Ich möchte mich ganz herzlich für die vielen, größtenteils ungruseligen Geburtstagsglückwünsche bedanken. Auch für den Heiratsantrag, den ich allerdings in dieser Form nicht bearbeiten kann. Es fehlen noch einige Pflichtangaben (z. B. Geschlecht).
Archiv der Kategorie: Allgemein
Endlich Halbzeit! (+/- p x Daumen)
Aus gegebenem Anlass: 40 Lieblingsfilme aus 40 Lieblingsjahren
1969: Ein Hauch von Zen (Taiwan)
1970: M*A*S*H (USA)
1971: Carnal Knowledge – Die Kunst zu lieben (USA)
1972: Der Pate (USA)
1973: Der Exorzist (USA)
1974: Das Kettensägenmassaker (USA)
1975: Angst über der Stadt (Frankreich, Italien)
1976: Taxi Driver (USA)
1977: Suspiria (Italien)
1978: Zombie (Italien, USA)
1979: Das Böse (USA)
1980: Wie ein wilder Stier (USA)
1981: Arthur – Kein Kind von Traurigkeit (USA)
1982: Basket Case (USA)
1983: Zelig (USA)
1984: Nightmare – Mörderische Träume (USA)
1985: Mishima – Ein Leben in vier Kapiteln (USA)
1986: Blue Velvet (USA)
1987: Near Dark (USA)
1988: Hellbound – Hellraiser II (Großbritannien)
1989: Tetsuo (Japan)
1990: M.A.R.K. 13 – Hardware (Großbritannien)
1991: Das Schweigen der Lämmer (USA)
1992: Lawinen über Tolzbad (Kanada)
1993: Manhattan Murder Mystery (USA)
1994: Mrs. Parker und ihr lasterhafter Kreis (USA)
1995: Clueless – Was sonst! (USA)
1996: Der Hexenclub (USA)
1997: L.A. Confidential (USA)
1998: Happiness (USA)
1999: eXistenZ (Kanada, Großbritannien)
2000: Cecil B. – Echte Menschen, echter Terror. (Frankreich, USA)
2001: Donnie Darko (USA)
2002: Ju-On – The Grudge (Japan)
2003: Tokyo Godfathers (Japan)
2004: Kamikaze Girls (Japan)
2005: Princess Aurora (Südkorea)
2006: Saw III (USA)
2007: La antena (Argentinien)
2008: The Shonen Merikensack (Japan)
2009: Vengeance (Hongkong, Frankreich)
Okay, sind 41, klassischer Denkfehler der mathematisch Minderbemittelten. Aber Sie wissen schon, wie es gemeint ist.
Ja, hätte man in Jahrtausenden gerechnet auch kürzer fassen können, quasi Kettensägenmassaker und Kamikaze Girls, aber heute lassen Sie Opa bitte mal ausreden und tun interessiert.
Die Nase läuft, die Hose rutscht, ansonsten alles bestens
Im Internet sind private Fotos aufgetaucht von Naoko Marutanis und meiner musikalischen Lesung letzte Woche in Bremen. Und zwar hier:
Und jetzt: Was die Bilder WIRKLICH zeigen!
Reines Wunschdenken:

Die Nachrichten: Heute nur sehr gute Nachrichten
Erste sehr gute Nachricht: Nachrichten werden ab sofort hier im Blog veröffentlicht, für irgendwas muss der ja gut sein. andreas-neuenkirchen.asia hatte gestern die Engel von der Unternehmensberatung im Haus und es wurde Gott sei Dank festgestellt, dass 25 bis 33% der Unterseiten rausgeschmissen werden können, ohne dass der Vorstand aufs tägliche Champagnerfrühstück verzichten muss. Die Nachrichtenseite und ein bis zwei andere, die noch nichts ahnen, werden ersatzlos gestrichen. Aber erst nach Weihnachten, Hauptsache Mensch bleiben.
Zweite sehr gute Nachricht: Es sieht momentan nicht so aus, als müsse ich meine Lesung am 26. 11. in Bremen kurzfristig absagen, weil das Trinkwasser nicht die richtige Balance aus Spritzigkeit und Stille hat. Ich freue mir einen Ast über jedes bekannte Gesicht, aber vielleicht freue ich mich sogar noch ein klitzekleines bisschen mehr – WENN DAS ÜBERHAUPT MÖGLICH IST – über jedes Gesicht, das ich noch nie in meinem Leben gesehen habe. Der Eintritt ist meines Wissens frei aber begrenzt, bitte kontaktieren Sie rechtzeitig die Buchhandlung Conr. Claus Otto in Bremen-Vegesack.Asia Filmfest: Deleted Scenes
Der Typ von dasmanifest.com neulich so: „Ey, machste für uns wieder die Berichterstattung vom Asia Filmfest?“
Ich so: „Ja ja.“
„Hammer! Aber pass auf: Durst und The Beast Stalker musste nicht machen, da haben wir schon Texte.“
„Ja ja.“
„Hast du mir überhaupt zugehört?“
„Ja ja.“
„Was hab ich gesagt?“
„Durst und The Beast Stalker. Ich hab doch keine Bohnen in den Ohren.“
„Na gut. Wie gesagt: Die beiden nicht.“
„Ja ja“.
***
Ein paar Tage später: Schreibe ich also wie ein Gehetzter meine Kritiken zu Durst und The Beast Stalker – und da stellt sich heraus, dass der Typ von dasmanifest.com die gar nicht haben wollte! Hätte er auch vorher sagen können!
Dann kommen sie halt hier. Hier fressen sie ja kein Brot.
DURST (Südkorea 2009)
Ich bin ein Vampir, aber das ist okay. Der katholische Priester Sang-hyun (Song Kang-ho) kann zunächst gut damit leben, dass er als Untoter durchs Leben geht, seit er sich in Afrika einen Blutsauger-Virus eingefangen hat. Schließlich arbeitet er in seiner südkoreanischen Heimat als Krankenhausseelsorger und kann leicht mal einem Komapatienten etwas abzapfen, wenn seine Haut zu sehr schuppt. Stärker als der Blutrausch versucht ihn die Fleischeslust, als Kindheitsfreundin Tae-ju (fantastisch anämisch: Kim Ok-vin) wieder in sein Leben tritt, inzwischen frustrierte Gattin eines lächerlichen Kindheitsfreundes und unter der Fuchtel ihrer unmöglichen Schwiegermutter. Der Ehebruch wird begangen, Mordpläne werden geschmiedet und ausgeführt, auch Tae-ju wird zum Vampir. Aber aus großer Leidenschaft wird eine eheähnliche Hassliebe, und je blutrünstiger Tae-ju wird, desto sicherer wird sich der inzwischen ehemalige Priester, dass er einen Schlussstrich ziehen muss.
