzten Jahre und seiner beängstigenden wie enttäuschenden Begeisterung für esoterisches Meditationsgedöns halte ich die Hoffnung auf ein überzeugendes neues Werk von David Lynch für in etwa so berechtigt wie die Hoffnung auf ein überzeugendes neues Werk von Dario Argento.
Ich muss außerdem kleinlaut gestehen, dass das gute alte Twin Peaks in zumindest meinen Augen nicht sonderlich gut gealtert ist. Ich habe damals alles mitgemacht: Private Guck-Partys mit Kirschkuchen und Kaffee organisiert, Quizpreise bei offiziellen Twin-Peaks-Mottopartys in Großraumdiskotheken abgeräumt, und ich hatte das Print-Magazin Wrapped in Plastic noch abonniert, als das letzte Secret Diary of Laura Palmer längst verramscht war. Als ich jedoch zur DVD-Veröffentlichung der Serie vor ein paar Jahren die alte Jugendliebe noch einmal neu entflammen wollte, bin ich auf halbem Wege wieder ausgestiegen. Und das obwohl ich stets der stolzen Außenseitermeinung war, dass die zweite Staffel besser gelungen war als die erste; gerade weil so versponnen. Lynch guckt man ja wohl wegen des Lynchigen, nicht weil man wissen will, wer wen wie wo warum umgebracht hat. Dafür gibt es Vorabendkrimis.
Überhaupt wird es so langsam ein bisschen viel mit diesen Nostalgiefortsetzungen. Den Star Wars-Trailer von neulich erspare ich Ihnen an dieser Stelle, sie kennen ihn bestimmt bereits auswendig. Star Wars kann mir eh gestohlen bleiben, ich möchte mein Krieg der Sterne zurückhaben. Der Trailer gibt da Anlass zur Hoffnung, das will ich nicht bestreiten. Doch auf Trailer ist immer seltener Verlass. Die Älteren erinnern sich bestimmt noch an die für Prometheus und Guardians of the Galaxy. Da stellte sich dann später auch heraus, dass es sich bloß um Filme handelte.
Immerhin sieht der Star Wars-Trailer danach aus, als hätte man komplett neues Material gedreht. Ganz anders als ein gewisser anderer Nostalgiefortsetzungstrailer, der so aussieht, als hätte man die ersten vier Filme nur neu zusammengeschnitten und die beliebtesten Bonmots von anderen Schauspielern einsprechen lassen.
Überhaupt, Nostalgie. Mit ihr ist es wie mit dem Sterben. Genauer: wie mit den fünf Sterbephasen nach Kübler-Ross. Die ersten beiden Phasen habe ich hinter mir: Die des Nicht-Wahrhaben-Wollen („Nostalgisch? Ich doch nicht! So was passiert nur den anderen!“) und die des Zornes („Ich werde nie zu einer dieser bescheuerten Drei-Fragezeichen-Playback-Lesungen gehen!“). Ich bin jetzt in der Phase des Verhandelns (was nicht heißt, dass ich jemals zu einer dieser bescheuerten Drei-Fragezeichen-Playback-Lesungen gehen werde): Nostalgie lasse ich dann zu, wenn sie sich auf Dinge bezieht, zu denen ich eigentlich gar keinen starken biografischen Bezug habe. Quasi Phantomnostalgie, eine Nostalgie der verpassten Gelegenheiten. Großen Spaß habe ich auf meine alten Tage zum Beispiel mit den Filmen der Reihe Mad Mission, die ich in jungen Jahren zwar wahrgenommen, aber zunächst nicht angesehen hatte.
Würde jemand in Hongkong diese Serie mal fortsetzen, rebooten oder reimaginieren, würde ich in Sekunden zur glucksenden kleinen Fanperson. Bis dahin gefallen mir die amerikanischen Remakes mit Vin Diesel und Paul Walker allerdings auch ganz gut.
Sensationsmeldung des Jahres: Wir haben von Weihnachten noch Schokolade übrig! Zu den besonders gut gemeinten Exemplaren unterm Baum gehört dieses:
Wir haben diese Tafel schnell ‚Keanu-Schokolade‘ getauft. Das Präfix ‚Keanu-‘ hat sich in unserem Haushalt für Produkte, Speisen und Dienstleistungen durchgesetzt, die bemüht asiatisch daherkommen, ohne aus Asien zu kommen. Selbstverständlich benutzen wir den Begriff eher zuneigend als herablassend. Es ist der Gedanke, der zählt. Man kann nicht von jedem schleswig-holsteinischen Chocolatier erwarten, dass er zwischen ji und tera/dera zu unterscheiden vermag, schreibt sich schließlich alles gleich (寺), heißt das gleiche (Tempel), wird nur kontextabhängig anders gelesen. Vielleicht klang dem Chocolatier tera auch zu sehr nach einem Hauch von Terror.
Schon mit diesem bloßen Hinweis begebe ich mich auf dünnes Eis, denn als Enthusiast sollte man tunlichst darauf achten, nicht den schmalen Grat zwischen enthusiastischem Mitteilungsdrang und verbitterter Besserwisserei zu überschreiten (der schmale Grat verläuft auf dünnem Eis, stelle ich gerade fest). Verbitterte Besserwisserei macht hässlich und einsam, man hängt irgendwann nur noch mit anderen verbitterten Besserwissern rum, mit denen man sich naturgemäß auch irgendwann überwirft.
