Der Weg ins Glück führt steil bergab [Kaiho-Kolumne]

Proömium

Dies ist meine allerletzte Kolumne aus der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern. Eigentlich ist sie ein wenig geschummelt, denn sie sollte gar keine werden. Eigentlich ist dies ein Fragment einer (noch) längeren Geschichte, die ich einer dieser modernen Zeitschriften für junge urbane Eltern mit Bart anbieten wollte. Kurz nachdem ich überoptimistisch mit dem Schreiben angefangen hatte, merkte ich allerdings, dass ich genau wegen des im folgenden geschilderten Einschnitts in die Lebensumstände gar keine Zeit hatte zum Schreiben und Verfeinern und Polieren und dann alles noch mal. Drum habe ich einfach das, was ich schon hatte, in diese Abschiedskolumne gepackt, die ich den guten Menschen der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern etwas unüberlegt versprochen hatte.

Ich habe versucht, den im Text besungenen Hügel fotografisch festzuhalten, bin ihm aber nicht gerecht geworden. Weil trotzdem ein Bild an dieser Stelle schön wäre, füge ich eines des Stundenhotels ein, das die Skyline meines Wohnviertels geschmackvoll dominiert. Im Text findet dieses Bild allerdings keinen Widerhall. Nach der Fotografie geht ohne weitere Umschweife die eigentliche Kolumne los.

Seit Anfang März lebe ich in Tokio, der Heimatstadt meiner Frau, meiner obersten Wohlfühlstadt seit bald 20 Jahren. Die Stadt, an die meine 19 Monate alte Tochter Hana irgendwann Kindheitserinnerungen haben wird, hoffentlich angenehme.

In der Woche vor Ostern wache ich in drei Nächten hintereinander deutlich vor Morgengrauen auf und bin hellwach. Mir ist schwindelig, mein Magen hat sich verknotet, in meinen Beinen zetert ein diffuser Fluchtreflex, doch meine Knie sind für Flucht zu wackelig. Einschlafen kann ich nicht mehr.

Erdbeben sind nicht schuld, denn die potenziellen Erdbebengebiete sind weit weg. Ich bin für eine Woche wieder in München, um mit meiner alten Heimat letzte Formalitäten auszuhandeln.

Bevor ich temporär nach München zurückkehrte, hatte ich bereits die Befürchtung, mir könnte mulmig werden. Dass ich plötzlich doch die Richtigkeit meiner Entscheidung anzweifeln würde, auf Biergarten und Leberkäse nicht würde verzichten wollen. Meine tatsächliche Mulmigkeit allerdings, so merke ich, hat nichts mit dem Konflikt zwischen alter und neuer Heimat zu tun. München kommt mir schon nach kurzer Abwesenheit gespenstisch leer, leise und langsam vor.

Der Gedanke an unsere Wohnung in Japan kann es ebenfalls nicht sein, was mich mit Schrecken und Schlaflosigkeit erfüllt. Die drei Zimmer sind überraschend menschenwürdig geschnitten. Und obwohl man aus den Fenstern erwartungsgemäß nicht viel mehr sieht als die Dächer und Außenwände der Häuser nebenan, konnte die junge Hana gleich bei unserer ersten Besichtigung der Aussicht etwas abgewinnen. Sie streckte den Zeigefinger in Richtung Fenster und rief aufgeregt: „Piep-piep!“

Hin und wieder machen wir uns Sorgen, dass Hana ein wenig ist wie der kleine Junge aus dem Film The Sixth Sense. Sie deutet häufig auf Dinge, die wir nicht sehen können, und behauptet steif und fest, sie wären sehr wohl dort. Bei genauerer Überprüfung stellt man fest, dass da wirklich ein „Wau-wau!“ ist, in 200 Metern Entfernung, wenn man ganz genau hinsieht. Beim Piep-piep-Zwischenfall in unserer Tokioter Wohnung allerdings war ich schon drauf und dran sie zu maßregeln: „In diesem Moloch von einer Stadt gibt es keine Piep-piep! Hier piepen zwar Ampeln, Kühlschränke und Badewannen, aber sicherlich keine Vögelein.“ Doch als ich mich zu ihr herunterbeugte und aus ihrer Perspektive durchs Wohnzimmerfenster schaute, sah ich, dass dort tatsächlich Vöglein flatterten. An einem Baum, der aus dem Dach des Häusleins gegenüber wuchs. Sie zwitscherten, als wollten sie uns in ihrer Nachbarschaft begrüßen.

Sicherlich hatten wir in Deutschland für ungefähr dasselbe Geld deutlich mehr Platz. Doch dass Tokio nicht die paradiesischen Billigmieten von München zu bieten hat, haben wir gewusst und in Kauf genommen. Nicht gewusst hatten wir von dem Hügel, der zwischen unserem Bahnhof und unserem Wohnhaus liegt. Präziser liegt der Bahnhof auf dem Hügel und unser Haus an dessen Fuße. Es geht so steil bergauf beziehungsweise bergab, dass man es sich selbst in sportlicher Topform mehrfach überlegt, ob man nicht einen signifikanten, aber geringfügig weniger steilen Umweg nimmt, oder gleich den Bus. Doch auch den Hügel haben wir in unser Herz geschlossen. Er ist wie ein Symbol für all die Hindernisse, die wir bereits überwunden haben. Und eine Erinnerung daran, dass einige Hindernisse stets aufs Neue überwunden werden müssen.

Gegen unsere Nachbarschaft in Tokio ist München Flachland. Wo ich dort schon wach bin, bevor der Bäcker aufmacht, habe ich wenigsten Muße, ein paar meiner vielen vernachlässigten E-Mails zu lesen. In einer Nachricht erwähnt meine Literaturagentin, dass bald mit Geld von diesem, vielleicht auch von jenem Verlag zu rechnen sei. Mein erster Gedanke: „Ach, wie schön, Geld.“ Mein zweiter: „Oh, wie schrecklich, plötzlich auf dieses Geld angewiesen zu sein.“ Genau das ist nämlich der springende Punkt, der Grund für meine selbstdiagnostizierten Panikattacken. Bisher war ich finanziell nicht auf das gelegentliche Buch und den gelegentlichen Artikel angewiesen. Bisher war die Entlohnung dafür ein willkommenes Zubrot, ein Aufbessern der Urlaubskasse, ein Stern mehr beim nächsten Essen oder der nächsten Übernachtung. Das sieht nun anders aus. Da meine Frau in Japan einer anständigen Arbeit nachgehen wird, muss ich mit meinem ehemaligen Hobby nicht allein das Überleben der Familie sichern. Aber ich muss doch mehr beisteuern, als wir anfangs gedacht hatten. Zu behaupten, der Umzug sei ein bisschen teurer ausgefallen als berechnet, wäre stark untertrieben. Er ist bis jetzt mehr als doppelt so teuer ausgefallen, und die allerletzten Ausgaben sind noch nicht gemacht. Dass ich nun nicht etwa schreiben darf, sondern schreiben muss, ist das, was mich lähmt und am Schreiben sowie am Schlafen hindert. Das zumindest ist mein erster Verdacht.

Zu meiner Überraschung multiplizieren sich meine Ängste nicht, als ich wieder in Tokio lande und nun wirklich nicht mehr zurückkann. Nicht mehr zurück in die alte Wohnung, nicht mehr zurück in den alten Job, nicht mehr zurück in das alte Leben. Tatsächlich bin ich geradezu von Euphorie erfüllt, als ich mit meinem Rollgepäck den Hügel vom Bahnhof in mein neues Leben hinunterstolpere. Um zu begreifen, dass ich wirklich da bin, wo ich immer sein wollte, musste ich erst einmal dort ankommen. Was mir Angst bereitet hatte, war die Vorstellung davon. Die Realität scheint zu ertragen zu sein.

Wieder wache ich am nächsten Morgen zu einer Zeit auf, die eigentlich eher Nacht ist. Diesmal jedoch ist es nicht die Existenzangst, diesmal ist es der Tatendrang. Während Frau und Kind sich noch auf dem Futon rekeln, setze ich mich an den umgestülpten Umzugskarton, der vorerst mein Schreibtisch ist, und schreibe. Ohne Furcht und voller Zuversicht.

Und vor dem Fenster geht die Sonne auf, und die Vöglein sagen: „Piep-piep!“ Und bald wird auch Hana aufstehen, „Piep-piep!“ oder „Wau-wau!“ rufen und auf etwas deuten, was ich noch nicht sehen kann, was aber da sein wird.

Japan sucht die Superskandalnudel [Kaiho-Kolumne]

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Auf einer meiner ersten Reisen nach Japan dachte ich einmal, ich hätte SMAP gesehen. Ich hatte damals allerdings fast keine Kenntnis der Sprache und nur lückenhafte Kenntnis der Eckpfeiler der Gegenwartskultur des Landes. Soll heißen: Ich verstand nichts und wusste eigentlich gar nicht, wer oder was SMAP ist. Es ist schon interessant, welche Schlüsse sich das Gehirn manchmal zusammenreimt, wenn es sich ausschließlich auf visuelle Informationen verlassen muss. Die Situation war folgende: In einem mittelkleinen Plattenladen in Tokio trat eine Band vor ein paar höflich klatschenden Zufallszuhörern auf. Hinter ihnen hing ein Werbeplakat, auf dem irgendwas mit „SMAP!“ stand, und das wohl ein neues Album einer Popgruppe dieses Namens annoncierte. Also dachte ich mir, während ich mir die Band ansah: Das sind also SMAP. Falls die mal groß rauskommen, kann ich mich damit brüsten, dass ich sie bei einem ihrer ersten, bescheidenen Gigs in einem der unauffälligeren Läden der Stadt gesehen habe.

Ich habe mich dann fortan tatsächlich damit gebrüstet. Denn dass SMAP es geschafft haben, war mir irgendwann vage bewusst geworden. Man hat mir die Geschichte mal mehr, mal weniger abgenommen; je nachdem, wie sehr ich bei der Wahrheitstreue ins Detail gegangen bin.