Offenbar hat Regisseur Park Chan-wook lange nach dem Film gesucht, der DURST werden sollte. Die gute Nachricht: Er hat ihn gefunden. Die nicht so gute Nachricht: Er hat nicht alle Spuren seiner Suche verwischt. Immer wieder mäandert DURST zwischen Drama, Horror, Klamotte, sexy Sex, Amour fou und Film noir. Kaum etwas davon ist misslungen, aber einiges ist verzichtbar. Brauchen wir wirklich eine medizinische Erklärung für die Existenz von Vampiren? Nein, das hat ohnehin noch nie funktioniert, weil Vampire medizinisch betrachtet Quatsch sind. Geht nicht, gibt’s nicht. Ganz egal, wie viele moderne Vampir-Filme uns noch mit Mikroskopaufnahmen von wimmelnden Blutkörperchen kommen. Vampire kann man nur mythologisch, psychologisch oder am besten gar nicht erklären.
Die Szene, in der sich Sang-hyun und Tae-ju aufs Heftigste im biblischen Sinne kennenlernen, ist wunderschön und hoch erotisch, und sie wird später wunderbar kontrastiert von einer ausgesucht leidenschaftslosen Liebesszene. Aber muss sie so lang sein? Bei aller Schönheit bringt sie nicht nur die Figuren, sondern auch die Dramaturgie zum Erliegen. Auch dass Sang-hyun anfangs katholischer Priester ist, kommt einem über kurz oder lang nicht so wichtig vor, wie es Park Chan-wook zu sein scheint. Sicherlich wird hier und da ein moralischer Konflikt zwischen vampirischen Trieben, fleischlichem Verlangen und christlicher Lehre thematisiert. Aber es ist doch sehr zu hoffen, dass katholische Priester nicht die einzigen Menschen sind, die mit Ehebruch, Verstümmelung und Mord moralische Probleme haben. Überhaupt ist die Schuld-und-Sühne-Thematik in Vampir-Erzählungen (oder im Horror überhaupt) ein alter Hut, und er bekommt in DURST keine neuen Federn.
Seine wahre Größe findet der Film im Humor. In schwarzer Situationskomik, in blutigem Slapstick, im Screwball-Rapport der beiden Hauptrollen, in den bizarren, brillant gespielten Nebenfiguren. In der Komik, der leisen wie der lauten, ist DURST ganz bei sich. Und im Finale, wenn sich Sang-hyun und Tae-ju einen letzten, fast wortlosen und relativ gewaltfreien Ehekrach kurz vor Sonnenaufgang gönnen, erreicht der Film das, was er vielleicht die ganze Zeit versucht hatte: die perfekte Balance zwischen Komik und Melodramatik. Der Weg dahin war weniger perfekt. Aber dass man ihn dennoch gerne mitgegangen ist, spricht für den Film. Auch wenn man sich hier und da eine Abkürzung gewünscht hätte.
THE BEAST STALKER (Hongkong 2008)
Der Polizist Tong (Nicholas Tse) ist nicht ganz unschuldig am Tod der kleinen Tochter von Staatsanwältin Gao (Zhang Jingchu). Das Mädchen kam bei einem Autounfall während eines verpatzten Polizeieinsatzes ums Leben. Ein Gangsterboss und diverse andere Finstermänner waren ebenfalls an der Karambolage beteiligt. Tong fühlt sich nun besonders verantwortlich für das Wohlergehen der Zwillingsschwester der Toten. Als sie im Auftrag des inzwischen inhaftierten Gangsterbosses entführt wird, nimmt Tong auf eigene Faust die Verfolgung des Kidnappers auf, am Polizeiapparat vorbei.
THE BEAST STALKER ist ein routinierter Polizei-Thriller nach Hongkonger Art, der so gern mehr sein möchte. In harten, glaubwürdigen Action-Szenen läuft er zu Höchstform auf, aber dazwischen läuft er oft leer. Mit Rückblenden sollen die Schicksale der Figuren noch enger verzahnt werden, als sie es ohnehin sind, aber dieser Zwang alles mit allem zu verbinden, lässt die Handlung nur unnötig konstruiert erscheinen. Zumal dabei lediglich die Ereignisse an Komplexität gewinnen, nicht aber die Figuren, was viel nötiger gewesen wäre. Insbesonders Hauptfigur Tong bleibt frustrierend blass. Ja, er trägt schwer an seiner Schuld, aber was ist er sonst für ein Typ? Seine Interaktion mit den anderen Rollen gibt darüber keinerlei Aufschluss.
Gerade der Kidnapper ist die einzige facettenreich gestaltete Figur. Sollte er das Beast in THE BEAST STALKER sein, wäre der Titel reichlich absurd gewählt, denn der Film schafft es erfolgreich, ihn gerade nicht als stereotype Bestie darzustellen, sondern als einen Mann in der Krise. Einer, der aus redlichen Gründen Unredliches tut. Einer der weiß, dass er selbst zum Scheitern verurteilt ist. Aber was er tut, ist größer als er allein. Für diese Charakterisierung Beifall. Dafür, und für die muntermachende Action. Für den Rest nur verhaltenen Höflichkeitsapplaus.
Und hier – der Rest vom Fest (in Arbeit).
Traurige Nachrichten vom Printmarkt
Ich muss mich entschuldigen, diese Nachricht ist eigentlich schon sowas von 14. Oktober, aber ich habe mich erst jetzt ein wenig sammeln können. Traurige Nachrichten sind im Zeitungs- und Zeitschriftensegment gewiss keine Seltenheit, aber diese hatte mich doch ein bisschen stärker aus der Bahn geworfen als die übliche Kunde vom Zeitungssterben. Ich fing ganz schlimm an zu weinen, als ich sie hörte, und konnte gar nicht mehr aufhören. Inzwischen geht es einigermaßen. Es kommt nur noch ein gelegentliches Schluchzen, und das Zittern ist soweit unter Kontrolle, dass ich wieder schreiben kann. Trauer teilt man am besten mit anderen, sonst geht man daran kaputt, ein Mensch ist keine Insel. Die traurige Nachricht, von der ich rede, heißt: Business Punk. Und am Donnerstag ist sie erschienen.
Für sowas hat Gruner + Jahr also Geld. Denen geht’s wohl zu gut, hört man ja immer wieder. Hartnäckig halten sich die Gerüchte, Business Punk wäre aus einem hausinternen Kreativ-Wettbewerb hervorgegangen, aber das ist bestimmt nur so ein gehässiger Branchenwitz. So wie sich Werber hin und wieder auch als ‚Kreative‘ bezeichnen und dabei still denken: Höhö.