Also nicht aufregen und in aller Ruhe Keanu-Schokolade schnuckern, gerne auch cineastische Keanu-Schokolade:
Ich freue mich darauf, seit ich zum ersten Mal den ersten Trailer gesehen habe. Nicht, weil ich ein Anknüpfen an die Samurai-Dramen Kurosawas erwarte, sondern eines an das Große Alberne Hongkong-Kino Tsui Harks erhoffe. Dass die verbitterten Besserwisser solche Filme nicht verstehen, ist bekannt und sollte nicht weiter irritieren. Es sei ihnen von einem Enthusiasten gesagt: Extreme künstlerische Freiheit in der Nacherzählung der Legende um die 47 Ronin hat in Japan Tradition. Diese Freiheit kann man anderen kaum verwehren. Gerne dürfen auch Keanu & Co. ein paar Unsinnigkeiten hinzufantasieren. Und Hand aufs Herz: Ohne Robert De Niro hätten Sie doch eh noch nie was von dieser Geschichte gehört.
Ich habe 47 Ronin zwar noch nicht gesehen und behalte mir das Recht vor, später den Wendehals zu machen. Aber fürs erste finde ich es ganz, ganz gemein, dass der Film so gemeine Kritiken bekommen hat. Man könnte glauben, die Menschheit habe inzwischen den Geist des ‚Cheer Up Keanu Day‘ völlig vergessen. Wer Keanu nicht liebt, ist nicht fähig zu lieben. Selbstverständlich sind die Matrix-Filme total bekloppt. Doch sie sind mit einer solchen künstlerischen Konsequenz bekloppt, dass man davor schon Respekt haben muss. Da hat jemand stur die Geschichte zu Ende erzählt, die er erzählen wollte, auch wenn schnell klar wurde, dass niemand sie so zu Ende hören will. Keanu ist immer mit so viel Herzblut bei der Sache, dass man ganz vergessen kann, dass seine Filme in der Mehrzahl gar nicht seine Filme sind. Sind sie aber doch, Keanu-Filme sind immer Keanu-Filme, andere Beteiligte egal. Das steht so fest, dass ich jetzt sogar zu faul bin, den Namen der Matrix-Geschwister zu googeln. Keanu allein ist verantwortlich. Keanu ist darüber hinaus der einzige Schauspieler, bei dem ich mir nicht plump vertraulich vorkomme, wenn ich ihn beim bloßen Vornamen nenne. Er ist einfach kein Reeves.
Bei der Kritik an 47 Ronin wird häufig die These aufgestellt, die Japaner könnten ihre eigenen Legenden viel besser selbst verfilmen und hätten es nicht nötig, sich ausgerechnet von den Amis etwas vormachen zu lassen. Das jedoch ist Wunschdenken. Man muss es leider sagen, wie es ist: Die Japaner können’s nicht (mehr), und irgendwer muss es ihnen ja (wieder) vormachen. Das japanische Kino steckt seit geraumer Zeit in einer seltsamen Krise. Das E-Kino wirft gelegentlich das eine oder andere Juwel ab (wenn auch nicht mehr mit der gleichen Verlässlichkeit wie zu Glanzzeiten), aber das große U-Kino operiert nur noch auf Til-Schweiger-Niveau. Filme, die ohne Zuschauerkonditionierung durchs Landesfernsehen kein Schwein interessieren würden und die deshalb die Reise ins Ausland gar nicht erst antreten, zumindest nicht im großen Stil. Dabei könnte man, wenn man wollte. Es müssten nur mal die richtigen Leute zusammen wollen. Gutaussehender dramaturgischer Murks wie Space Battleship Yamato (wir berichteten hier, inklusive Keanu-Tofu) oder Rurouni Kenshin zeigen, dass das technische Verständnis da ist, auf koreanischem oder amerikanischem Hochglanz-Niveau zu produzieren. Pappig gemachte aber brillant konzipierte Filme wie die der Death Note– und 20th Century Boys-Reihen beweisen, dass es durchaus Autoren gibt, die komplexe Geschichten unterhaltsam erzählen können. Jetzt müssten nur mal die einen mit den anderen. Dann bräuchten wir auch Keanu nicht mehr. Zumindest nicht dafür. Dann könnte er endlich Bill und Teds endkrasser Trip nach Legoland (aka Matrix 4) machen.
So weit ist es schon gekommen: Als ich neulich heimlich die Vorgarten-Produktion Salvage Mice netflixte, überkam mich ein lange nicht mehr gefühltes Glücksgefühl. Denn mir wurde bewusst: Das war der amüsanteste japanische Film, den ich seit sehr langem gesehen habe. Dieses Bewusstsein ist ein schmerzliches, denn in besseren Zeiten wäre jenes Filmchen für kaum mehr als ein Schmunzeln zwischendurch gut gewesen.
Wie die Schokolade schmeckt, weiß ich übrigens noch nicht. Ich nehme sie in vier Wochen mit ins Kino.
Ein bisschen aus Neugier, ein bisschen aus vorauseilender, infantiler Schadenfreude habe ich mir kürzlich das neue Album von New Model Army gekauft. Meine Schadenfreude konnte nicht befriedigt werden, mein Geld war gut angelegt, es ist ein schönes, kleines, entspanntes Alterswerk geworden von jemandem, der große Alterswerke nicht nötig hat. Textlich viel Pathos, musikalisch wenig Patina. Schon beim ersten Hören war mir der Song ‚Knievel‘ positiv aufgefallen. Sofort dachte ich: Falls die Filmserie Fast and Furious sich mal entscheiden sollte musikalisches Neuland zu betreten, würde sich dieses Stück anbieten.