Selbstverständlich war das alles ein riesengroßes Missverständnis meinerseits, wie ich später einsehen musste. Das Plakat hing nur zufällig dort, es war halt ein Plattenladen, und hatte nichts mit dem gerade im Laden auftretenden Akt zu tun. Wie der hieß, weiß ich bis heute nicht. Falls sie groß rausgekommen sind, habe ich es nicht mitbekommen, oder sie nicht wiedererkannt. SMAP, so weiß ich inzwischen, waren schon damals die ganzheitliche Personifizierung der japanischen Unterhaltungsindustrie und hätten bestimmt kein intimes Ladenkonzert geben können, ohne eine Massenpanik auszulösen. Als Boyband waren sie gestartet, als Herrenband sind sie noch immer dick im Geschäft. Doch die Musik ist nebensächlich angesichts der Koch-, Quiz-, Talk- und Mischmasch-Shows, die die SMAPs gemeinsam oder getrennt voneinander im Fernsehen moderieren, ganz zu schweigen von ihren mannigfaltigen Auftritten in Kinofilmen, Fernsehserien und Werbekampagnen.

SMAP waren zuletzt mehr noch als sonst in den Nachrichten aller Medien präsent, als herauskam, dass sich einige von ihnen von ihrem langjährigen Management trennten. Eine Teiltrennung vom Management schien nicht praktikabel für die Band als Ganzes, so machten schnell Gerüchte um eine komplette SMAP-Zerschlagung die Runde. Einige Leitmedien berichteten darüber in den Hauptnachrichten. Andere Leitmedien fragten kritisch, ob so was in die Hauptnachrichten gehöre. Schweigen mochte niemand. Premierminister Abe äußerte den Wunsch, SMAP mögen zum Wohle der Nation zusammenbleiben. Die Bandmitglieder sagten schließlich zu allgemeiner Erleichterung: „Wir schaffen das!“

Als das nationale Klatschgewitter über SMAP hereinbrach, war ich hocherfreut. Nicht, dass ich ihnen etwas Böses wünsche. Ich bin aus dem Alter raus, in dem man sich an negativer Energie berauscht. Als Fernsehpersönlichkeiten finde ich die Smappys nicht unangenehm, mit ihrer Musik bin ich nach wie vor nicht vertraut. Wahrscheinlich gefiele sie mir nicht, aber damit können vermutlich beide Parteien leben. Der Grund, warum ich die negative Aufmerksamkeit für SMAP begrüßte, war der, dass sie zumindest für einen Moment die negative Aufmerksamkeit von TV-Talent Becky abzog. Die quirlige britisch-japanische Unterhaltungskünstlerin war nämlich gerade arg in die Boulevard-Schusslinie geraten, aufgrund von Dingen, die sich eventuell in einem Hotelzimmer mit einem verheirateten Mann zugetragen haben. Becky war mir stets wichtig, und sie ist es noch mehr, seit meine deutsch-japanische Tochter Hana auf der Welt ist. Der Umzug unserer Familie nach Tokio steht unmittelbar bevor, und mein geheimer Plan war es immer gewesen, Hana an die japanische Unterhaltungsindustrie zu verkaufen oder zumindest auszuleihen, falls es mal wirtschaftlich eng wird. Bitte verraten Sie es nicht meiner Frau, es soll eine Überraschung werden. Becky schien mir da immer ein gutes Vorbild. Sie scheint aufrichtigen Spaß an den Nichtigkeiten zu haben, die sie tut, und trotzdem ein ganz aufgewecktes, vernünftiges Persönchen zu sein. Sollte dieser Skandal ihr nachhaltig schaden, stehen meine Argumente auf unsicherem Grund.

Leider kochte die Becky-Sache wieder hoch, nachdem der SMAP-Krach abgeklungen war. Jetzt setze ich alle meine Hoffnungen in die Baseball-Legende Kazuhiro Kiyohara, die letztens wegen Drogenbesitzes verhaftet wurde. Entsprechende Gerüchte hatte es um den Mann immer gegeben, man hatte ihn schon früher mit Yakuza beim Golfspielen erwischt, und er hatte einst in einer SMAP-Talkshow gestanden, tätowiert zu sein, was in Japan im Grunde genommen ein Blanko-Schuldgeständnis für alles Mögliche ist.

Also, liebe Geier, stürzt euch auf Kiyohara, wenn ihr euch unbedingt stürzen müsst. Lasst Becky in Ruhe. Wir brauchen sie noch. Ich brauche sie noch.

Nachtrag aus der Gegenwart

In einem zweistündigen Event-Interview im Fernsehen wurde die Causa Becky inzwischen weitgehend beigelegt. Selbstverständlich in einer SMAP-Talkshow, und selbstverständlich ging es in ca. 90 von 120 Minuten in erster Linie darum, was vor dem Interview von den Beteiligten gegessen wurde, wo die Zutaten geerntet und wie sie zubereitet wurden. Konsens in der Bevölkerung ist, dass Becky sich ordentlich genug geschlagen hat, um ihr mehr oder weniger zu vergeben.

Kazuhiro Kiyohara ist mit vier Jahren auf Bewährung davongekommen.

Endlich: Ip Man gegen Ninja

Es ist jetzt schon so lange her, dass ich eine Scheibe nur für mich allein in den heimischen Blu-ray-Player legen konnte, dass ich befürchtete, als ich es neulich doch einmal wieder tat, ich könnte ungefähr so eine Botschaft auf dem Bildschirm angezeigt bekommen:

Warning: There was a problem with your disc. This is not a Biene Maja disc. Are you sure you want to continue? [Yes] [No] [Hü-hüpf]

Der Film, den ich mir anstatt Willi zieht aus oder Knacks im Schneckenhaus an meinem freien Vormittag gönnen wollte, war Ip Man 3. Natürlich nicht den ganzen Film auf einmal, so frei sind meine freien Vormittage nun wieder auch nicht, irgendwann muss ich schließlich diese blöden Bücher schreiben, so lautet die Abmachung. Mein Plan war: Eine Hälfte jetzt, wo die Familie aus dem Haus ist, eine Hälfte später, wenn die Familie im Bett ist. So muss niemand etwas davon mitbekommen, dass ich noch immer einen freien Willen habe, ahahaha!

Nur für die, die sich nicht gewohnheitsmäßig mit Kung-Fu-Legendenbildung und Kung-Fu-Kino auseinandersetzen: Ip Man war ein chinesischer Kung-Fu-Meister, der heute vor allem als Lehrer von Bruce Lee bekannt ist. In den letzten Jahren vermehrt Gegenstand von Spielfilmen, die drei mit Kampfkunstkinosuperstar Donnie Yen sind darunter die beim einfachen Volk beliebtesten, wenn auch nicht die künstlerisch gelungensten.

In der Nacht nach dem freien Vormittag dann allerdings, als die Möglichkeit gekommen war, den Film unbemerkt fortzusetzen, dachte ich plötzlich: Ach, ich würde jetzt lieber etwas weniger Primitives und Blödsinniges als Ip Man 3 sehen. Also habe ich mir Ninja III: The Domination angesehen.

Die Handlung dürfte bekannt sein: Christie ist Telekommunikationsentstörungstechnikerin bei Tag, Aerobic-Trainerin bei Nacht, und nach Bestrahlung durch einen Telespielautomaten wird sie vom Geist eines echten Ninja besessen (basierend auf einer wahren Begebenheit).

Nur für alle, die nicht wissen, was ein echter Ninja ist: Franco Nero ist ein echter Ninja.

Ninja III: The Domination ist so faszinierend, dass ich, anders als geplant, nicht nur kurz vorm Schlafengehen reinschaute, sondern gleich den ganzen Film durchnahm. Das hatte natürlich Konsequenzen, zum Beispiel konnte ich am nächsten Morgen um fünf nicht mit voller Konzentration Biene Maja sehen. Wie schön, dass ich die Folge Der Schmetterlingsball schon ungefähr 487 Mal in den vergangenen Tagen gesehen hatte (Lieblingsfolge meiner Tochter, wegen: „Flap-flap!“).

Ninja III: The Domination ist außerdem so absurd, dass man erst mal gar keine Meinung dazu haben kann. Im Gegensatz zu Ip Man 3, der so absurd ist, dass man dazu schon eine Meinung hat, bevor der Film halb rum ist.

Bei Ninja III: The Domination handelt es sich um eine Produktion der Cannon-Studios, die ihre bedeutendsten Werke in den 1980ern schufen, vor allem in den Bereichen des Ninja- und Lambada-Films. Obgleich ich von Alters Wegen genau in die Generation Cannon passe, habe ich mich erst in den letzten Jahren ausführlicher mit ihrem Oeuvre befasst, im Zuge meiner phantomnostalgischen Lebensphase (nostalgische Gefühle für etwas, das eigentlich gar kein Teil der eigenen Biografie ist, siehe hier, irgendwo unten, glaube ich) und bestärkt durch die großartige, großartige, großartige (sagte ich schon: großartige?) Dokumentation Electric Boogalooo.

Als Teenager war ich zu qualitätsbewusst und hatte von Cannon nur die ganz großen Tentpole-Flagship-Milestone-Event-Blockbuster wie Masters of the Universe mitgenommen.

Die gingen meist finanziell in die Hose, ganz anders als die preiswerteren Ninja- und Modetanzfilme des Studios. Mit Ninja III: The Domination ist Cannon eine kongeniale Quasi-Symbiose seiner Kernkompetenzgenres gelungen.

Die Ip-Man-Filme mit Donnie Yen waren von Anfang an eine ideologisch fragwürdige Angelegenheit. Ihre latente Fremdenskepsis konnte im ersten Film noch schöngeredet werden, schließlich spielte er in den 1940ern, und die Fremden waren die Japaner, und die waren ja nun wirklich die Bösen. Im zweiten Teil wird das Feindbild mit Hongkongs britischen Kolonisten schon etwas verzerrter, aber mit viel gutem Willen kann man die finale ‚Können wir uns nicht einfach alle vertragen?‘-Ansprache mildernd anrechnen. Ip Man 3 überspannt den Bogen deutlich. Alle Ausländer sind hinterhältig und gemein, manche obendrein noch dumm und feige, werden unwidersprochen als „fremde Teufel“ bezeichnet, die es zu vertreiben gelte. Mir ist durchaus bewusst, dass ‚fremde Teufel‘ ein geflügelter Ausdruck im Chinesischen ist. Wenn er allerdings in einem Film aus dem 21. Jahrhundert fällt und die gute und weise Hauptfigur dazu nur zustimmend lächelt, dann ist das arg fahrlässig, selbst wenn der Film im finsteren 20. Jahrhundert spielt. Ich muss mich korrigieren: Das ist nicht fahrlässig, das ist mutwillig und kalkuliert. Dieser Film-Ip-Man soll der überlebensgroße Volksheld werden, der alle Chinesen heim ins Reich holt.