Noch nie habe ich mich so geschämt, ein berufstätiger Mann zu sein. Dieses Heft bitte nicht in meinem Namen. Ich hoffe, liebe Leserinnen (Leser mitgemeint), Sie rechnen mir hoch an, dass ich meine Scham schön mollig in Winterkleidung gehüllt habe und durch Wind und Wetter zum nächsten Hugendubel gestiefelt bin, um mir ein eigenes Bild von dem Grauen zu machen und es mit Ihnen zu teilen. Selbstverständlich konnte ich Business Punk nicht einfach so auf die Theke knallen, was sollte die Verkäuferin denken. Deshalb habe ich noch die Jubiläumsausgabe von BUSENREPORT AKTUELL dazu genommen, um ein wenig vom peinlichen Teil des Einkaufs abzulenken. Es ergab sich folgender Plausch, der sich wirklich fast genau so zugetragen hat:
Verkäuferin (lacht): „Sie sind der Erste, der das bei mir kauft.“
Ich (erstaunt): „Wirklich? BUSENREPORT AKTUELL geht doch immer …“
„Nein, ich meine Business Punk.“
„Ach so, haha, naja, hoffentlich auch der Letzte.“
„Gibt ja eh nur eine Ausgabe.“
Ich gebe ihr taktlos meine Amazon-Kreditkarte.
Hugendubel-Verkäuferin (50% jovial-vorwurfsvoll, 50% echt-vorwurfsvoll): „Die nehm ich aber nur, weil Sie es sind!“
Ich (erschrocken): „Au, Scheibenkleister! Entschuldigen Sie, ich habe nicht mitgedacht! Warten Sie, ich habe einen Haufen anderer …“
„Lassen Sie mal, sonst überlegen Sie es sich noch anders.“ Der Zahlvorgang wird abgeschlossen. Sie sagt zum Abschied: „Dann wünsche ich gutes Gelingen.“
Ich (verwirrt): „Wie? Nein, das ist nur für die Recherche, ich bin nicht so einer.“
„Nein, ich meine BUSENREPORT AKTUELL.“
„Ach so, danke.“
Auf dem Cover von BUSE Business Punk ist Richard Branson mit herausgestreckter Zunge abgebildet, dazu das ihm zugeschriebene Zitat: „Ich breche Regeln[.]“ Dass Branson irgendwelche Regeln bricht, ist tatsächlich eine Topmeldung, denn eigentlich ist doch gerade er als ein besonders dröges Beispiel des modernen Standard-Business-Dödels bekannt (Hobbies: Geld verdienen, Jeans tragen, in irgendwas rumfliegen). Auf dem Cover von Business Punk bricht er aber wirklich eine Regel (immerhin). Nämlich die, dass man als erwachsener Mann niemals jemandem oder etwas die Zunge rausstrecken sollte, wenn man eine Regel brechen will. Die rausgestreckte Zunge gilt nämlich nur bis zu einem Alter von ca. 5 Jahren als regelbrechender Punkergestus. Erwachsene haben andere Ausdrucksmöglichkeiten, zum Beispiel Molotowcocktails. Die Zunge strecken allenfalls solche Erwachsenen raus, die sich für „auch ein bisschen verrückt“ halten, weil sie manchmal „auch total verrückte Sachen“ machen. Spießer, in einem Wort. Aber seit sich erholsamerweise nicht mehr jeder Spießer überall mit Schmuck durchsticht und es alle zwei Minuten zwanghaft herzeigen muss, bleibt auch in dieser Bevölkerungsschicht das Schleckwerkzeug meist in seiner Höhle. Ob Teufelskerl Branson noch mehr Regeln bricht, steht vielleicht im Interview, aber das lese ich einfach nicht. So geht nämlich Punk. Konsequente Verweigerungshaltung. Ich weiß das, denn Punk ist mein Business.
Anderen muss erst mal erklärt werden, wer oder was Punk ist. Das macht Business Punk im ‚Dossier Andersmachen‘. Dort erfährt man, dass Quentin Tarantino Punk ist, weil er keine eigenen Ideen hat, und Benedikt Taschen, weil er fünfmal pro Tag onanieren kann. Ein ideenloser Wich Onanist wäre also der Alpha-Business-Punk. Hat das bei der Covergestaltung eine Rolle gespielt?
Was ist sonst im Heft? Unsinnsthema Twitter, Unsinnsthema Facebook, Unsinnsthema Meeting-Hölle. Zu letzterem gibt es ein lustig aussehendes Ja/Nein-Spiel mit Feldern und Pfeilen. Hab ich angefangen zu spielen, dauerte aber länger als jedes meiner Meetings der letzten Woche und war weit weniger amüsant. Dann haben wir noch Interviews mit Menschen namens Shaun White (irgendwas mit Skateboard), Oliver Kahn (wohl ein Fußballer) und Dings (CEO von Bums, wenn ich mir das richtig gemerkt habe). Und kann man überhaupt genügend selbstgerechten Zorn aufbringen, wie es nötig wäre, um sich angemessen über eine Story aufzuregen, die auf der Titelseite als ‚Sexy Sekretärin – Die Versuchung im Vorzimmer‘ angepriesen wird, und die im Heft ‚Zur Sache, Kätzchen‘ heißt, weil ‚Schätzchen‘ wohl nicht sexistisch genug war? Nein, kann man nicht, sonst motzt nur wieder der Stammtisch der Verwesenden über die böse ‚political correctness‘ (Stammtisch-Fachausdruck, normale Menschen sagen: Anstand). So geht man auch über das beigeklebte Gimmick mit unangebrachtem Großmut hinweg: Ein Türhänger mit den Worten „Komme gleich!“ und der Silhouette einer vermutlich nackt gemeinten Frau in James-Bond-Vorspann-Maßen. Man ärgert sich nicht, man wärmt sich nur am Gedanken: Wenn morgen die Sonne aufgeht, werde ich immer noch da sein. Business Punk aber nicht.
Trotzdem: Mir ist unbegreiflich, wie so ein Magazin überhaupt passieren konnte, und das gerade jetzt. Wofür haben wir denn die Krise? Wer macht sowas? Gut, es stehen Namen im Impressum, aber das können ja nur Decknamen sein. Ist hier die reine Verzweiflung die Antriebsfeder? Hat man wirklich nicht gewusst, dass ein Leben unterhalb der Armutsgrenze weit mehr Würde hat als eines als Mitarbeiter eines Magazins namens Business Punk? Hat mal wieder keiner von was gewusst? Ist es wieder soweit in Deutschland? Oder bin ich zu empfindlich, und Deutschland bekommt bloß die Zeitschriften, die es verdient?