Drum wollen wir es heute kurz enteignen und für mindestens drei Minuten Paul Walker gedenken. Sieht so aus, als wurde das Video aus Gründen der Gerechtigkeit von Youtube entfernt. Drum an dieser Stelle das offizielle Paul-Walker-Abschiedsvideo. So viel Sentimentalität muss sein.
Evil Knievel kann das Lied morgen zurück haben.
Die Fast and Furious-Filme wird man noch in 10, 50, wahrscheinlich 100 Jahren gerne sehen. Sie werden nicht mehr modern sein, aber charmant gealtert, wie es nur herzensgute B-Movies können. Das Haltbarkeitsdatum von Independent- und Kunstkino ist meist schnell überschritten. Was man einmal genial und bewegend fand, ist einem ca. fünf Jahre später ein bisschen unangenehm. Arthouse-Filme beschreiben immer nur eine sehr spezifische, vorübergehende innere Befindlichkeit von Individuen oder Massen, die man irgendwann nicht mehr recht nachvollziehen kann, beziehungsweise der man entwachsen wird. Die Themen, die B-Movies wie The Fast and the Furious verhandeln (Kameradschaft, Brüderlichkeit, sticking it to the Man, Eierkuchen) sind hingegen zeitlos. Sie versuchen uns nicht krampfhaft zu erklären, wie wir leben, sondern sie erzählen uns spielerisch, wir leben wollen. Diese Mischung aus zeitlosen Sehnsüchten und schnell veraltetem, schnell nostalgisch verklärbarem Dekor macht den Reiz guten Unterhaltungskinos aus. Paul Walker ist wichtiger Teil des nächsten cineastischen Klassiker-Kanons.
Ich hab ihn von Anfang an nicht gemocht. Diese stahlblauen Augen. Dieser Wuschelkopf. Männer ohne stahlblaue Augen und Wuschelkopf mögen halt keine Männer mit stahlblauen Augen und Wuschelkopf. Aus Neid dichten sie ihnen gewisse Unzulänglichkeiten an, zum Beispiel einen Mangel an Intelligenz und Talent, weil es schließlich nicht möglich sein darf, dass jemand gutaussehend UND klug ist.
Keine Ahnung, was Paul Walker in seinem Wuschelkopf hatte. In der Fast and Furious-Serie ist er mir jedenfalls doch noch ans Herz gewachsen. Einen Mangel an Talent werde ich ihm also nicht absprechen können, verdammt.
Nun ist er unsterblich, sein Gesicht darf rechtens neben Steve McQueen und Bruce Lee in einen Fels gemeißelt werden. Das ist ein bisschen tröstlich. Schöner wäre, wenn er noch ein bisschen länger sterblich geblieben wäre.
It always bothers me to see people writing ‚RIP‘ when a person dies. It just feels so insincere and like a cop-out. To me, ‚RIP‘ is the microwave dinner of posthumous honors. — Lou Reed
Als sich vor ein paar Jahren die Band Suede wieder vertragen hat, hätte ich fast das getan, was ich normalerweise nur für Alte Meister der Schönen Künste tue: ein fremdes Land bereisen (genauer das England), um die Sache mit eigenen Augen zu sehen. Doch kam etwas dazwischen. War nicht schlimm, dachte ich vor ein paar Monaten, denn es kündigte sich ein Konzert in München an, was mit öffentlichen Verkehrsmitteln viel besser zu erreichen ist. Ich habe mir eine Karte kommen lassen und mich auf den 19. November gefreut.
Ich freue mich immer noch auf den 19. November, aber zu Suede kann ich jetzt nicht mehr. Ich musste abwägen zwischen der besten britischen Band der Neunziger und dem seit Jahrzehnten bedeutendsten amerikanischen Gegenwartsautoren. Ich habe mich für Stephen King entschieden. Ausschlaggebend war in erster Linie Sentimentalität. Sentimentalität beflügelt freilich nichts besser als Musik. Suede indes gehört bei aller Hingabe nicht zu den Bands, die mir in meinen formativen Jahren die Tränen getrocknet haben (dafür kamen sie zu spät). Überhaupt habe ich sie richtig erst zu schätzen gelernt, als sie sich schon vorübergehend aufgelöst hatten. Zuvor war mir immerhin wohlwollend aufgefallen, dass sie einmal einen vage Twin-Peaks-haften Videoclip hatten machen lassen, was ich zwar nicht unbedingt originell, aber doch sympathisch fand.
Ein Jahrtausend später holte ich mir ihr Singles-Albums Singles, hörte es mir an, faltete die Hände und betete: Lieber Gott, wenn du jemals alle Lieder von meiner Festplatte löschen solltest, bitte verschone diese!
Eine Band erst nach ihrer hauptsächlichen Schaffensperiode kennenzulernen hat Vorteile. Man kann sich die Oliven (Rosinen mag ich nicht) rauspicken und muss nicht in schmerzhafter Echtzeit all die typischen Verfallserscheinungen mitbekommen, die immer klare Indikatoren für baldige Bandauflösungen sind (Stilwechsel, Umbesetzungen, Bartwuchs). Andererseits verpasst man auch das Gute, den Sturm, den Drang, die Protzpriviliegien, dass man das alles schon kannte, bevor „alle“ es cool fanden.
Wenn die Zeiten vorbei sind, dass man jeden Morgen hinter der Indie-Dorfdisco in einer Bierlache auf hartem Asphalt aufwacht, ein gepiercetes Parka-Girlie mit verquollenen Augen an seiner Seite, verbindet man irgendwie keine guten Geschichten mehr mit Musik. Das Beste, was ich über Suede und mich erzählen könnte: Zu der Musik kann man gut joggen. Das klingt fast so läppisch wie: Zu der Musik kann man gut Auto fahren. Es wäre gelogen, würde ich behaupten, dass ich Menschen, die so etwas sagen, gewohnheitsmäßig die Freundschaft kündige. Tatsächlich funktioniert mein Instinkt so tadellos, dass ich mit ihnen gar nicht erst Freundschaft schließe.