Viele Anhänger des Hongkong-Kinos sehen die Annäherung der Volksrepublik an die Sonderverwaltungszone eher als Fluch denn als Segen. Sie befürchten staatliche Zensur oder zumindest den vorauseilenden Gehorsam vor potenzieller staatlicher Zensur genauso wie vor dem angenommenen Geschmack des Festlandpublikums (alles Reisbauern und Wanderarbeiter, die nur Furzwitze und 3D-Effekte verstehen). In meiner Sichtweise hingegen überwiegt das Segenreiche: die größeren Budgets, das größere Reservoire an Talenten, Themen und Orten. Etablierte Regisseure wie John Woo oder Johnnie To haben im Zeitalter der chinesisch-chinesischen Koproduktion kreativ eher zugelegt als nachgelassen. Sicherlich gibt es auch junge Talente, aber junges Kino verfolgt man in meinem Alter nicht mehr.

Gleichwohl möchte ich nicht leugnen, dass es ihn gibt, den gesamtchinesischen Parteipropagandakintopp, und Ip Man 3 ist das hässlichste Beispiel dafür (zumindest unter den Machwerken, die man außerhalb Chinas überhaupt zeigen kann, ohne von der ganzen Welt ausgelacht zu werden).

Nun gibt es selbstverständlich noch die Auffe-Fresse-Fraktion, die nölt: „Mönsch, das ist doch reine Unterhaltung! Hauptsache auffe Fresse!“ Wir wollen gar nicht wieder davon anfangen, dass es reine Unterhaltung nicht gibt, und dass die, die am vehementesten das Gegenteil behaupten, genau die sind, die man am genauesten beobachten sollte (oh, jetzt habe ich doch wieder davon angefangen). Leider hat Ip Man 3 keinerlei Ausweichqualitäten, auf die man sich konzentrieren könnte im Versuch, den Propagandaquatsch auszublenden. Als Biopic taugt keiner der Donnie-Yen-Filme, denn die sind in etwa so authentisch biografisch wie diese Romane, in denen Elvis Presley Kriminalfälle löst. Eine kompetente Würdigung von Ip Mans Wing-Chun-Stil findet schon gar nicht statt, hier wird eher Drahtseilakrobatik als Kampfsport geboten. Mich stört das nicht, aber Auffe-Fresse-Puristen haben damit häufig Probleme. Donnie Yen ist zweifelsohne und mit Recht der weltgrößte Martial-Arts-Star über 50 und unter 60. Aber seinen sportlichen Zenit hat er, völlig verständlich, deutlich überschritten. Er sollte sich schleunigst nach anderen Arten von Rollen umsehen (das Talent dafür hätte er), bevor er endet wie Jackie Chan oder Jet Li.

Und jetzt kommt der Hammer

Äh … ich muss Ihnen etwas sagen … meine ganze, etwas übereifrige Beschwerde bezieht sich nur auf die erste Hälfte des Films. Ich schrieb zu früh, ich war sehr aufgebracht, die Pferde sind mit mir durchgegangen. Inzwischen habe ich mir zuerst widerwillig, dann recht angetan den Rest des Films angesehen. Nach einer ersten Hälfte, die alles falsch macht, folgt eine zweite, die alles richtig macht (wenn auch nicht alles Falsche wiedergutmacht): charakterbetont, gefühlvoll (also schnulzig, das ist ja nichts Schlimmes, ist halt Kino) und ordentlich auffe Fresse. Die Story über die fremden Teufel, die den chinesischen Kindern (Kindern!) die Schule stehlen wollen (die Schule!) wird einfach sang- und klanglos abgebrochen (vielleicht der längste McGuffin der Welt). Danach geht es um die Krebserkrankung von Ip Mans Frau (eine sträflich vernachlässigte Figur in den ersten beiden Filmen) und, wie in jedem Martial-Arts-Film, um die Rivalität mit einem anderen Kung-Fu-Meister. In dessen Darsteller Max Zhang, der drolligerweise bereits eine ähnliche Rolle im überlegenen Ip-Man-Konkurrenzfilm The Grandmaster spielte, hätte übrigens Donnie Yen schon einen würdigen (wenn auch selbst nicht mehr ganz jungen) Nachfolger gefunden. Am schönsten und heftigsten auffe Fresse gibt’s von ihm. In echt hätte er wohl den Donnie windelweich vermöbelt, aber in der großchinesischen Filmwirtschaft hat man Respekt vorm Alter, so bleibt Ip Man siegreich.

Vom Vorwurf der rasenden Fremdenfeindlichkeit kann man den Film freilich nicht ganz freisprechen, nur weil sie in der zweiten Hälfte irgendwie vergessen wurde. Dennoch wird sie ein ganz klitzekleines bisschen abgemildert, wenn sich der ausländische Oberschurke (Mike Tyson natürlich) immerhin als halber Ehrenmann erweist, als er zu seinem Wort steht und sich nach fair verlorenem Kampf einfach so aus dem Film verzupft. Es ist nicht viel (Tysons Rolle ist ohnehin nicht viel, die Marketingkampagne ist eine Lügenmarketingkampagne), doch es ist ein Strohhalm, an den sich der Apologet, dem es sehr nach Auffe-Fresse durstet, notfalls klammern kann.

Eigentlich möchte ich nur richtigstellen: Es könnte sein, dass Ip Man 3 in mancher Hinsicht (nicht in jeder) doch ein besserer Film ist als Ninja III: The Domination. Ganz sicher bin ich mir aber nicht. Und die Beste bleibt natürlich Biene Maja.

Purple Rain mit Papa

Zwei Aspekte haben mich an vielen Nachrufen auf David Bowie sehr gestört. In nicht wenigen war die Behauptung zu lesen, mit ihm sei nun wirklich der Letzte der „ganz Großen“ gestorben. Gemeint war wohl der Letzte der ganz großen Rock- und Popstars, und damit gemeint war wohl der Letzte der ganz großen männlichen und weißen Rock- und Popstars. Ansonsten wären mir ganz spontan noch Prince und Madonna eingefallen, und weniger spontan wahrscheinlich noch weitere.

Nun bin ich inzwischen konservativ genug, um gelegentlich mit den Augen zu rollen, wenn reflexartig jeder Zeitungsmeldung Sexismus, Rassismus, Ageismus, Ableismus oder Shapismus angedichtet wird, so sie es auf 10 Zeilen nicht schafft, jeden Standpunkt der Welt zu berücksichtigen und jeden Menschen der Welt persönlich anzusprechen. (Sollte ich einen -ismus übersehen haben, entschuldige ich mich in aller Form, das hätte niemals passieren dürfen.) In diesem Fall fand ich die Ignoranz weiter Teile der Musik- und Tagespresse allerdings durchaus zum Ohrenschlackern, unter Umständen sogar zum Aufschreien. Nicht nur sexistisch und rassistisch, sondern auch noch stinkefaul und inkompetent, denn selbstverständlich haben auch etliche große weiße Männer Bowie überlebt. Irgendwo in einem Kornfeld steht Neil Young und sagt mit leisem, hellem Stimmchen: „Hallo?“ (Er meint natürlich: „Hallo? Und was ist mit Bob? Und Leonard? Und Bruce? Und so weiter?“)

Der zweite Aspekt, der mich an vielen Nachrufen störte, war die respektlose Verfehlung des Themas. Vermutlich denkt man als ewigjugendlich-rebellischer Musikjournalist: „Ach, sich nur von Station zu Station in Werk und Leben des Verstorbenen zu hangeln ist langweilig und boring. Ich erzähle lieber von mir, mir, mir, und wie viel mir, mir, mir dieser … äh … Dingsbums bedeutet hat.“ Das gehört sich nicht. So viel Respekt sollte man vor Verstorbenen schon haben, dass man sich selbst für einen kurzen Augenblick zurücknimmt und vom Verstorbenen erzählt, und nicht von den Postern im eigenen Jugendzimmer.

Gleichwohl werde ich es jetzt genau so machen, wenn ich einen vom Prince erzähle. Allerdings tue ich es in meinem eigenen kleinen, unbedeutenden Blog, und nicht im Hauptteil einer überregionalen Tageszeitung. Selig ist der, der den Unterschied kennt.

Zum ersten Mal nahm ich mit dem Lied, vielleicht in erster Linie mit dem Video, 1999 Notiz von Prince. Das Lied gefiel mir sehr gut, die Keyboarderinnen gefielen mir viel besser. Wie sie angezogen waren, wie sie sich bewegten, und wie sie guckten. Wie sie Keyboard spielten, konnte ich nicht beurteilen.

Das erste Prince-Album, das ich mir kaufte, war selbstverständlich Purple Rain. Den Film zum Album sah ich zusammen mit meinem Vater im Kino, was keine gute Idee war. Wir waren früher öfter zusammen ins Kino gegangen, Walt Disney und Bud Spencer, doch mit der Pubertät (meiner) schlief dieser Brauch erwartungsgemäß ein. Purple Rain war der unglückliche Versuch, daran etwas zu ändern. Sicherlich gibt es 80er-Jahre-Filme, die noch ungeeigneter sind, sie als unsicherer Teenager zusammen mit dem Vater anzuschauen. 9 ½ Wochen fällt mir spontan ein. Ansonsten allerdings nichts. Wir sind dann erst wieder zusammen ins Kino gegangen, als ich über 30 war (Herr der Ringe). Über Purple Rain haben wir nie richtig gesprochen. Erwischten wir gemeinsam Prince hin und wieder im Fernsehen, brummte mein Vater nur: „Den gibt’s immer noch?“

Mein liebstes Prince-Album war und ist Around the World in a Day. Weil ich mir mit ‘Condition of the Heart’ jeden jugendlichen Liebeskummer noch tiefer reinreiben konnte. Weil ‚Raspberry Beret‘ zu jeder Jahreszeit so frühlingshaft ist. Weil das Titelstück und ‚Paisley Park‘ so schön hippiemäßig sind, ohne ekelhaft hippiemäßig zu sein. Weil ich mir vorstellen konnte, das Geschlechtsverkehr irgendwie so wie ‚Temptation‘ sein muss. Und das Leben wie ‚Pop Life‘ und ‚The Ladder‘. Und Amerika wie ‚America‘. Nur zu ‚Tamborine‘ ist mir nichts eingefallen. Aber einen Aussetzer hat ja jede Platte.