Ja, könnte sein. Denn am gleichen Tag wie Business Punk sind zwei weitere neue Frauenzeitschriften für Männer erschienen: Gala Men (Topthemen: Brad Pitt und der Penis) und BEEF! (Topthemen: der Papst und Kochen mit Eiern). Der Tag war eh verloren, da habe ich mir die beiden auch noch gekauft. Erwartungsgemäß sind die Magazine für sich nichts als sinnloses Waldsterben, aber im Vergleich zu Business Punk sind sie künstlerisch, literarisch und konzeptionell von erlesenstem Niveau. Man könnte fast sagen: Punk. Aber nur fast, und nur man. Ich nicht.
Mein erstes Mal in Japan (3): Oktoberfest
Aufs Münchner Oktoberfest kriegen mich keine zehn wimpernklimpernden Bikinimädchen, seit mir dort mal jemand auf den Kopf gekotzt hat. Lange Geschichte. Eigentlich extrem kurze Geschichte, sie ist ja auch in der Quintessenz bereits wiedergegeben, die genaueren Umstände sind schwierig zu erklären, man müsste Diagramme zeichnen, das ginge zu weit. Ich habe Glück: Ich lebe ohnehin in München, deshalb muss ich nicht aufs Oktoberfest. Bier ist in München ganz legal an jedem Tag des Jahres zu bekommen, ausgeschenkt in Gaststätten, in denen teilweise sogar noch bessere Musik gespielt wird als auf dem Oktoberfest, und in denen Menschen verkehren, die ihre Zuneigung anders zeigen können als fremden Menschen auf die Köpfe zu kotzen.
Aber in Tokio kann ich so ein Oktoberfest mal mitmachen, finde ich. Das Stadtviertel Roppongi ist in den letzten Jahren wahnwitzig schnell versnobt und ver-yuppiet, und das ist eine ganz wunderbare Entwicklung. Jeden Tag danke ich Gott auf Knien dafür. Vorher war Roppongi Ballermann, nur nicht so kultiviert. Jetzt gibt es hier die besten Kunstmuseen, die schönsten Hochhäuser und die teuersten Einkaufszentren der Welt, man möchte gar nicht mehr weg. 2003 war der protzige Büro/Shopping/Gastro/Wohn/Kultur-Komplex Roppongi Hills der letzte Schrei, seit 2007 ist es der noch protzigere Büro/Shopping/Gastro/Wohn/Kultur-Komplex Tokyo Midtown ein paar Ecken weiter. Dort findet auch der ‚Tokyo Midtown Deutsch Bier Garten‘ statt, zu dem es mich zieht. Gut, es heißt nicht direkt ‚Oktoberfest‘, fällt mir gerade auf. Sein Sie doch nicht so. Ich bin bereit, ein Auge zuzudrücken.
Sieht auch nur bedingt nach Oktoberfest aus, was dort auf der Rasenfläche von Tokyo Midtown aufgestellt wurde. Die Sauf- und Fressstände scheinen mir authentische Importe, alles Hofbräu-lizensiert. Aber die mit weißem Tuch überdachten Sitzbänke und die weißen Stehtischchen sind eher Ferrero-Party mit German Kleinigkeiten. Gefällt mir. Es gibt eine Musikbühne, da stehen Tuba und Kuhglocke, aber keine Musiker. Gefällt mir auch.
Natürlich bestehe ich auf Japanerinnen in Dirndls. Aber dafür hätte ich wohl doch auf die Münchner Ausgabe gehen müssen. Eine immerhin läuft rum, sie verteilt Handzettel, auf denen mehrsprachig die Biersorten und die Maßeinheiten erklärt werden. Ich bekomme keinen, weil ich wissend lächle. Man kauft sich Wertmarken an einer Bude, die tauscht man an einer anderen Bude gegen das frisch gezapfte Bier ein. Am Ausschank ist eine junge Dame mit mehrfach gefärbten Haaren, die ich für deutsch halte (die Dame [okay, die Haare auch]). Ganz sicher bin ich mir nicht, sie macht das gut mit Japanisch, Deutsch und Englisch. Sie kann besser Sprachen als Zapfen, und das begrüße ich. Zapfen ist zwar auch wichtig, kann man aber spät im Leben noch lernen. Sprachen nicht, glauben Sie mir.
Hunger habe ich leider auch. Das ist gemeinhin ein Problem auf solchen Veranstaltungen. Bei ähnlichen Anlässen in Bayern wird bloß groß geschaut, wenn ich frage: „Gibt’s das Hendl auch in Tofu?“ Auch hier kann man nur wählen zwischen zwei Ständen: ‚München Oktoberfest Originale Wurst‘ und dem ‚Franzl Grill‘. Also kaufe ich für viel Geld eine Brezn. Ich hätte gern noch eine Gurke dazu gekauft, so großen Hunger habe ich, aber so viel Geld nicht. Angesichts des Preises gehe ich davon aus, dass es sich um eine dieser Riesenbrezn handelt, von denen man Bauchschmerzen bekommt, wenn man sie nicht mit den anderen Kindern teilt. Ist aber nur eine kleine, ist schließlich Tokioter Oktoberfest, nicht die Münchner Schnäppchen-Wiesn. Macht nichts, mein Bier ist ja auch nur ein kleines. Der Wertmarkenverkäufer hat mich bei der Bestellung mit einer Mischung aus Enttäuschung, Mitleid und Verachtung angesehen, bilde ich mir ein. Aber mein Tokio-Aufenthalt neigt sich dem Ende zu, da sitzt das Geld nicht mehr so locker. Außerdem spiele ich mit dem Gedanken, mir noch den neuen ‚20th Century Boys‘-Film auf DVD zu kaufen.
Wie gut, dass es zu regnen anfängt. Ich habe nur einen unüberdachten Stehplatz, da komme ich nicht in Versuchung, meine Besuchszeit auszudehnen. Womöglich noch, bis die Blasmusik mit Kuhglocke käme. Wenn die kommt, kenne ich immer kein Halten mehr, dann wird durchgemacht bis morgen früh.
Aber sche war’s scho. Fast so schön wie in München, wenn kein Oktoberfest ist.