Ein bisschen hinkt der Vergleich zum Glück schon. Zwar mangelt es mir an eigener Erfahrung, doch könnte ich mir vorstellen, dass man sich beim Autofahren konzentrieren muss, auf die Straße achten, dass man ausnahmsweise keinen umbringt, zum Beispiel Jogger. Beim Sport hingegen kann man seinen Gefühlen freien Lauf lassen, auch mal ganz in der Musik aufgehen. Sie ist also beim Sport anders als beim Fahren keine bloße Hintergrundberieselung, sondern kann durchaus als Hauptsache en détail gewürdigt werden. Zumindest, wenn man es richtig macht. Man darf es mit dem Meister aller Sportmotivatoren halten:
Mir fällt gerade ein: Etwas popwürdiger als die Gute-Musik-zum-Joggen-Anekdote ist vielleicht, wie ich einmal die traumhafte Suede-Ballade „Trash“ in einer Karaoke-Kabine in Takadanobaba gesungen habe. Wenn ich mich doch nur noch vernünftig daran erinnern könnte. Was in Karaoke-Kabinen in Takadanobaba passiert, bleibt in Karaoke-Kabinen in Takadanobaba.
(Nachstellung, nicht ich in dem Video)
Es gäbe für mich also keinen wirklich triftigen Grund, bei einem Suede-Konzert Schlüpfer zu werfen. Bei Stephen King hingegen werfe ich gerne Schlüpfer aufs Podium, wenn er am 19. November anlässlich des Krimi-Festivals in München lesen wird. (Ich habe übrigens vor, nächstes Jahr selbst dort zu lesen, auch wenn die Veranstalter noch nichts davon ahnen. Wahrscheinlich nicht im Circus Krone, eher in einem Thai-Sushi-Imbiss mit drei Plätzen. Dafür wird es wahrscheinlich auch unter 29 Euro pro Person kosten.)
Meine erste Begegnung mit Stephen King hat so vieles bewirkt (bei mir), dass ich ganz genau weiß, wo ich anfangen muss. Ich war 14 Jahre alt und der Film Christine kam in die deutschen Kinos. Da ging es um ein Killerauto aus der Hölle, das musste ich sehen.
Ich hatte mich zum Kinobesuch mit einem Jungen aus meiner Bande verabredet, nennen wir ihn Tom. Leider war der Horrorschocker ab 16 Jahre freigegeben. Die Kinokartenverkäuferin fragte uns: „Na, wie alt seid ihr denn?!“
Ich sagte wie aus der Pistole geschossen: „16!“, und blieb die Coolness selbst, bilde ich mir ein.
Tom sagte: „Äh … äh… 16 …?“, und wurde rot wie eine Tomate. Wo er Tomaten noch nicht mal mochte.
Wir haben also Christine an diesem Tag nicht gesehen. Stattdessen habe ich mir den Roman gekauft und danach war nichts mehr, wie es einmal war. Ich hatte nicht für möglich gehalten, dass derlei fesselnd von ganz normalen Menschen in der ganz normalen Welt erzählt werden konnte. Das Horrorauto war mir schnell völlig schnurz. Zuvor hatte ich nur Bücher gelesen, in denen es um Kampfraumschiffkommandeure oder prähistorische Barbaren ging. Stephen King und Stephen King allein führte mich von Jugendbüchern zu Erwachsenenbüchern, von Vergangenheits- und Zukunftsthemen zu Gegenwartsthemen, machte aus meinem unverbindlichen Interesse am Horrorgenre eine leidenschaftliche Liebe.
Ich habe Christine bis heute kein zweites Mal gelesen. Gut möglich, dass es nicht Kings stärkstes Werk ist. Bei der qualitativen Durchnummerierung seiner Bücher, die in letzter Zeit ein besonders beliebter Feuilletonsport zu sein scheint, landet es meist auf den hinteren Plätzen. Man mokiert sich hin und wieder, King habe das Motiv des bösen Autos ein paarmal zu häufig bemüht. Das allerdings ist ein Denkfehler. Das Automobil ist schließlich der offizielle Transporteur des Amerikanischen Traumes, und das Aufzeigen des Alptraumhaften daran ist Stephen Kings Dauerthema, wie es das Dauerthema jedes anderen zeitgenössischen amerikanischen Autoren ist, der was auf sich hält. King hat im Laufe der Jahrzehnte ein paar Gurkenbücher geschrieben, also genau so wie Philip Roth oder John Updike, aber das Wiederverwenden von Motiven muss man ihm nicht vorwerfen, das ist eine zulässige literarische Praxis. Das Spukauto ist moderner und amerikanischer als das Spukhaus, das als Konzept inzwischen doch ein wenig zu 19. Jahrhundert, ein bisschen zu sehr Alte Welt ist.
Das ist mehr Autoverteidigung, als Sie jemals wieder von mir hören werden. Eigentlich geht es darum: Wer also meine Suede-Karte haben möchte, soll sich melden. Die Person mit der rührendsten Geschichte gewinnt. Zuerst wollte ich zur Bedingung machen, dass die Geschichte Suede-Bezug haben muss. Allerdings haben Menschen mit rührenden Suede-Geschichten wahrscheinlich schon eine Karte und ich bin kein Unmensch. Es kann irgendeine Geschichte sein. Nur sputen müssen Sie sich, das alles findet schließlich schon nächste Woche Dienstag statt.