Zu dieser Zeit fragte mich ein Schulkamerad: „Hörst du eigentlich jeden Tag Musik von Prince?“

Ich sagte: „Ja klar hör ich jeden Tag Musik von Prince!“

Die Antwort war reiner Reflex gewesen. Ich rechnete schnell nach, und stellte fest: Puh, es kommt hin, ich höre wirklich jeden Tag Musik von Prince.

Bis ich das nicht mehr tat. Graffiti Bridge von 1990 war das letzte Album meiner lückenlosen Prince-Phase. Ich verlor vorübergehend das Interesse, weil seine Musik wieder schwärzer wurde, und ich nicht. Wie viele rockorientierten weißen Männer wurde auch ich dann erst im fortgeschrittenen Erwachsenenalter etwas funkier. Tatsächlich brach in den letzten Monaten so etwas wie meine zweite Prince-Phase an. Wegen Überseeumzug beschloss ich, meine Vinyl-Sentimentalität abzuwerfen und stattdessen eine CD-Sentimentalität zu kultivieren. Ich kaufte mir die Prince-Alben, die ich schon hatte, noch mal in kleiner und holte bei der Gelegenheit gleich einige der Alben nach, die ich ihrerzeit nicht mehr gekauft hatte. Die Genialität von Prince offenbart sich, genau wie die von Woody Allen, ja gerade in den schwächeren Werken. Die sind immer noch stärker als die starken Werke der meisten Mitbewerber. Überhaupt haben Prince und Woody Allen vieles gemeinsam. Neben dem geballten Sexappeal ist das vor allem das bewundernswerte Arbeitsethos. Ich glaube nicht, dass Prince wirklich ein Perfektionist war, wie ihm oft so gemein nachgesagt wird. Perfektionisten sind langweilige Erbsenzähler und Erbsenpoliere, die nie etwas gebacken bekommen, weil Perfektion eben unerreichbar ist, und wenn man das merkt, lässt man vor Schreck alle Erbsen fallen und fängt mit Zählen und Polieren wieder von vorne an. Prince derweil hat einiges gebacken bekommen, und langweilig war er ganz bestimmt nicht.

In die Nachbemerkungen zu meinem gottlob noch nicht gedruckten Roman Shinigami Games hatte ich zuletzt diese leichtfertigen Worte geschrieben:

Irgendwann zwischen dem Ende von ‚Yoyogi Park‘ und dem Anfang von ‚Roppongi Ripper‘ hatte ich aufgehört, beim Schreiben Musik zu hören. Zuerst aus Vergesslichkeit, dann aus Prinzip. Am Ende von ‚Shinigami Games‘ habe ich wieder zaghaft damit angefangen, so schnell kann das gehen. Fast ausschließlich Prince und David Bowie. Ich hoffe, das ist kein böses Omen für Prince.

Ich glaube, es war kein böses Omen. So wichtig nehme ich mein Hörverhalten in so hoher Gesellschaft nicht. Deshalb möchte jetzt enden, muss aber eines noch loswerden: „Ja, Papa, den gibt’s immer noch.“

Nagoya, mon amour fou [Kaiho-Kolumne]

In der (gerade noch so) aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Japan sucht die Superskandalnudel zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung.

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Neulich ist mir aufgefallen: Ich war schon lange nicht mehr in Nagoya. Als Spötter könnte man nun fragen: Warum auch? Nagoya hat den Ruf, das Hannover Japans zu sein. Etwas provinziell, etwas eigenschaftslos, ein Ort für Dienstreisen ohne Verlängerung. Dieser Wahrnehmung möchte ich zugleich beipflichten und ihr widersprechen. Nagoya ist tatsächlich so etwas wie das japanische Hannover. Allerdings hängt schon bei Hannover die allgemeine Wahrnehmung schief. Hannover ist schön, gemessen an seiner Größe überraschend urban, und von der subkulturellen Agilität könnte sich München gleich ein paar Scheiben abschneiden und wäre immer noch weit hinterher. Mein letzter Besuch Hannovers bestand aus Spaziergehen mit meinen Eltern. Mein vorletzter bestand aus dem Besuchen eines Punk-Konzerts mit einem PKW voller aufgekratzter betrunkener Jugendlicher. Für beides und vieles dazwischen bietet Hannover die ideale Kulisse.

Ich weiß nicht viel über die Underground-Szene Nagoyas, doch ich war von Anfang an angetan von der Unkompliziertheit und Urbanität der Stadt. Dieser Anfang war 2005, als in Nagoya die Weltausstellung Expo stattfand (fünf Jahre nach Hannover, drolligerweise). Genau die wollte ich mir anschauen, weil ich gerade in der ungefähren Gegend war und Gutes darüber gehört hatte (im Gegensatz zu Deutschland hört man in Japan manchmal Gutes über Großveranstaltungen). Meine Abfahrt nach Nagoya hatte sich jedoch verzögert, wodurch mir kaum genügend Zeit für eine ganze Weltausstellung geblieben wäre, wenn ich am selben Tag wieder abreisen wollte. Deshalb entschloss ich mich, die Expo sausen zu lassen und einfach planlos durch die Stadt zu laufen. Eine Stadt, die mir auf Anhieb gut gefiel und zum Weiterlaufen einlud. Danach gefiel sie mir so gut, dass ich beschloss, sie zur Basis meiner nächsten Japan-Reisen zu machen, denn ich war Tokio ein wenig überdrüssig geworden (unser Verhältnis ist inzwischen gekittet und unsere Liebe stark wie nie). Nagoya war mir die perfekte Alternative. In Osaka verlaufe ich mich immer. Sapporo und Fukuoka sind ein bisschen weit weg von allem. Gegen Kobe ist nichts einzuwenden, es hat mich aber nicht ganz mit dem gleichen warmen Bauchgefühl empfangen wie Nagoya. Und Kyoto … Kyoto ist natürlich schön. Es ist verboten, etwas anderes zu sagen. Wäre es nicht verboten, könnte man zugeben, dass Kyoto nur in seinen schönen Ecken schön ist. Wunderschön. Dazwischen ist die Stadt aber recht unattraktiv, was gerade an den strengen Bauvorschriften liegt, die verhindern sollen, dass Kyoto hässlich wird. Hässlichkeit kann ja ein Vorteil sein, eine eigene Form der Attraktivität. Kein Schwein hat irgendwelche Vorschriften erlassen, die Tokio vor der Hässlichkeit bewahren sollten. Das Resultat ist ein ganz wunderbares Monstrum. Kyoto hingegen ist außerhalb seiner ausgewiesenen Schönheitsgegenden recht fad. Nicht hübsch, nicht hässlich. Da kann man auch gleich in Nagoya bleiben, wo es eher so aussieht, wie es in einer japanischen Großstadt aussehen sollte.

Wie genau bin ich neulich dazu gekommen, seit längerem mal wieder an Nagoya zu denken? Für eine meiner Online-Präsenzen stellte ich einen Adventskalender mit Japan-Fotos zusammen, und dabei stieß ich auch auf Zeugnisse meiner Nagoya-Phase. Sofort überkam mich wieder die alte Liebe. Und doch stellte ich am Ende fest, dass ich kein einziges Nagoya-Foto für den Kalender ausgewählt hatte. So sehr ich diese Phase genossen habe, so wenig habe ich es geschafft, meine Liebe in überzeugende Beweisfotos zu verwandeln.

Eine Stadt ist eben mehr als ihre Sehenswürdigkeiten, mehr als der Glanz ihrer Oberfläche, oder die Abwesenheit oberflächlichen Glanzes. Manchmal ist ihr ganz besonderer Reiz schwer abbildbar, bezifferbar, beschreibbar. Manchmal ist es eben das Gefühl, das einen dort überkommt, das Je ne sais quoi. Das Gefühl, nach Hause zu kommen, obwohl man nie dort gelebt hat. Und so stimmt es: Nagoya ist das Hannover Japans. In anderen Worten: Die wohl unterschätzteste Stadt des Landes. Und sie wird es bleiben, denn sie ist etwas für den besonderen Geschmack. Man hat ihn, oder man hat ihn nicht. Man versteht es, oder man wird es nie verstehen.

Bring mich zum Kopf von Godzilla [Kaiho-Kolumne]

In der aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Nagoya, mon amour fou zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung.

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Es ist eine Unsitte unter Bewohnern und Besuchern gewisser Städte bei jeder Begegnung mit vermeintlich Exzentrischem der Welt lauthals zu verkünden: „Nur in New York!“ Beziehungsweise: „Nur in Berlin!“ Oder eben: „Nur in [Städtenamen selbst einsetzen]!“ Meistens sind die so geadelten Phänomene keineswegs sonderlich ortsgebunden, und der „Nur in XY!“-Rufer beschreibt weniger die Exzentrizität der gemeinten Stadt als vielmehr die Begrenztheit seines eigenen Horizontes. Ich bemühe mich also, nicht jedes Mal „Nur in Tokio!“ zu krakeelen, wenn ebendort eine bemerkenswerte Person, ein bemerkenswertes Ereignis oder ein bemerkenswertes Nudelgericht meinen Weg kreuzt.