Mein erstes Mal in Japan (2): Rockkonzert
Es ist mir ein Bedürfnis, zweierlei zu meinem Maid-Café-Eintrag von neulich nachzureichen. Beim ersten handelt es sich um die Schilderung einer Begebenheit, die ich mir zwar unmittelbar nach meinem Besuch als interessant notiert, aber bei der Schönschrift dann doch vergessen hatte. Und zwar: Gerade als ich das Lokal verließ, kam eine neue Gäste-Clique herein – und die bestand nahezu komplett aus jungen Frauen. Unverdächtigen, recht attraktiven jungen Frauen. Ich will nicht behaupten, dass dadurch auf einen Schlag das Geschlechterverhältnis im Café kippte, aber die Männerquote von zuvor 100% (Personal freilich nicht mitgerechnet) wurde doch beträchtlich gesenkt.
Der zweite Nachtrag ist das Eingeständnis einer faustdicken Lüge meinerseits. Das verräterische Herz böllert nun doch zu heftig gegen die Dielen. Ich habe geschrieben, dass ich am Abend des Tages meines Café-Besuches im Fernsehen eine Folge der Serie ‚Maid Deka‘ gesehen habe. Sie haben es bestimmt längst bemerkt: Das kann gar nicht sein! ‚Maid Deka‘ läuft doch freitags, und das Foto aus dem Maid Café ist eindeutig auf den 2. September 2009 datiert! Und das war ein Mittwoch!
Ja, ich gebe zu, ich habe die Wahrheit für einen dramaturgisch geschmeidigen Abgang geopfert. Und ich würde es wieder tun.
Ich habe die besagte Fernsehserie zwar das eine oder andere Mal gesehen, aber eben nicht an jenem Abend. Tatsächlich habe ich mich nach dem crazy Café keineswegs geschont und ins Private zurückgezogen, sondern – Kaiserüberleitung – habe mich eine weitere persönliche Japan-Premiere getraut: Mein erstes Rockkonzert.
Dass ich zuvor kein solches auf japanischem Boden besucht habe, liegt freilich weder an Scham noch an Desinteresse, sondern wirklich lediglich daran, dass gute Reisezeit und gute Konzertzeit nicht immer Schnittmengen haben. Aber diesmal gibt es ein Konzert, das mich interessiert und das günstig liegt: Die Nachfeier zum Erscheinen des Independent-Samplers ‚Kill Your T.V. 09‘ mit mehreren darauf vertretenen Bands, im wesentlichen Gitarrenbands der brummigen Sorte. Es soll im ‚nest‘-Abteil des Club-Komplexes Shibuya O-WEST stattfinden. Auf der Website von Shibuya O-WEST ist eine Karte mit der Lage des Etablissements einzusehen: Püppileicht. Man muss nur scharf am Shibuya 109 vorbei, dann die nächste rechts oder links (je nachdem, an welcher Seite man scharf vorbeigegangen ist), und eigentlich ist man schon da. Das Modekaufhaus Shibuya 109 ist nicht zu übersehen, wenn man in Shibuya ist. Ein kunterbunter Monolith, fliegt man als Tourinaut vorbei, staunt man: „Mein Gott … es ist voller Menschen!“ Vor allem junge Menschen. Betritt man es als über 25-jähriger, sterben bei jedem Besuch ein paar Gehirnzellen. Schuld ist neben der optischen Reizüberflutung die ohrenbetäubende Musik, die die jungen Kunden nicht davon abhält ununterbrochen miteinander zu telefonieren. Bei jungen Menschen sterben die Gehirnzellen übrigens auch, aber in dem Alter ist das ein natürlicher und notwendiger Aspekt der Assimilation, damit man den Rest des Lebens besser meistern kann. Das nur am Rande, ich betrete es ja gar nicht, sondern gehe scharf links daran vorbei. Als hätte ich es geahnt, führt mich die nächste Straße rechts keineswegs zum Ziel. Japaner und ich haben gemein, dass wir leicht zu verstehende Karten komplizierten Karten vorziehen. Wir haben nur eine unterschiedliche Vorstellung davon, wie sich ‚leicht zu verstehen‘ definiert. Ich meine, eine Karte ist gut, wenn jede noch so unwichtige Straße darauf eingezeichnet ist, damit man sich daran orientieren und Abbiegungen abzählen kann. Japaner meinen, eine Karte ist gut, wenn nur die Straßen eingezeichnet sind, die man wirklich benutzt auf dem Weg zum Ziel. Kurzum: Es handelte sich bei der Straße, die ich auf der Karte für ‚die erste rechts nach Shibuya 109‘ hielt, keineswegs um die erste rechts. Sondern ungefähr um die 127. rechts. Die anderen 126 waren nur nicht auf der Karte eingezeichnet, weil man sie ja nicht nehmen muss. Ich verfranse mich ganz schlimm in den Love-Hotel-Hügeln von Shibuya und finde O-WEST erst durch Zufall, als ich längst auf dem Heimweg bin und eigentlich gar keine Lust mehr habe. Habe ich dann aber doch wieder, Erfolgserlebnisse lassen Glückshormone sprudeln.
Das ‚nest‘ ist ein angenehm kleiner Club im siebten Stock. Die Unisex-Klos ein Stockwerk tiefer lassen sich über eine Brooklyn-mäßige Außentreppe erreichen. Die coolsten Kids stehen natürlich nicht im Club, sondern auf dieser Treppe, rauchen und telefonieren. ‚Kids‘ ist richtig, denn das Publikum ist zu einem sehr großen Teil sehr jung, oder scheint zumindest so. Man möchte sich das ein oder andere Mal direkt runterbeugen, die Hände auf die eigenen Oberschenkel legen und fragen: „Ja, darfst du denn schon so lange aufbleiben?“ Aber dann fällt einem ein: Ist ja gar nicht spät, so ein Punkkonzert geht in Japan schließlich schon um 18 Uhr 30 los, damit jeder noch gut per Bus und Bahn nach Hause kommt. Als Tourist gefällt mir der frühe Anfang, als Berufstätiger dächte ich wohl anders. Aber die meisten hier sind eh zu jung für Berufe.
Die erste Band habe ich wegen Orientierungsschwierigkeiten verpasst, aber ich komme genau rechtzeitig zu dem Auftritt, der mir ohnehin Hauptanliegen war: Mass of the Fermenting Dregs, ein Girl-Rock-Duo mit Quoten-Boy am Schlagzeug. Eigentlich finde ich die gar nicht gut, aber ich wollte das Konzert nutzen, mich eines besseren belehren zu lassen, denn ‚ALLE‘ finden die gut. Die hochgelobten beiden EPs der Band sagten mir nicht viel, ich fand den Sound dünn und die Kompositionen wenig bemerkenswert. Vielleicht aber, so der Gedanke, sind sie live besser, wäre bei dieser Art von Musik kein Einzelfall. Und genau so kommt es: Live hat der Sound mehr Bass und Brett, die Musik haut einem wunderbar eine runter. Sängerin Natsuko Miyamoto interagiert begeistert mit dem Publikum, Gitarristin Chiemi Ishimoto bleibt weitgehend stumm und schüttelt genreimmanent ihr Haar. It’s a beautiful noise, um es mit Metal-Legende Neil Diamond zu sagen.