Bonuspunkte gibt es für die Verwendung des Begriffs „Heiliger Bimbam“. Ich lese gerade parallel den Stephen-King-Roman Doctor Sleep und Ben Winters‘ famosen präapokalyptischen Krimi Der letzte Polizist, beide aus journalistischer Sorgfaltspflicht in der deutschen Übersetzung. Ich bin begeistert, dass beide Bücher den schon etwas in Vergessenheit geratenen Kraftausdruck „Heiliger Bimbam“ energisch zum Comeback befeuern. Bitte alle mitmachen. Wir dürfen jetzt nicht nachlassen.
„Herr Ober, bitte verzeihen Sie diese sinnlose Überschrift, aber ich stehe gerade etwas neben mir. Da ist ein langes schwarzes Haar in meinem Milchmixgetränk …“
„Keine Sorge, mein Herr! Das ist nur von der untoten Hexe, die da gerade aus dem Brunnen gekrochen ist!“
„Ach, wie putzig! Na denn, wohl bekomm’s!“
Ganz unkontrovers ist das Wahlergebnis nicht, doch es ist eindeutig: Die 16-jährige Fuka Koshiba wird die Kiki in der Realverfilmung von Kikis kleiner Lieferservice spielen (in der Zeichentrickversion einer der besseren Filme von Hayao Miyazaki).
(Das sind keine Achselhaare, das ist nur ungünstig fotografiert.)
Über die Richtigkeit dieser Entscheidung mögen die Neidhammel und Besserbesetzer noch debattieren, doch der erwählte Regisseur sollte über jeden Zweifel erhaben sein: Wer könnte besser geeignet sein für diese Aufgabe als Takashi Shimizu, der Regisseur von Ju-On: The Grudge und Rabbit Horror 3D? Vergleichen Sie selbst:
Ehe der Monat ganz ohne Wortmeldung verstreicht, schnell der Hinweis, dass ich jüngst noch ein Buch besprochen habe, und zwar Schöne Ruinen von Jess Walter.
Von den beiden Büchern, die ich selbst gerade schreibe, erscheint eines im rührigen Conbook Verlag. Dort war man so gut, mir schon jetzt eine kleine Seite einzurichten.
Ach, wo ich schon mal hier bin, muss ich doch noch etwas loswerden. Neulich wollte ich fernsehen und habe mir für diese herrliche Retro-Beschäftigung herrlich retro eine Programmillustrierte gekauft (ja, gibt es noch, hat mich auch gewundert). Ich schlug sie an einer zufälligen Stelle auf und ließ meine Augen an einen zufälligen Punkt wandern. Ich stellte fest, dass ich die Wahl hatte zwischen etwas namens Beziehungen und andere Katastrophen und Männer und andere Katastrophen.
Ich weiß, dass ich nicht in der Position bin, Forderungen zu stellen, aber das hindert mich genauso wenig wie alle anderen Menschen vom Planeten Erde daran trotzdem welche zu stellen, wenn mir eine Laus über die Leber gelaufen ist: Ich fordere hiermit, dass keine Filme, TV-, Theater- und Audioproduktionen, Romane, Essays, Softwareapplikationen u. ä. mehr veröffentlicht werden, deren Titel ironisch auf „und andere Katastrophen“ oder – wo wir schon dabei sind – „und andere Kleinigkeiten“ enden. Es gibt bereits genug davon und es hat spätestens nach dem ersten Mal aufgehört, witzig zu sein. Diese niemals aussterbende Marotte erinnert unangenehm an den noch immer grassierenden Reloaded-Unfug, der vor Jahren durch einen Film in die Welt kam, den noch nicht mal irgendjemand mochte, wenn ich mich recht erinnere. Der Kleinigkeiten-Unfug kommt vielleicht von Verbrechen und andere Kleinigkeiten, einer von Woody Allens sechs besten Filmen (fragen sie nicht nach den anderen fünf, ich habe zufällig eine Zahl gewählt), der für seinen deutschen Titel nichts kann.
Auf dem Buchmarkt scheint der Katastrophen-Kleinigkeiten-Unfug noch verbreiteter als auf dem Filmmarkt. Ganz besonders schlimm trifft es die Vampire: Es gibt sowohl Vampire und andere Katastrophen wie auch Vampire und andere Kleinigkeiten. Lesen möchte ich keins von beiden, der Titel versaut es mir, schönen Dank auch.
Als ich übrigens in meiner Programmillustrierten den Titel Männer und andere Katastrophen sah, dachte ich spontan: Würg, könnte direkt ein Kerstin-Gier-Titel sein. Jetzt stelle ich bei meiner Recherche fest: Ist tatsächlich ein Kerstin-Gier-Titel (allerdings AUCH einer von einer gewissen Franziska Becker, während eine andere Autorin auf Mütter, Männer und andere Katastrophen erhöht).
Rechtlicher Hinweis
Ich gehe davon, dass Kerstin Gier ein tadelloser Mensch ist. Ich habe keines ihrer bestimmt zu Recht sehr populären Bücher gelesen, weshalb ich mir über deren Inhalte kein Urteil anmaßen möchte. Als objektive Tatsache kann ich nur feststellen, dass die Titel bekloppt sind.