Bei meinem letzten Besuch sah ich allerdings ein Hinweisschild an einem Gebäude, das man so wahrscheinlich tatsächlich „nur in Tokio!“ finden wird (und dass man schon zu lange dort ist, merkt man daran, dass man es zunächst kein bisschen seltsam findet):

1. Stock: Läden und Restaurants, 8. Stock: Café Bon Jour und Godzilla-Kopf

Ich muss zugeben, dass ich nicht gänzlich zufällig an dem Schild vorbeigekommen bin. Ich hatte es zwar nicht explizit gesucht, aber doch das, was es annoncierte: den Godzilla-Kopf. Der wurde vor nicht allzu langer Zeit auf dem Vordach eines Hotels in Kabukicho installiert, in Lebensgröße über das Vergnügungsviertel wachend, wenn nicht über die gesamte Stadt.

War meine Vorfreude groß, so wich sie zunächst einer milden Enttäuschung, als ich die Skulptur das erste Mal mit eigenen Augen sah. Es ist wie bei vielen Berühmtheiten, die man nur aus den Medien kennt. Sieht man sie auf der Straße, denkt man: Ich hatte ihn mir irgendwie größer vorgestellt. Dabei ist es tatsächlich so, wie die japanische Tagespresse es angekündigt hatte: Man muss Godzilla nicht lange suchen, wenn man sich Kabukicho nähert. Er ist schwer zu übersehen auf der Vordachterrasse des Gracery-Hotels. Und trotzdem ist der erste Anblick unspektakulär. Im ohnehin bunten, reklameüberfrachteten Straßenbild könnte der Saurier nichts weiter als eine weitere Werbefigur sein. Der Eindruck bestärkte sich noch dadurch, dass Sony gerade zum Zeitpunkt meines Besuches eine Werbebanderole unter dem Viech angebracht hatte, die ein neues Godzilla-Videospiel ankündigte. Einerseits: Wenn nicht hier, wo dann? Andererseits verlieh die Werbung dem Kunstwerk etwas Flüchtiges und Vulgäres. Heute Godzilla, morgen Naruto, übermorgen Kleenex. Dabei sollte Godzilla doch hier sein, um zu bleiben.

Die Enttäuschung wich zum Glück wieder einer erhabenen Freude, als ich dem besagten Schild in den achten Stock gefolgt und ganz nah bei Godzilla war. Aus unmittelbarer Nähe ist er so imposant wie gewünscht, gegen ihn sieht der Rest der Stadt klein aus. Sein Kopf ragt aus dem Dach, als hätte er es gesprengt. Er krallt sich an dessen Rand mit fürchterlichen und wunderbaren Klauen. Am Sockel erinnern Reliefs an seine schönsten Filmmomente.

Als ich vollends zufrieden wieder gehen möchte, pfeift mich der uniformierte Godzilla-Aufpasser zurück. Habe ich etwas falsch gemacht? Steuere ich den falschen Ausgang an? Nein, der ernste Herr bedeutet mir, eine verborgene Stelle am hinteren Teil der Skulptur anzufassen. Das tue ich, und daraufhin röhrt aus Godzillas Maul das charakteristische Godzilla-Röhren. Das Pärchen, das genau dort gerade steht, bekommt einen riesen Schrecken. Der Aufpasser und ich lachen verschwörerisch. Bald lachen wir alle, denn Godzilla ist unser Freund, und das macht uns alle zu Freunden.

Godzilla ist endlich ein originäres Wahrzeichen für Tokio. Denn wollen wir mal ehrlich sein: der Tokyo Tower ist charmant in seiner stählernen Archaik, aber letztlich nur vom Eiffelturm abgekupfert. Die Rainbow Bridge ist doch sehr kalifornisch. Der Skytree etwas zu streberhaft in seinen Ausmaßen und Anmaßungen, außerdem architektonisch so beliebig gefallsüchtig, dass er genauso gut in Schanghai oder Dubai stehen könnte. Godzilla ist ein stimmiges Symbol für Tokio: ein liebenswertes und etwas unförmiges Monster, von keiner Krise kleinzukriegen. Eine überdimensionierte Schöpfung, die sich immer wieder neu erfindet. Godzillas Symbolgehalt geht dabei über die Hauptstadt hinaus. Sein erster Filmauftritt ist längst als Klassiker kanonisiert, und trotzdem ist er nach wie vor aktiver Teil der Popkultur. Wer könnte also besser dieses Neben- und Miteinander von Tradition und Moderne vertreten, das Japan so gebetsmühlenhaft nachgesagt wird? Darüber hinaus ist die atomar verstrahlte Echse ein treffliches Energie- und Umwelt-Mahnmal in Post-Fukushima-Zeiten. Möge ihr Röhren noch lange aus Kabukicho heraus in die Welt tönen.

Servus, mach’s guad, und vielen Dank für den Steckerlfisch

Ich ziehe bald um, die Sentimentalität setzt bereits ein. Zwischen Überseekisten, Exportdokumentation und Inventarlisten bleibt derweil kaum Gelegenheit für ausgiebige Introspektion. Vielleicht schreibe ich mal ein Buch über München, wenn ich in Tokio bin, ging umgekehrt schließlich auch. Heute möchte ich im Schnelldurchlauf schon mal rekapitulieren, was eigentlich in den letzten rund 18 Jahren so passiert ist.

Als sich in Bremen 1998 zum ersten Mal jemand am Telefon mit „Grüß Gott!“ bei mir meldete, hielt ich das für einen Scherzanruf. Ich kannte diesen Ausdruck nur aus Heimatfilmen und wusste wirklich nicht, dass er noch irgendwo im aktiven Gebrauch war. Außerdem hielt ich Bayern insgesamt für rechtsradikal (CSU) und München für die Hauptstadt der Rechtsradikalen (dass die bayrische Landeshauptstadt die sicherste Sozi-Hochburg der Republik ist, weiß außerhalb Bayerns leider so gut wie niemand, zu mächtig ist die finstere Reputation des Umlandes). Trotzdem hatte ich mich dort für einen Job beworben, weil ich an der Uni die Übersicht verloren hatte und nicht glaubte, dass ich da noch mal hingehen würde. Und weil ich meinte, ich könnte mich an einem fernen Ort ganz neu erfinden (Spoiler: das ging nicht, das geht nie. Es liegt nicht in der Natur des Menschen, sich selbst jemals neu zu erfinden.) Die Grüß-Gott-Stimme am Telefon teilte mir mit, man habe meine Bewerbung erhalten und würde mich gerne zum Vorstellungsgespräch einladen.

Das Vorstellungsgespräch war die reinste Katastrophe. Es ging um eine Redakteursstelle bei einer Illustrierten für Computerspiele. Ich besaß erst seit ungefähr einem Jahr einen Computer, und die einzigen Spiele, die ich kannte, waren Duke Nukem 3D und Sam & Max. Die fand ich immerhin so toll, dass ich die Zukunft der Unterhaltung, der Kunst und des Erzählens im Bereich der Computer- und Videospiele sah, womit ich ja auch recht hatte. Ich log faustdick, was meine Qualifikationen anging, und die meisten Lügen flogen noch während des Gesprächs auf.

Noch überraschter als vom ersten Grüß-Gott-Anruf war ich vom zweiten, der mir mitteilte, dass ich den Job hätte, so ich ihn wollte. Ich habe zwar keine Ahnung von der Materie, aber man wolle mal jemanden mit einem „journalistischen Background“ ausprobieren.

Klassische Computerspiele-Illustrierte haben allerdings keinen Bedarf für Journalismus. Die haben nur Bedarf für Buchhalter, die Formulare mit Testergebnissen ausfüllen. Ich kündigte noch vor Ablauf der Probezeit. Eine Panikreaktion, weil ich die Schande einer Kündigung durch den Arbeitgeber entgehen wollte. Rückblickend betrachtet war meine Anstellung wohl nicht so gefährdet, wie ich damals angenommen hatte, meine Arbeit war eigentlich anständig. Die richtige Entscheidung war es dennoch, denn ich war todunglücklich. Wo man einem Chefredakteur wirklich den Begriff ‚Pornomusik‘ erklären muss, und er es dann immer noch nicht versteht, kann man sein lyrisches Federkleid nicht allzu schillernd spreizen.

Eine neue Arbeitsstelle ist freilich stets schnell gefunden. Ich log und schleimte mich in eine PR-Agentur, selbstredend mit schlechtem Gewissen. Zum journalistischen Selbstverständnis gehört es, PR als die dunkle Seite der Macht zu sehen. Ich bekam den Job, weil die Agentur jemanden mit einer „flotten Schreibe“ suchte.

PR-Agenturen haben allerdings keinen Bedarf für „flotte Schreibe“. Die, die ausdrücklich danach suchen, sind die, die am wenigsten Ahnung davon oder Verwendung dafür haben. Eines Tages fragte einer der Agentur-Kunden meine Chefin in vollem Ernst und echter Verzweiflung, ob der Neuenkirchen „vielleicht geisteskrank“ sei, nachdem ich eine seiner Pressemitteilungen mal ohne Mehrkosten etwas „flotter geschrieben“ hatte.

Lange durfte ich dann nicht mehr bleiben. Dennoch erachte ich es bis heute als einen meiner größten beruflichen Triumphe, dass der Schwindel erst neun Monate und zwei Gehaltserhöhungen später aufgeflogen ist.

Falls wer meint, tiefer als PR-Agentur könne man nicht sinken: zwischenzeitlich habe ich noch schwarz bei einer namhaften Werbeagentur gearbeitet. Ich schrieb Rundfunkreklame für eine Möbelhauskette. Es ging um ein Geheimagentenpaar auf der Suche nach überirdischen Angeboten. Die Spots wurden produziert, aber nie gesendet.

Nächster Stopp: eine Verlagsneugründung, dort insbesondere ein sogenanntes Lifestyle-Magazin mit Schwerpunkt Unterhaltungselektronik. Unterhaltungselektronik ist nicht gerade das majestätischste Steckenpferd in meinem Stall, ist allerdings ein Thema, das man sich als geübter Blender schnell aneignen kann. Wegen „flotter Schreibe“ durfte ich in gewissen Bereichen des Heftes machen, was ich wollte, also war ich verhältnismäßig glücklich. Eigentlich bin ich ja ein genügsamer Typ.