Da dieses Konzert in der englischsprachigen Veranstaltungspresse der Leserschaft recht warm ans Herz gelegt wurde, wundert es mich ein wenig, dass ich einer von nur sehr wenigen offensichtlichen Ausländern bin. Zwei Amerikaner halten sich an ihren Bierdosen fest (an meiner wär unangenehmer), ein sympathisches italienisches Biker-Paar im fortgeschrittenen Alter kauft euphorisch nach jeder Band den Merchandising-Stand aufs neue leer. Ein Merchandising-Produkt, das ich in Deutschland selten bei Independent-Konzerten sehe, das hier aber sehr beliebt scheint, ist das Handtuch mit Aufdruck. Außerdem anders: Zu Stoßzeiten stehen die Kaufinteressierten gesittet an, anstatt die Verkäufer als brüllende Menschentraube kollektiv zu zerquetschen.
Sagte ich gerade etwas von Bierdosen? Gut möglich, denn Bier wird an der Theke in Dosen verkauft. Hat der japanische Musikliebhaber seine Dose ausgetrunken, wirft er sie in den dafür vorgesehenen Behälter. Man stelle sich das mal in Deutschland vor: Ein Rockkonzert, bei dem pfandloses Dosenbier verkauft wird. Vielleicht würde gar nichts passieren.
Angenehm ist, dass die Menschen wirklich zum Feiern der Musik und Musiker hier sind. In Deutschland scheint dieser Tage die Hälfte der Gäste nur deshalb ein Konzert zu besuchen, um es von vorne bis hinten mit dem Handy oder der Spiegelreflexkamera abzufilmen oder abzufotografieren. Ich finde es bedauerlich, dass die deutschen Konzertveranstalter derart eingeknickt sind vor der Technik und inzwischen so gut wie alles durchgehen lassen. Sie werden sagen: „Ach, wir können den Leuten doch nicht ihre Telefone nehmen!“ Ich sage: Könnt ihr wohl! Könnt sie nehmen, zu Boden schmeißen, drauftreten, und den ehemaligen Handy-Besitzer ohne Becherpfand nach Hause schicken.
Mag sein, dass das Fotografieren und Mitschneiden bei Michael Jac Madonna noch heute verboten ist. Aber bei den Kurkonzerten, auf denen ich mich bewege, herrscht inzwischen überall gestresstes und stressiges Knipsen und Filmen, ohne dass es uniformierte Stiernacken mit Funkgerät juckt. Man weiß heutzutage ja auch gar nicht mehr, was man überhaupt darf oder nicht darf. Das liegt an der Abschaffung der vorproduzierten Eintrittskarte. Früher hatten Konzerteintrittskarten vorne drauf ein farbiges Bild eines Monsters mit einer Axt oder einer Gitarre, und auf der Rückseite standen allerlei kleingedruckte Verbote. Heute gibt es Konzertkarten nur noch als Print-on-Demand-Abreißzettel mit Künstlername, Ort, Datum und Uhrzeit. Man macht sich nicht die Mühe, alle Verbote in die Druckmaschine einzugeben.
Glauben soll man bitte nicht, dies sei der Beginn eines Lamento darüber, dass es sie nicht mehr gäbe, die schönen Dinge. Es gibt im Gegenteil immer mehr schöne Dinge, man muss nur die Augen ein bisschen aufsperren, dann sieht man sie. Der Verlust der bibliophilen Konzertkarte ist zu verkraften, wenn man aus dem Pinnwand-Alter raus ist. In Sachen musikalischer Stilrichtungen werde ich mit zunehmendem Alter immer offener, in Bezug auf die Präsentation von Musik zunehmend puristischer. Was mich am Tod des Tonträgermarktes ein wenig traurig stimmt, ist der Verlust von Plattengeschäften. Auf Platten selbst, ob groß oder klein, schwarz oder silbern, kann ich aber gut verzichten. Der Cover-Artwork-Unsinn und Sammler-Editionen-Schwachsinn kaschiert nur, ist eitles Blendwerk, hat nichts mit Musik zu tun. Ach, da höre ich schon wieder einen heulen: „Aber … aber … Plattencovers sind doch eine Kunstform, noch dazu eine in der Kunstformengeschichte sträflich vernachlässigte!“ Darauf sage ich: Vernachlässigt – papperlapapp! Jedes Jahr müllen Hunderte Plattencover-Ausstellungen ansonsten grundanständige Museen zu, in den Museumsshops liegen Tausende Plattencover-Bildbände (Zahlen geschätzt), man komme mir nicht mit der Rede von der vernachlässigten Kunstform. Ich mag das nicht mehr sehen. Irgendwann ist eine Banane nur Banane. Liegt ja außerdem auch ohne Platte jedem Künstler frei, Kunstwerke im Format 30 x 30 cm zu schaffen. Wenn die gut werden, schaue ich sie mir an. Musik aber kaufe ich wegen der Musik.
Mehr noch als mich die Filmerei auf Konzerten stört, quält mich die Frage, was die Filmer hinterher damit anfangen. Kann mir keiner erzählen, dass man sich das unscharfe, übersteuerte Gewackel jemals wieder ansieht. Früher, zu BRD-Zeiten, als alles noch verboten war, konnte man mit solchen Aufnahmen Geld machen. Aber heute würde niemand in einer Jugendzeitschrift annoncieren: „Biete einen Videomitschnitt eines kompletten Konzertes der französischen Kneipensängerin Berry, aufgenommen am ersten Herbstabend 2009 in München, also als sie noch cool war, bevor ‚ALLE‘ sie gut fanden. Auf der Tonspur ist es mir gelungen, die Bestellvorgänge an der Theke besser herauszuarbeiten als den Gesang der quirligen Grinsekatze aus dem schönen Paris, und die Farben schwanken zwischen ausgebrannt und verwaschen, weil die Lichtverhältnisse bei Konzerten Laienfilmer und ihre Ausrüstung regelmäßig überfordern. Abzugeben gegen 200 Mark in Briefmarken, eine Videokopie des Spielfilms ‚Ein Zombie hing am Glockenseil‘ (höchstens 5. Generation) und eine Bravo-Kissogram-Karte des New-Romantic-Paradiesvogels Steve Strange.“ Würde heute keiner machen. Hätte nämlich schon jemand gratis bei Youtube hochgeladen, woraufhin es bald ein angemeldeter Nutzer mit fünf Sternen bewertet und folgenden Kommentar dazu geschrieben hätte: „alter kuck mal der ausschnitt von die alte HECHEL ROFL HECHEL ;-p“ Kurze Zeit darauf wiederum hätte ein Youtube-Systemadministrator Video und Kommentar gelöscht, weil sich eine US-amerikanische Hausfrau und Mutter, die in dieser Eigenschaft auch Mitglied eines diesbezüglichen Interessendurchsetzungsverbandes ist, beschwert hätte, dass das Video wegen dem Ausschnitt von die Alte not appropriate for family viewing sei. Sowas könne man vielleicht im liederlichen Paris oder im roten München tragen und zeigen, aber in den USA weckt der Anblick schlimme Erinnerungen an das dunkelste Kapitel der jüngeren US-Geschichte. Ich sage nur: Garderobenfehlfunktion.