Meine große Bitte fürs neue Jahr an alle, die Texte für die Öffentlichkeit schreiben, ganz egal ob Zeitungskolumnen, Illustriertenartikel, Gedichte, Kochrezepte, Werbesprüche, Drehbücher, Strickmuster, Pressemitteilungen, Liedtexte, Produktbeschreibungen, Gebrauchsanweisungen, Tweets oder offene Briefe: Bitte, bitte, so verführerisch es auch sein sollte, und so umwerfend clever es Ihnen erscheinen mag – halten Sie unbedingt Abstand davon, jetzt jeden Ausdruck, jede Floskel, jede Schlag- und Titelzeile mit ‚Unchained‘ zu beenden. Wir haben dieses Elend schon mit ‚Reloaded‘ und ‚Quantum‘ durchgemacht. Wir haben es zwar überlebt, aber nur knapp. Bitte nicht Hanni und Nanni Unchained, Knaller-Angebote Unchained, Pommes mit Mayo Unchained. Es ist nicht clever. Jeder andere hatte die Idee auch schon. Vielen Dank für Ihr Verständnis.
Meine große Frage ans neue Jahr: Warum haben es all die Pornografen plötzlich auf mich abgesehen? Ich habe die Kommentarfunktion dieses Blogs abgeschaltet, damit ich nicht ständig reinschauen und aufräumen muss. Allerdings habe ich die Trackback-Funktion angelassen, weil ich nicht weiß, was das ist, und es harmlos klingt. Es sind in den vergangenen Jahren nur wenige Trackback-Anfragen reingekommen, die ich alle abgelehnt habe. Die meisten waren grober Unfug, das Nachvollziehbarste war noch die Anfrage einer Seite mit Feuerwehr-News zu diesem Beitrag (jetzt kommt wahrscheinlich wieder eine, weil ich ‚Feuerwehr‘ gesagt habe). In den letzten Tagen jedoch wimmelt mein Briefkasten vor höflichen Trackback-Bewerbungen, überwiegend zu folgenden Themen: nude teens…, hardcore sex…, naked girls…, aber auch special occassion for anal…. Wussten Sie, dass es sowas im Internet gibt?!
Ich zitiere das hier so ausführlich, weil ich mir davon optimale Suchmaschinenoptimierung und die Anlockung hochwertiger neuer Leser verspreche. Solche, wie die TV-Redakteurin, die mich unlängst zum Thema ‚Frauen, die Männer in Uniform lieben‘ einladen wollte – wohlgemerkt in der Annahme, ich sei so eine (Liebe Shakira …).
Betroffen ist von der Porno-Attacke nur ein Artikel, und zwar dieser. Warum? Weil das Wort ‚Banane‘ darin vorkommt? Oder wegen ‚Pipifax‘? Umkleideraum? Fruchtriegel?
Zum Thema jenes Artikels fällt mir ein, dass ich dieses Jahr zu meinem Erschrecken schon wieder dabei bin. Wir sehen uns dann dort.
Beim Thema ‚Unchained‘ fällt mir ein, dass ich gerade inneren Frieden mit Quentin Tarantino geschlossen habe. Das freut Tarantino bestimmt sehr, denn er hat manche Träne in sein Kissen kullern lassen, weil ausgerechnet ich ihn nicht recht lieben mochte, ich konnte es spüren. Dabei hatte ich Reservoir Dogs seinerzeit sehrwohl geliebt, ich war im anfälligen Alter und hatte das passende Geschlecht. Bei Pulp Fiction musste ich schon ein bisschen lügen (nicht lieben war gesellschaftlich nicht akzeptabel). Nach dem sterbenslangweiligen (euphemistisch: sehr erwachsenen) Jackie Brown und dem albernen Kill Bill 1 plusterte ich mich auf und schwor mit der Bockigkeit des enttäuschten Liebhabers: Von hier an kommt mir kein weiterer Film von diesem Tarantino vor die Augen! Das war leichter, als gedacht. Ich ging fort und schaute nie wieder zurück, denn dieser Tarantino bedeutete mir nichts mehr, gar nichts, wirklich nicht, keinerlei Interesse, schnief.
Letztens jedoch kam es zur Entplusterung. Nach einem heißen Bad, einer Massage und einem Schluck Schnaps folgte die Einsicht: Herrje, man muss doch nicht aus jedem Kleinscheiß gleich ein radikales Politikum machen! Weil mir der Trailer zu Django Unchained gegen alle Widerstände gut gefallen hatte, beschloss ich, es noch einmal mit Kill Bill zu versuchen.
Mit meiner neuen, altersweisen ‚Ist-doch-nur-ein-Film‘-Einstellung konnte ich hinterher ohne schlechtes Gewissen zugeben: Hat gar nicht wehgetan, sondern gut unterhalten. Auf eine doofe Art zwar, aber wir sind doch alle ab und zu mal ein bisschen doof.
Das Doofe bleibt derweil das, was am Phänomen Tarantino ein wenig bedenklich ist. Er selbst kann nichts dafür, doch handeln seine Verehrer seine Filme, als handele es sich um hohe Kunst mit Anspruch und Tiefgang. Da muss man klipp und klar sagen: Nein! Tarantinos Filme sind nicht gehaltvoller als die von Michael Bay. Sie betüdeln ein anderes Publikum, aber nicht unbedingt ein besseres. Tarantino mag sich bei Filmen bedienen, die mehr als nur Oberfläche zu bieten haben. Seine eigenen Filme allerdings übernehmen nur die Oberfläche. Kill Bill wurde hauptsächlich von den japanischen Rache-Dramen Sasori und Lady Snowblood inspiriert, das zeugt von gutem Geschmack. Nun verhandeln diese Filme durchaus große Themen wie den Zusammenhang von Chauvinismus und Nationalismus, oder die Balance zwischen politischer Offenheit und politischem Opportunismus. Das, und lesbische Leidenschaft hinter Gittern. Das einzige Thema von Kill Bill hingegen ist: Ey, guck mal die Alte mit dem Samurai-Schwert!