Leider sind Menschen, denen die Wahl der richtigen Unterhaltungselektronikkomponenten extrem wichtig ist, in der Regel genau die Menschen, die extrem wenig lesen. Nach 1 ½ Jahren war das Magazin am Ende, ein halbes Jahr später der ganze Verlag. Lag vielleicht auch daran, dass der Verlag relativ wenig Skrupel hatte, wenn es um die Erstattung von Reisekosten ging. Eine Zeit lang war meines ein herrliches Leben im Klischee, ein Leben zwischen Deutschland, Marokko, Spanien, Italien, Großbritannien und Japan. Besonders Japan hatte es mir angetan. Sogar so sehr, dass ich eines Tages bei Edeka im Olympia Einkaufszentrum knapp zwei Euro locker machte und mir das Buch Gebrauchsanweisung für Japan von Gerhard Dambmann vom Grabbeltisch kaufte und mir vornahm: ‚Wenn ich einmal groß bin, möchte ich auch so ein Buch schreiben.‘

Nach der Abwicklung des Verlages ging ungefähr die gesamte Belegschaft zu Amazon. Amazon war mir als Unternehmen schon immer sympathisch. Auf einer Party anlässlich der Angebotserweiterung um Video- und Computerspiele, zu der ich einmal als Pressevertreter eingeladen war, gab es leckeres Dosenbier und gelbe Amazon-Badehandtücher als Geschenk. Meines hat extrem lange gehalten und war stets sehr flauschig. Also hatte ich mich gleich dreifach dort beworben: als Redakteur für Bücher, als Redakteur für Videokassetten und notfalls als Redakteur für Unterhaltungselektronik. Letzteres bin ich dann erst mal geworden, wohl wegen beruflicher Vorbelastung.

Meine knapp 15 Jahre bei Amazon brachen endlich den Fluch meiner Reputation als beruflich flatterhaft, die mir mein dreifacher Wechsel in nicht mal drei Jahren eingebracht hatte (dabei war nur der erste Wechsel komplett auf meinem eigenen Mist gewachsen). Ich würde die Amazon-Ära folgendermaßen bilanzieren: 7 magere Jahre, 7 fette Jahre, und eines, in dem ich schon nicht mehr so richtig da war (würde ich auch in der Kategorie ‚fett‘ sehen). Insgesamt keine schlechte Bilanz für ein Arbeitsverhältnis, finde ich. Arbeit ist schließlich Arbeit, und Ponyhof ist Ponyhof, und wenn man nicht gerade auf einem Ponyhof arbeitet, sind das zwei sehr unterschiedliche Dinge. Diesen Umstand habe ich nie als skandalös empfunden.

Selbstverständlich besteht das Leben nur zu einem Bruchteil aus Arbeit, der Rest ist Ponyhof. Das Büro meines frühen Lifestyle-Jobs war passenderweise in der Nähe von Straßenstrich und Kunstpark Ost. Letztere Nähe nutzten die Kollegen und ich recht ungehemmt. Zum Trinken, aber mitunter sogar zum Tanzen. Der Kunstpark war sozusagen unser Ponyhof. Hier feierte ich angstfrei meinen 30. Geburtstag unter Kollegen, die mir Freunde geworden waren, darunter auch CSU wählende Bayern. Einer von ihnen ließ zu vorgerückter Stunde gerne mal die Fäuste sprechen. Vor allem dann, wenn jemand sich anschickte, den Ausländern in unserer Gruppe blöd zu kommen. Sein Wahlverhalten heiße ich trotzdem nicht gut, das kann man auch anders lösen.

Später wurde der Kunstpark umbenannt in Kultfabrik und wurde genauso schrecklich wie dieser Name. Man ging dann nur noch notgedrungen und widerwillig zu unverzichtbaren Konzerten hin und danach schnell wieder weg. Als das Areal im letzten Jahr komplett geschlossen wurde, war es einem schon gänzlich egal. Bei meinem letzten Besuch wurde ich auf dem (kurzen) Weg vom Ostbahnhof zur Kultfabrik dreimal von unterschiedlichen Händlern angesprochen, ob ich gerne Drogen kaufen würde. Nein, wollte ich nicht, will ich nie. (Kleine Randnotiz für besorgte Bürger: Kein Grund zur Besorgnis; die fliegenden Händler waren allesamt weiße Milchgesichter in teurer Marken-Ghetto-Garderobe). Der Zweck meines Besuches war ein Konzert von Peter Murphy gewesen, ihm ging es an dem Abend auch nicht so gut. Hatte sich vielleicht auf dem Weg was andrehen lassen.

Zweimal musste ich in München eine Wohnung suchen, beide Male war es ein Kinderspiel. Ich kenne die epischen Horrorgeschichten anderer Wohnungssuchender und komme nicht umhin, ihnen eine Mitschuld zu geben. Sie scheinen an ihren eigenen Ansprüchen zu scheitern. Offenbar besteht jeder auf ein geräumiges Apartment im Glockenbachviertel oder in Schwabing oder sonst wo direkt über der eigenen Stammszenekneipe, selbstverständlich Altbau mit Parkettboden, und selbstverständlich technisch und hygienisch auf dem neuesten Stand und bitteschön bezahlbar vom Praktikumsgehalt. Ich hingegen habe rund 18 Jahre in Moosach gut und günstig gewohnt. Zuerst mit Teppichboden, bin ich auch nicht dran gestorben. Einer meiner Vermieter war besser als der andere, in Ordnung waren beide. Ich habe nie eine Wohnungsbesichtigung erlebt, bei der mehr Interessenten als meine Frau und ich anwesend waren. Ich habe es nicht als Zumutung empfunden, ein paar Stationen mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren zu müssen, wenn ich etwas mehr Aufregung haben wollte, als Moosach zugegebenermaßen zu bieten hat. Tatsächlich glaubte ich, dass die Distanzüberwindung im Begriff ‚Ausgehen‘ mitschwingt (für viele ist das aber wohl nur ein Synonym für ‚vor die Türschwelle treten‘).

Meine Zeit in München war nicht zuletzt eine Zeit stetiger Gesundung. Das mag mehr an der Zeit und der zunehmendem Alterseinsicht liegen als am Ort, im Bewusstsein wächst es trotzdem zusammen. Während ich eines Silvesters alleine zu Hause saß, so wie ich es gerne tat, und den Film Elementarteilchen schaute, sagte ich mir: ‚Wie wäre es, wenn ich mir nach dieser fast leeren Zigarettenschachtel nie wieder eine neue kaufe?‘ Und so kam es, dass ich mich bezüglich Elementarteilchen in erster Linie daran erinnere, dass ich während des Schauens meine letzte Zigarette geraucht habe. Ob ich sie rauchte wie Houellebecq, weiß ich nicht mehr.

Zu illegalen Drogen hatte ich in Bremen stets ein Verhältnis wie zu Toffifee: Ich habe mal ein oder zwei genommen, wenn welche auf dem Tisch standen; ich wäre aber nie auf die Idee gekommen, mir selbst welche zu kaufen (der Fachterminus ist wohl ‚Schnorrer‘). Da in München nie jemand welche auf meinen Tisch gestellt hat (Drogen, nicht Toffifee), durchlebte ich den unspektakulärsten kalten Entzug aller Zeiten.

Mein Alkoholkonsum, das muss ich eingestehen, blieb lange Zeit auf einem hohen Niveau, das bei aufgekratzten Teenagern vielleicht niedlich ist, bei Volljährigen allerdings eher traurig und beunruhigend. Ich war überrascht, wie einfach die Lösung war: Sport. Als aufgekratzter Teenager hatte ich stets gehässig über all die gut gemeinten Gesundheitskampagnen gekichert, die sogenannten ‚Kids‘ weismachen wollten, dass Sport viel mehr Böcke mache als Drogen, Alter. Das Problem dieser Kampagnen, so weiß ich inzwischen, ist nicht, dass die Aussage nicht stimmt. Das Problem ist, dass die Kids das nicht glauben. Könnt ihr aber, Kids.

Natürlich trinke ich weiterhin Alkohol, ich bin ja nicht blöd. Allerdings inzwischen auf familienfreundlichen Niveau.

Das war nun also in sehr groben Zügen Episode 2: München. Und so vieles wurde noch nicht mal angerissen. Etwa wie ich einmal Gefangener einer religiösen Sekte war. Oder wie ich eine Bande mallorquinischer Poker-Betrüger verklagte. Und die Familienwerdung scheint mir auch nicht ganz unerheblich.

War diese Episode besser oder schwächer als Episode 1: Bremen? Schwer zu sagen, sie war halt anders. Vielleicht ein kleines bisschen erwachsener, also mit mehr Längen. Jetzt freue ich mich auf jeden Fall auf Episode 3: Tokio.
(Die Bilder dieses Beitrags stammen übrigens von der verehrungswürdigen Quasi-Ko-Autorin meines nächsten Buches Matjes mit Wasabi.)

Deutsch-amerikanischer Monster Mash (DaMM)

Die ausklingende Woche war bestimmt von zwei unangenehmen Themen: Halloween und Akif Pirincci (Abb. unten).

Wäre die Halloween-Industrie hierzulande so auf Zack wie im Ursprungsland, hätte längst eine findige Firma ein Akif-Pirincci-Halloweenkostüm herausgebracht. So aber müssen wir die Themen isoliert betrachten, obwohl sie so viele Steilvorlagen für Verquickung bieten.

Im Gegensatz zum Thema Akif Pirincci ist es mir beim Thema Halloween ein bisschen unangenehm, dass es mir unangenehm ist. ICH bin ja nun nicht jemand, der meint, Deutschland vor außerkulturellen Einflüssen schützen zu müssen. Ich weiß nicht so recht, woher meine Abneigung gegen ausgerechnet dieses Fest kommt. Es wird eine Gefühlssache sein, doch das darf ich nicht zulassen. Emotionen sind das Metier der Schlechtmenschen, die ihre militanten Abneigungen gegen alle, die nicht haargenau so sind wie sie, aus irgendwelchen diffusen Angstgefühlen speisen. Ich glaube nicht, dass meine Abneigung etwas mit Antiamerikanismus zu tun hat. Ein Land, das uns Fast & Furious und die Craft-Beer-Bewegung geschenkt hat, kann kein schlechtes Land sein. Ich glaube auch nicht, dass es was mit der kommerziellen Travestie zu tun hat, zu der dieses Volksfest inzwischen verkommen ist. Dann müsste ich ja auch etwas gegen Weihnachten haben, und das ist freilich undenkbar (wer jetzt übrigens noch nicht alle Weihnachtsgeschenke beisammen hat, setzt seinem Leben die falschen Prioritäten). Möglicherweise hat es etwas mit der Verniedlichung von Horrorsujets zu tun, da verstehe ich keinen Spaß. Horror muss aus den Augen bluten und aus halbzerkauten Gedärmen dampfen, das ist einfach nichts für die ganze Familie.