Aber ich schweife ein wenig ab. Wir sind nicht im liederlichen Paris, und nicht im roten München, sondern im griebigen Tokio.
Die Bands nach Mass of the Fermenting Dregs spielen in der Mehrheit etwas, für das ich jetzt mal den Begriff Krawatten-Punk als geflügeltes Wort etablieren möchte, also harte aber disziplinierte Musik, dahinter stecken mehr Gedanken als nur ‚Rülps‘, die Frisur sitzt. Baller-Musik für Kunststudenten, wie es mir gefällt. Mindestens einmal ins Publikum springen ist für jeden Act Pflicht. Da hin und wieder doch mal jemand ein Foto knipst, lege auch ich meine Scheu ab und knipse Gitarrist und Sänger der letzten Band, nachdem sie ins Publikum gesprungen sind um dort weiterzuspielen. Wie Laien-Konzertfotos so sind, sind auch meine nichts geworden. Eines sei hier abgebildet, die Pfeile markieren Musiker.
Diese letzte Band, die ich für mudy on the 昨晩 halte (bin mir aber nicht sicher und nach fruchtloser Recherche zunehmend unsicherer), übertreibt es ein wenig mit der Publikumstuchfühlung. Ständig dieses Geschrei: „Shibuyaaa!“ Beim ersten Mal schreie ich begeistert zurück: „Yeeeaaah!“ Will sagen: „Yeah! Ich bin auch Shibuya! Ich sage es laut und stolz!“ Aber irgendwann wird aus dem Shibuyaaa-Gegröle doch nur lästige Anbiederung. Wir wissen schließlich, wo wir sind, und dass wir die Coolsten sind, weil wir da sind, wo wir sind.
Falls es sich bei der anbiedernden Gröl-Bande nicht um mudy on the 昨晩 handelte, und davon gehe ich beinahe aus, bitte ich mudy on the 昨晩 in aller Form um Entschuldigung. Liebe mudy on the 昨晩, ihr seid bestimmt ganz toll und gar nicht anbiedernd.
Bonus-Track
Mein zweites Mal in Japan: Rockkonzert
Mir hat das Kill-Your-T.V.-Konzert so viel Spaß gemacht, dass ich am nächsten Tag noch mal hingehe. Ist ein anderes Konzert unter anderem Motto, aber ebenfalls im Shibuya-O-WEST-Komplex und zufällig ebenfalls mit einer Band als Headliner, die auch auf der Compilation von gestern vertreten ist: OGRE YOU ASSHOLE. Ich hielt den Namen zuerst für einen typisch japanischen Unsinnsnamen, er geht aber zurück auf ein Zitat aus dem amerikanischen Filmklassiker ‚Die Rache der Eierköpfe‘.
Diesmal findet alles im ‚crest‘ statt im ‚nest‘ statt. Der Club ist noch etwas kleiner, dafür ist ein lauschiges Alternativ-Café vorgeschaltet. Wieder sind viele Kinder da, nicht wenige sehen so aus, als würden sie ihre Freizeit eher in der außerschulischen Handarbeits-AG als auf Punkkonzerten verbringen. Und gerade dieser Umstand rührt mich sehr. Hier scheint es kein Coolness-Diktat zu geben. Alle stehen ja offenbar auf die gleiche Musik, also können sich auch alle verstehen. Da muss keiner keinem die Unterhose langziehen oder den Kopf in der Kloschüssel waschen.
Die erste Band ist ein ganz erstaunliches Trio mit zwei Schlagzeugen und zwei Macbooks. Ihre Musik setzen D.V.D in Echtzeit als Computergrafiken um, die hinter ihnen auf einer Leinwand zu sehen sind. Zuerst denke ich: Ach, so ein Konzept-Scheiß. Aber dann bin ich hin und weg. Als dramatischer Höhepunkt wird per Musik Pong gespielt.
Hernach spielen die liebenswerten Uri Gagarn ein kräftiges Krawatten-Punk-Set mit verschmitzten Ansagen. Das wird mit CD-Kauf belohnt. Hinterher muss ich feststellen, dass das wieder so eine Band ist, die live mehr bringt.
OGRE YOU ASSHOLE sind leider ein zu souveräner Headliner. Die können schon was, aber um es britisch zu vergleichen: Es klingt zu häufig doch zu sehr nach Coldplay als nach Sex Pistols. Ich weiß, das ist gemein, ich bin sonst auch nicht so. Aber nach zwei überaus sympathischen und einigermaßen originellen Bands ist die Pop-Punk-Routine von OGRE YOU ASSHOLE doch etwas enttäuschend. Ich fordere: Uri for headliner!
Ich habe gewählt
Zweimal Zitrone, einmal Stracciatella.
MP3 rettet das Album-Format
Ich weiß noch nicht, ob digitale Musik die Musikindustrie vernichten wird oder nicht, ich bin doch kein Hellseher, fragen Sie mich später noch mal. Eines aber weiß ich: Musik-Downloads sind ein Glücksfall für das klassische Album-Format. Finde ich. Und ich bin der einzige realistische Maßstab, den ich ansetzen kann, alles andere wäre reine Spekulation. Ich gehe doch nicht extra in den Keller und werf das Internet an, um mir dann ein einziges Lied runterzuladen. Was soll ich mit dem machen? Das fliegt dann irgendwo rum, und am nächsten Tag weiß ich gar nicht mehr, dass ich es habe.