Soll man ruhig gucken, die Alte. Aber wer danach nicht weiterguckt, bleibt doof.
Schöner hätte ich es übrigens gefunden, wenn man den deutschen Titel von Lady Snowblood direkt vom Originaltitel Shurayuki hime übersetzt hätte: Schneemetzelchen.
Heute rechne ich es Tarantinos Filmen hoch an, dass sie ihren Inspirationsquellen neue Aufmerksamkeit verschaffen. Immerhin macht er inzwischen selbst keinen Hehl aus seiner Arbeitsweise; das war bei Reservoir Dogs noch anders. Seinerzeit mussten findige Enthüllungsjournalisten von alleine drauf kommen, dass Prämisse und Figuren von Ringo Lams City on Fire abgekupfert waren. Kill Bill ist gut, die Sasori- und Schneemetzelchen-Filme sind besser. Ob es die heute ohne Tarantino-Unterstützung in liebevoll restaurierten, erschwinglichen Fassungen für zu Hause gäbe, ist stark zu bezweifeln.
Viele Spinner Asien-Experten rümpfen gerne ihr hohes Näschen, wenn ihnen sog. Orientalismus unterkommt, also die westliche Verkitschung von Asiatischem, zum Beispiel die Welt der Suzie Wong und deutschen China-Restaurants mit ihren roten Lampions und goldenen Drachen. Ich aber sage: Ein Hoch auf den Orientalismus!Suzie Wong ist nicht der schlechteste Roman, und deutsche China-Restaurants sind ganz prima (wenn nur das Essen nicht wäre)! Seit ich als Drei-Käse-Hoch zum ersten Mal in einem rot-goldenen China-Restaurant an irgendeiner norddeutschen Landstraße gastierte, wusste ich, dass ich das besser fand als Leberwurst mit Sauerkraut – ästhetisch, kulinarisch und mental. Die Authentizität kann man später ausbauen, doch es braucht einen ersten Funken. Das kann Ente süß-sauer mit Lampions genauso wie Kill Bill sein. Zusammenfassend könnte man sagen: Quentin Tarantino ist wie ein deutsches China-Restaurant. Viel Spaß auf der weiteren Entdeckungsreise.
(Diese schöne Ausgabe habe ich übrigens neulich erstanden.)
Tarantino ist bekanntlich nicht der einzige Filmemacher, der sich in Retromanie suhlt. So früh im Jahr wollen wir uns nicht gleich aufregen und so tun, als wäre das der Untergang der Welt, sondern einfach mal zugeben, dass wir uns darin mitunter selbst ganz gerne aalen. Weitaus lieber als die Filme von Tarantino und seinem Mini-Me Eli Roth sind mir seit kurzem die Filme von Ti West. Ich möchte hier nicht von seinen Auftragsarbeiten und Jugendsünden sprechen, sondern nur von seinem Hauptwerk als Autorenfilmer, also The House of the Devil und The Innkeepers. Zwei Schauerfilme in gemütlichem Tempo und nostalgischer Optik, die stärker polarisieren als alle Martyrs, Women und Serbian Films zusammen. Die einen finden diese Filme sterbenslangweilig, die anderen finden, dass den einen schlicht die nötige geistige Reife fehlt. Das ist natürlich überheblich und arrogant. Aber was soll man machen, es ist halt die Wahrheit.
Mich erinnert die Kontroverse um Ti West an einen Schwank aus meiner Jugend, als ich selbst noch kräftiger reifen musste als heute (ganz hört man freilich und hoffentlich nie auf). Wie jeder gesunde junge Mann verbrachte ich viel Zeit mit Freunden auf den Sofas verreister Eltern bei Dosenbier und Gewaltvideos. Einmal hatte ich den Film Die Wiege des Bösen auf Kassette mitgebracht, weil mich die Kinowerbung stark beeindruckt hatte. Damals warben Kinobetreiber noch mit Szenenfotos im Aushang um das Interesse der Zuschauer. Die Wiege des Bösen allerdings warb nur mit dem Hinweis, der Film sei so grausig, DASS MAN KEIN EINZIGES BILD ZEIGEN KÖNNE!!!
Unsere Empörung war groß, als sich der Film als ein einfühlsames Familiendrama über die schwierige Erziehung eines bissigen Mutanten-Babys herausstellte.
Doch nicht alle Halbstarken waren gleichermaßen empört. Einer scherte aus und gestand ganz offen: „Also, ich fand den Film gar nicht sooo schlecht. Der war so … menschlich.“
Inzwischen weiß ich: Einer von uns hatte den anderen etwas voraus, und das war nicht ich. Da hatte jemand das auf den Punkt gebracht, was ich heute an Ti Wests Filmen so schätze: Die sind so … menschlich.
The House of the Devil gefällt mir ein bisschen besser als der neuere The Innkeepers, der die Ruhe noch etwas mehr weg hat (wahrscheinlich muss ich noch ein wenig reifen). Allerdings war bei The House of the Devil das Boooring-Gebrüll der Ewigheutigen bereits ohrenbetäubend. Häufiger Kritikpunkt bei beiden Filmen ist, dass 40 bis 90 Minuten lang so gut wie nichts passiert. Vielleicht ist das eine Frage der Lebenseinstellung. Ich finde es sehr angenehm, wenn mal 40 bis 90 Minuten nichts passiert.