Und dann doch – gestern beinahe die geistige Kehrtwende. Am frühen Abend auf dem Weg vom Einkaufszentrum nach Hause, passiere ich mehrere Kindergruppen in Halloween-Kostümierungen, alle haben einen Heidenspaß (also ganz im Sinne dieses heidnischen Brauches). Es ist leicht zu erkennen, dass sie unter der Schminke alle unterschiedliche Hautfarben haben, und so ein Bild wärmt einem unverbesserlichen Gutmenschen wie mir natürlich verlässlich das Herz. Am späteren Abend klicke ich dann die Wochenendausgabe der Taz auf – und finde dort einen Artikel, in dem fast genau dasselbe steht, was ich zuvor gedacht hatte: Halloween kann man zwar muffelig blöd finden, aber es ist das einzige Fest, das Kinder aus allen Kulturkreisen miteinander feiern können. Zumindest steht das sinngemäß in der Überschrift und in der Einleitung. Gelesen habe ich den Artikel nicht, am Wochenende habe ich keine Zeit zum Zeitunglesen.

Nach all dieser Fühlerei komme ich schließlich zum Denken und merke: völliger Quatsch. Kinder aller Kulturen können alle möglichen Feste gemeinsam feiern. Zum Beispiel Geburtstag, Silvester, Fasching, Zurück-in-die-Zukunft-Tag. Wenn man sie lässt, können sie selbstverständlich auch Weihnachten und das Fastenbrechfest gemeinsam feiern. Der Kulturenverständigung wird es nicht schaden. Halloween braucht niemand.

Und so haben wir dann gestern wieder das getan, was wir immer tun, wenn an Halloween einer klingelt und im Treppenhaus Kinderkichern zu hören ist: So getan, als wären wir nicht da. Wir haben halt nichts Süßes (nicht aus Gehässigkeit, sondern aus Unachtsamkeit, weil dieser Tag eben in unserem kulturellen Kalender keine Rolle spielt). Ich hätte nicht mal sagen können: „Hier, Kinder, habt ihr ein paar Katzenkrimis, die ich gerade ausgelistet habe. Viel Spaß damit und Happy Halloween!“

Die habe ich nämlich bereits im letzten Jahr ausgelistet, als es auf allen Kanälen unübersehbar wurde, was deren Autor für einer ist. Ja, ich hatte welche und sie sogar gut gefunden – obwohl ich noch nie Katzentyp und seinerzeit noch nicht mal Krimityp war. Ein Beleg für Pirinccis Talent. Ist ja nicht so, dass der nichts kann. Ist leider nur so, dass da irgendwann was schiefgelaufen ist. Nun war er in der letzten Woche wieder in den Nachrichten, weil seine Krimiverlage und viele Buchhändler seine Werke nach einer untragbaren (wenn auch in den meisten Medien böswillig falsch oder missverständlich zitierten) Rede ausgelistet haben. Daran gab es Kritik, auch von einigen vernünftigen Menschen und von Thor Kunkel. Letzteres darf man gerne ignorieren. Wer den Fehler gemacht hat, Kunkel einmal in den sozialen Netzwerken zu besuchen, wird wissen, dass der Mann Pirinccis Bruder im Geiste ist. Möglicherweise momentan noch ein kleiner Bruder. Aber ich hege den Verdacht, dass in ihm bereits der nächste pirinccieske Super-GAU brodelt. Bedenklich ist, wie das Feuilleton ihn nach wie vor allenfalls als putziges Ex-Wunderkind sieht, das jetzt heimelige Bergbücher schreibt. Das sagt, wieder einmal, mehr über das deutsche Feuilleton als über den Autor.

Es wurde bemängelt, dass eine Auslistung Pirinccis Zensur sei; dass in einem freien Land ein freier Buchkäufer die Bücher müsse kaufen dürfen, die er kaufen möchte, auch schlechte und dumme Bücher, auch gute Bücher von schlechten und dummen Menschen.

Ich finde auch, dass diese Auslistungen ein Skandal sind. Es ist skandalös, dass sie erst jetzt geschehen sind. Spätestens mit Erscheinen der Hassschrift Deutschland von Sinnen wusste wirklich jeder und seine Mudder, was Pirincci für einer ist. Man konnte es schon vorher wissen, er rabaukte bereits in einschlägigen Blogs und Nischenzeitschriften herum (war allerdings auch an mir vorbeigegangen, ich lese keines von beiden). Aber die Buchhändler sagten sich wahrscheinlich: „Na ja, solange er nicht im Stechschritt und Hitlerkostüm durch die Fußgängerzone marschiert und ‚KZ!‘ sagt, nehmen wir das Geld gerne mit.“

Es stimmt, dass ein freier Buchkäufer in einem freien Land kaufen dürfen muss, was er will. Genauso darf aber ein freier Buchverkäufer frei entscheiden, was er verkaufen möchte, und eben was nicht. Das ist keine Zensur, sondern gelebte Demokratie.

Ein Teil von mir fantasiert übrigens noch immer, dass sich eines Halloweens Akif Pirincci wie ein Joaquin Phoenix aus der Asche das Akif-Pirincci-Kostüm vom Körper reißt und ruft: „April, April! War alles nur Spaß mit versteckter Kamera! Der Film ab Donnerstag im Kino: Naziquatsch und andere Kleinigkeiten, Regie Sönke Wortmann, Musik Tom Tykwer!“

Ichi, ni – g’suffa [Kaiho-Kolumne]

In der aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Panama Geisha und das harte Brot des Heimwehs zu lesen. Dabei handelt es sich um eine etwas kürzere Version eines Textes, der im Internet bereits hier zu finden ist. Drum wird er in diesem Blog nicht noch mal erscheinen, bei Drittverwertung ziehe ich die Grenze. Hier allerdings gibt es nun die vorletzte Kolumne für alle Welt in Zweitverwertung.

***

Seit sich einmal während der Oktoberfestsaison auf dem Münchner Hauptbahnhof ein blümeranter Rolltreppenbenutzer von oben auf mich herab übergeben hat, gehe ich nur noch in Ausnahmesituationen aufs Oktoberfest. Zugegebenermaßen bin ich vorher auch nur in Ausnahmesituationen aufs Oktoberfest gegangen. Die Musik entspricht nicht meinen Neigungen, vor Karussells habe ich auch von außen Angst und Bier trinke ich lieber in gemütlicher Runde als in ungemütlicher Reihe. Aber seit dem Bahnhofrolltreppenereignis habe ich wenigstens eine launige Anekdote als Bonusbegründung, warum ich der alljährlichen Narretei in den meisten Jahren fernbleibe.

Dieses Jahr ist allerdings nicht wie die meisten Jahre. In diesem Jahr war ich bereits zweimal auf dem Oktoberfest. Nun gehe ich davon aus, dass diese Kolumne im Juli erscheint, geschrieben wurde sie jedenfalls im Juni. Da darf man sich als kritischer Leser rechtens fragen: Dieses Jahr schon zweimal auf dem Oktoberfest – wie macht er das bloß?

Ganz einfach, ich habe nicht die ganze Wahrheit gesagt: ich war nicht zweimal auf dem Oktoberfest, ich war zweimal auf einem Oktoberfest. Noch genauer gesagt war ich jeweils einmal auf zwei verschiedenen Oktoberfesten. Zuerst auf dem im Hibiya Park, dann auf dem im Komazawa Park.

In Japan gibt es rund 30 verschiedene Oktoberfeste, die meisten davon sinnvoll in den verlässlich warmen Monaten platziert. Da kann es schon mal zu Ballungen kommen, weshalb ich innerhalb weniger Wochen zweimal in derselben Stadt, Tokio, an unterschiedlichen Orten in den Genuss kommen konnte. Der Genuss mag ein fragwürdiger sein, denn selbstredend zeigt sich die deutsche Küche hier nicht immer von ihrer appetitlichsten Seite, und ich befürchte auch nicht immer von ihrer authentischsten. Ich könnte schwören, bei meiner Currywurst war Bockwurst unter dem Curry. Anständiges Essen mag freilich eh nicht die allerhöchste Priorität bei einem Oktoberfestbummel haben. Beim Bier geht es authentischer zu, zumindest authentisch deutscher, nicht unbedingt authentisch bayrischer. Ich weiß nicht, wie viele Maß Kölsch auf dem Münchner Oktoberfest erfolgreich verkauft werden. Auch das Markenreinheitsgebot sieht man nicht so eng. Als ich an der ausdrücklichen Beck’s-Bude für eine Begleitung ein alkoholfreies Bier bestelle, bekomme ich tatsächlich ein alkoholfreies Radler von Paulaner. Daraufhin erkläre ich meiner japanischen Gesellschaft, dass das in Deutschland auf keinen Fall möglich wäre. Dass die Brauereien dort wie verfeindete Yakuza-Clans seien, die jeden Wirt einen Kopf kürzer machen, der trotz Treueschwur das Bier eines anderen ausschenkt.

Es stellt sich heraus, dass meinen japanischen Bekannten das relativ egal ist. Sie freuen sich an gutem Bier, fragen nicht woher, mampfen fröhlich Currybockwurst und ringen sich ein paar Komplimente dazu ab („Interessant!“), schaukeln zu „Ro-sa-mundäää!“ und lassen sich pünktlich alle 30 Minuten von der japanischen Zeremonienmeisterin im Dirndl animieren: „Mina-san – guten Tag!!!“ Deren hauptsächliches Anliegen ist es selbstverständlich, auf die Verkaufsstände mit Oktoberfestandenkenartikeln hinzuweisen.