Mein unterbezahlter Dateimanager sagt mir, dass ich im Jahre 2004 ernsthaft mit dem Kauf rein digitaler Musik begonnen habe. Damals habe ich mir auch ein paar einzelne Lieder gekauft, es waren sentimentale Lieder, es gab Gründe, frage nicht. Jedenfalls wollte ich daraus eine Abspielliste mit sentimentalen Liedern erstellen, denn sentimental geht immer, dachte ich, die Liste wird Ausmaße annehmen, mein lieber Scholli, und die kann ich dann immer hören, wenn ich mich in tröstendem Selbstmitleid suhlen möchte.
Heute, rund 5 Jahre später, ist sie 3 Lieder lang. Wenn Sie es für Ihre Hausaufgaben genau wissen müssen: ‚Tiny Tears‘ von Tindersticks, ‚Dry Your Eyes‘ von The Streets und ‚Someday We’ll Know‘ von New Radicals.
Nicht, dass ich mir nie andere sentimentale Lieder heruntergeladen hätte, aber sie waren immer in einem Albumzusammenhang. Und wenn ich den Albumzusammenhang habe, brauche ich keinen anderen Zusammenhang. Wenn mir was gefällt, klicke ich auf ‚Album kaufen‘. Man kann doch In-Unserer-Schnelllebigen-Zeit nicht jeden Song einzeln evaluieren und dann womöglich noch Abspiellisten erstellen, damit es sich lohnt. Wer hat denn dafür Muße?
Früher, als Musik noch in erster Linie auf physischen Tonträgern verkauft wurde, habe ich mir durchaus hin und wieder Singles gekauft, Vinyl wie CD. Inzwischen kommt das gar nicht mehr in die Tüte. Muss auch nicht, denn seit physische Tonträger marginalisiert sind, sind Alben richtig gut geworden. Früher hatte sogar jedes insgesamt geniale Album ein oder zwei Gurkenlieder gehabt. Das traut sich heute kein ernst zu nehmender Künstler mehr. Sonst laden sich die ‚Kids‘ nur einzelne ‚Songs‘ runter, und die Gurken bleiben liegen.
Glücklicherweise sind Alben im Zuge der totaldigitalen Revolution auch wieder kürzer geworden. Die CD hatte da viel kaputt gemacht. Weil rund 80 Minuten drauf passten, waren viele Künstler und sogar einige ihrer Kunden der Meinung gewesen, man müsse die Zeit vollmachen, wolle man die Kunden nicht verschaukeln bzw. sich vom Künstler verschaukelt fühlen. Deshalb wurde die Welt verseucht mit unwürdigen Neuabmischungen eigentlich unverbesserlicher Meisterlieder, ermüdendem Instrumentalquatsch, Demoversionen, die niemanden was angehen, und Gurkenliedern 2.0, die in der Frühzeit der Tonaufnahme auf keine Single-B-Seite gekommen wären. Inzwischen sind beglückend viele Alben sogar inklusive Frühkäufer-Bonus-Material wieder bei einer Dreiviertelstunde angekommen. Genau die richtige Zeit um einen einzulullen, aber nicht lang genug, um einen zu langweilen.
Natürlich kann mit der neuen Darreichungsform auch Schindluder getrieben werden. Das äußert sich in der Unsitte, drei Knallerlieder auf einem Album nach vorne zu packen, und der Rest ist Schnarch. Sowas hat es früher nicht gegeben, gibt es aber heute ziemlich häufig. Es ist mir zwar peinlich, aber um der Aufklärung Willen gebe ich zu, dass ich im Sommer 2008 auf das Sommer-Hit-Wunder The Ting Tings hereingefallen war, weil mir die ersten drei Lieder ihres Albums beim Reinhören recht gut gefallen hatten. Also das ganze Album runtergeladen, das ganze Album gehört, und schnarch. Und jetzt hockt es auf meiner Festplatte und verhöhnt mich. Denn die drei guten Lieder waren freilich auch nicht gut. Ohrwürmer halt. Wie Würmer so sind, erst ganz lustig, dann doch nur Aasfresser.
Aber der Kunde ist nicht blöd. Fällt er einmal drauf rein, fällt er vielleicht auch noch ein zweites Mal drauf rein (dumdidum, The Kills, Midnight Boom, dumdidum), aber ein drittes Mal sicher nicht. Die Anzahl der Alben, die ich versehentlich wegen ihrer betrügerischeren Dramaturgie komplett gekauft habe, ist geringer als die der Lieder in meiner Sentimental-Abspielliste.
Hin und wieder äußern sich auch Musiker zum Thema Song-vs.-Album im volldigitalen Zeitalter. Man sollte nicht auf sie hören. Musiker wissen gemeinhin weniger über Musik als Musikhörer, denn die müssen schließlich damit leben. Billy Corgan, heute einziges Mitglied der Smashing Pumpkins, behauptet gerne, dass das Album tot sei, und man lieber hier und da mal einen Song veröffentlichen solle, sinngemäß. Ich habe das eine Weile mitgemacht, denn ich mag prinzipiell die aufgelösten Pumpkins lieber als die Band von damals, aber die letzten dieser Hier-Und-Da-Songs waren leider recht schwach, deshalb gerät mir das ganze Smashing-Pumpkins-Ding zusehends in Vergessenheit. Woran ich mich hingegen gut erinnere ist das letzte Album. Kein Meisterwerk, aber auch kein Beinbruch, auf jeden Fall des Erinnerns werter als die gefolgten virtuellen ‚EPs‘ und ‚Singles‘. Twix hieß früher Raider, Billy Corgan hieß früher Andrew Eldritch, und bei dem hat man irgendwann auch das Mitverfolgen aufgegeben. Ein Album hier und da hätte den Lauf dieser Geschichte vielleicht verändert.
Ein Mitglied der Gruppe Kraftwerk äußerte sich neulich genau gegenteilig, aber genauso fragwürdig. Der Herr (er hat einen Namen, aber ich kann mir die Kraftwerk-Namen nie merken) war hoch erfreut darüber, dass man die zeitlichen Fesseln der CD abgestreift hatte und nun Alben machen könne, die mehrere Monate Spielzeit haben. Sinngemäß. Oder waren es nur Tage? Jedenfalls zu lang, wenn man mich fragt.
Und dennoch erscheint mir diese Herangehensweise nicht ganz uninteressant. Ich weiß noch nicht, ob ich meinen Jahresurlaub dafür opfern werde, ein neues Kraftwerk-Album anzuhören, aber ich finde es gut, wenn Künstler neue Wege gehen. Ich muss ja nicht jeden Weg ganz mitgehen. Vielleicht lade ich mir dann nur ein Lied runter.