Ti West schießt seine Filme nicht nur in Retro-Optik, sondern auch mit Retro-Dramaturgie. Das macht ihn radikal in einem Umfeld, das schnelle Schocks und schnelle Schnitte und sonst nichts seit Jahren für ultramodern hält. Filme, die durch noch mehr Elend und Eingeweide als der letzte Film waten, werden gern als grenzüberschreitend angehimmelt. Ob da wirklich eine Grenze ist, die man überschreiten könnte, bezweifle ich. West scheint mit seinem Mut zur Reduktion viel grenzüberschreitender, das bestätigen auch die feindseligen Überreaktionen verstörter Zuschauer. Möglicherweise ist die Grenze sehr wohl da, aber wir befinden uns mehrheitlich längst auf der anderen Seite. Ti West überschreitet sie in die entgegengesetzte Richtung. Damit provoziert er mehr als jeder Brüll- und Spritzfilmer. Sicherlich gehört er zur relativ jungen Generation von Regisseuren, die der Liebe wegen und nicht der Einfachheit halber im Horrorgenre arbeiten. Das hat er gemein mit, beispielsweise, Rob Zombie. Trotzdem wirkt er wie der Anti-Rob-Zombie. Denn im Gegensatz zu Herrn Zombie versteht Ti West Horror auch. Manchmal ist Liebe allein nicht genug.
Ach, das ist ja ein schreckliches Schlusswort! Schieben wir schnell hinterher: Aber ohne Liebe geht es schon gar nicht.
Wegen Kerzenanzünden und Tipparbeiten wird hier in den tollsten Tagen nur auf Sparflamme getippt. Spätestens im neuen Jahr stehen Ihnen dann wieder alle Dienste zur Verfügung.
(Monat der bildlosen Sprach- und Medienkritik, Episode III)
Morgen erscheint Joseph Anton, die Autobiografie von Salman Rushdie. Ich durfte die Tage schon ran, doch leider sind meine Ärmchen so dünn, dass ich nur bis Seite 38 gekommen bin. Am Inhalt liegt es nicht, der ist bislang ergreifend, spannend und klug. Aber für die letzten 682 Seiten warte ich erschöpft aufs E-Buch.
Bis dahin arbeite ich mich am Titel ab. ‚Joseph Anton‘ war Rushdies Tarnname, als er nach dem Todesurteil durch den Ayatollah Khomeini untertauchen musste, zusammengesetzt aus den Vornamen seiner Lieblingsschriftsteller. Ohne Rushdies Schicksal trivialisieren zu wollen: Es wird wohl niemanden geben, der sich nun nicht die Frage stellt: Wie würde ich heißen wollen, wenn ich einmal untertauchen müsste, Gott bewahre? Die Idee mit den Schriftstellern gefällt mir. Ich bewundere Salman Rushdie für seine Entscheidungsfreude, denn ich müsste länger nachdenken, wer meine Lieblingsschriftsteller sind. Vielleicht hatte er auch überlegen müssen. Rushdie: „Moment, ich hab’s: Franz Edgar! Nein, warte … Walt Herrmann! Emily Jane! Nein …“ – Geheimpolizist: „Herr Rushdie, wir müssten wirklich so langsam los …“
Vielleicht steht es im Buch, ob die Wahl leicht fiel oder nicht, vielleicht bin ich noch nicht so weit. Mit der Wahl meines Tarnnamens bin ich auf jeden Fall noch nicht so weit. Eine Vornamenkombination aus meinem Lieblingsbücherregal, die mir spontan in den Sinn kommt, ist ‚Michael Douglas‘. Möglicherweise nicht unauffällig genug. Aber vielleicht könnte ich so Catherine Zeta-Jones in meinen Unterschlupf locken. Wussten Sie, dass der Schauspieler Michael Keaton privat Michael Douglas heißt? Hat nichts mit dem Thema zu tun, könnte Ihnen allerdings in brenzligen Situationen einen wertvollen Joker sparen.
Noch eine Lieblingsschriftstellervornamenkombination, die mir einfiele: Stephen Ernest. Klingt doof, also umdrehen: Ernest Stephen. Klingt nicht schlecht, allerdings ein bisschen nach Bluesmusiker, Gebrauchtwagenhändler oder Show-Wrestler.
Wahrscheinlich muss ich komplett umdenken. Ich könnte meinen Stripper-Namen nehmen. Vor ein paar Jahren war es sehr en vogue, sich bei seinem (oft bloß hypothetischen) Stripper-Namen rufen zu lassen. Ich glaube, die Autorin und ehemalige exotische Tänzerin Diablo Cody hatte diese Marotte inspiriert und dazu auch gleich die Betriebsinterna ausgeplaudert, wo diese Namen herkommen: Name vom ersten Haustier + Name vom Geburtsort = Stripper-Name. Mein Stripper-Name ist Hansi Vegesack. Ich nenne jeden einen Lügner, der behauptet, dass das kein verdammt hervorragender Stripper-Name wäre. Ich wollte mit diesem Namen schon immer etwas machen, ich weiß nur nicht was. Strippen kommt nicht in Frage, bei meinen dünnen Ärmchen. Untertauchen geht jetzt auch nicht mehr, ich habe meine Geheimidentität gerade gelüftet. Doch der Tag von Hansi Vegesack wird kommen. Da bin ich sehr zuversichtlich.
(PS: Sehe gerade, dass auf dem Buchrücken meiner Ausgabe von Joseph Anton der Autorenname als Salmon Rushdie angegeben ist. Ein neues Pseudonym? Oder nur eine weitere Sternstude deutscher Präzisionspublizistik?)