Wer auf den japanischen Oktoberfesten ein Weilchen nüchtern bleibt (allzu betrunken wird man angesichts der Preise eh nicht), wird schnell ein unheimliches Déjà-vu-Erlebnis haben: immer die gleichen Buden, die gleiche Musik, die gleiche bayrische Showband mit Originaloktoberfestgütesiegel (jetzt weiß man wenigstens, was diese Band den Rest des Jahres macht). Und wenn man ganz genau hinsieht: dasselbe Personal in den Buden, dasselbe Posterdesign, dasselbe Programmheft. Es gelingt mir ohne Weiteres, einen übriggebliebenen 100-Yen-Coupon vom Hibiya Park im Komazawa Park einzulösen. Ja, im Grunde sind diese vermeintlich verschiedenen Oktoberfeste doch ein einziges. Sie sind eine Marke, die Starbucks-Version von German Gemütlichkeit. Haben die Buams und Madels ihre Zelte in Komazawa abgebaut, ziehen sie weiter zur nächsten japanischen Grünfläche (Nara, geschlussfolgert anhand des Tourneeplans auf der Homepage der Band Die Kirchdorfer).

Ich hatte nie ein gesteigertes Bedürfnis, mit dem Zirkus davonzulaufen. Doch vielleicht laufe ich eines Tages mit dem Oktoberfest davon. Ich lasse mich in 100-Yen-Coupons bezahlen und ernähre mich von Bockwurst und alkoholfreiem Radler, wenn ich genügend Coupons gesammelt habe. Ich habe keine Gewissensbisse, den Japanern ein einseitiges Bild vom Deutschen an sich zu vermitteln. Die sollen sich lieber an den freundlichen Bierbankschunkler halten, als an den deutschen Supermarktkassierer oder Busfahrer.

Ein bisschen Bond muss sein

Eigentlich habe ich immer noch keine Zeit zum Bloggen, aber ich muss kurz mal erklären, was Rassismus ist. Also: Wenn einer sagt, Roberto Blanco war (warum eigentlich ‚war‘?) „ein wunderbarer Neger“, dann ist das rassistisch. Selbst wenn derjenige meint, es nicht so gemeint zu haben.

Wenn hingegen einer sagt, er fände, dass Idris Elba nicht die Idealbesetzung für die Rolle des James Bond ist, dann ist das zunächst mal nur eine Meinung. Eine, die man als hyperempfindliche Fanperson gerne leidenschaftlich diskutieren darf. Aber bitte nicht leidenschaftlicher als die gute, alte „Connery oder Moore?“-Gewissensfrage.

Wenn man den zweifellos großartigen Elba (ohne Abb.) als Bond kritisch sieht (ich tue das nicht, meinetwegen soll er Bond spielen; meinetwegen kann er auch Yuka Sato spielen), stellt sich die Frage nach dem Warum, bevor sich einer (oder gleich die ganze Welt das halbe Internet) aufplustert und „Rassismus!“ schreit. Anthony Horowitz, Autor des aktuellen Bond-Romans Trigger Mortis, hat seine vorsichtig kritische Haltung damit begründet, dass Elba für die Rolle zu „street“ sei. Die Aufregung war groß, die weltweite Nachrichtenlage geizt ja auch gerade mit anderen Aufregerthemen.

Ich sage es frank und frei: Horowitz‘ Meinung war auch mein erster Gedanke, als die Elba-Gerüchte aufkamen. Nur nannte ich es nicht „street“, sondern „breitschultrig und geduckt“. Ich bin mir sicher, dass Horowitz ebenfalls genau das meinte. Andere meinen, das meine er nicht, sondern er meine „schwarz“, wenn er „street“ sagt. Dass er im selben Interview, in dem er sich den vermeintlichen Fauxpas leistete, einen anderen schwarzen Schauspieler als geeigneteren Kandidaten nennt, wird ihm nicht etwa mildernd angerechnet, sondern als noch rassistischerer Rassismus ausgelegt: was bildet sich der feine weiße Herr eigentlich ein, dass er bestimmen dürfe, wer ein wunderbarer und wer ein nicht so wunderbarer Neger wäre?

Dass manche leicht Entflammbaren „street“ mit „schwarz“ gleichsetzen, spricht eher für ihr eigenes rassistisches Weltbild als für ein bei Horowitz vermutetes. Horowitz‘ Fehleinschätzung, genau wie meine ursprüngliche, basiert auf Elbas Paraderolle DCI Luther, den impulsiven, straßenkämpfenden Stiernacken-Cop aus dem Fernsehen. Die Rolle spielt er so überzeugend, dass man ihn schon mal für ganz schön „street“ halten kann. Ich habe meine Elba-Bond-Meinung erst geändert, als ich Elba im Frack über rote Teppiche schweben sah.

Ich finde übrigens den weißen Bond-Favoriten Tom Hardy jetzt zu „street“. Das liegt vor allem daran, dass ich ihn nur als den Nuschler aus dem Batman-Film kenne und davon gehört habe, dass er Mad Max spielt. Vermutlich kann er aber auch anders, also bitte nicht übel nehmen. Ist ja nur meine Meinung.

Mit dieser wage ich mich jetzt sogar noch tiefer rein ins Minenfeld und sage: Man darf in Ausnahmefällen sogar finden, dass Idris Elba zu schwarz ist, um Bond zu spielen. Puh, ich weiß, das wird heikel. Es kommt halt drauf an, ob man an der literarischen Figur festhält, oder die Gepflogenheiten der Filminterpretationen akzeptiert. Der Ur-Bond der Fleming-Romane ist, anders als der Film-Bond, kein leeres Gefäß, das dankenswerterweise alle paar Jahre mit frischem Zeitgeist aufgefüllt wird, sondern hat eine sehr klar definierte Biografie, sogar einen detaillierten Stammbaum. Auf Grundlage dessen wäre es zumindest sehr, sehr unwahrscheinlich, dass James Bond als etwas anderes als ein kleiner Kaukasier geboren werden könnte.

Aber erstens ist Bond eh eine sehr, sehr unwahrscheinliche Figur, zweitens scheren sich zum Glück die Filme einen Dreck um die Romane, die zu einem Großteil ziemlich töricht sind. Der Film-Bond tritt mit jedem neuen Bond-Darsteller in eine neue Bond-Ära. Es ist Zeit für die Elba-Ära. Vielleicht sogar für die Street-Ära.

Ein gern gehörteres Argument gegen Elba als seine Hautfarbe ist sein Alter. Ein Außendienst-Agent in den 40ern sei eben unrealistisch.

Etwas Unrealistisches in einem Bond-Film?! Nein, das geht auf gar keinen Fall!

Flachs beiseite, Idris Elba wäre schon eine gute Wahl. Das einzige, was mich an ihr stört, ist, dass sie inzwischen ein bisschen zu offensichtlich ist. Lieber lässt man sich doch überraschen.

Festzuhalten wäre für die Schlechtmenschen, die gerade vom Stammtisch oder vom Zündeln heimkommen, dass ein schwarzer Bond selbstverständlich kein politisch-korrektes Marketing-Gimmick ist, sondern nur ein konsequentes Erkennen und Anerkennen der Tatsache, dass nun schon seit geraumer Zeit nicht jeder echte englische Engländer automatisch blütenweiß ums Näschen daherkommen muss. Sicherlich auch nicht jeder Geheimagent.

Wenn ich allerdings ganz ehrlich bin, habe ich gar keine allzu große Meinung zu der Frage, wer der nächste Bond sein sollte. Mir ist es wichtiger, dass die Filme gut werden. Ich teile durchaus die langweilige Konsensmeinung, dass George Lazenby und Timothy Dalton keine Idealbesetzungen waren (obwohl Dalton nah dran kam). Andererseits gehören alle ihre Filme zu den allerbesten, die die Reihe zu bieten hat. Bond ist keine sonderlich spannende Figur, sie braucht keinen sonderlich spannenden Darsteller. Kennt eigentlich noch jemand Andreas Elsholz?

(Kurz mal eben zur Causa Lazenby: interessanter Typ, und seinerzeit gar nicht so unbeliebt, wie es retrospektiv dargestellt wird. Tatsächlich wurde er mehrfach bekniet, für mehrere Bond-Filme zu unterschreiben. Nur war er der Meinung, diese albernen Schnickschnackstreifen stünden seiner großen Kunstkinokarriere im Weg.

Hab ja nur gesagt: interessanter Typ ist. Nicht: ausgewiefter Fuchs.)

Als vor ein paar Jahren die James-Bond-DVD-Komplettbox so schleuderbillig wurde, dass man sie nicht nicht kaufen konnte, habe ich mir mal den Spaß gemacht alle Filme hintereinander weg zu sehen, natürlich mit Schlaf- und Arbeitspausen. Ich war schockiert, wie schnell Sean Connery verblasste. In jungen Jahren hätte ich noch jedem die Nase blutig geschlagen, der die Connery/Moore-Frage debil lächelnd mit „Roger Moore!“ beantwortete. Doch jetzt sah ich einen Connery, der zwei Filme lang strahlte, und ab Goldfinger nur noch lustlos durch die Kulissen schlurfte, auf der Suche nach seinem Gehaltscheck.

Was war es für eine Wohltat, als in Leben und sterben lassen endlich Roger Moore mit seinem Charme und seiner Spielfreude das Ruder übernahm! Diese Spielfreude ließ zwar Unken zufolge auch im Laufe seiner Karriere nach, aber ich sage: das ist Erbsenzählerei gegen Connerys Sturzflug. Ganz ehrlich: Diamantenfieber hätte niemals veröffentlicht werden dürfen. Octopussy Meisterwerk dagegen.

Will damit eigentlich nur sagen: Lieblings-Bond ist ein Rotationsjob, und letztendlich hat die Qualität des Hauptdarstellers keinen großen Einfluss auf die Qualität des Films (Diamantenfieber hat weiß Gott noch größere Probleme als die unrealistische Sean-Connery-Puppe, die da immer in die Kamera gehalten wird). Bond-Filme sind keine Schauspielerfilme, sondern wunderbare Schnickschnackstreifen.

Und ganz eigentlich will ich sagen: am liebsten wäre mir, wenn der nächste Bond eine asiatische Frau wird. Und ich möchte jetzt nicht hören, dass Lucy Liu zu alt für irgendwas sei.