Schon seit geraumer Zeit merke ich mir die Namen von Schauspielern nicht mehr. Quatsch, ich meinte gar nicht Namen, ich meinte Gesichter. Namen gehen. Ich habe darüber schon einmal in diesem Blog geschrieben, und zwar im Jahre 2012. Leider habe ich das erst bemerkt, als es schon zu spät war, der Stift zu viele Kladdeseiten vollgeschrieben hatte, um sie einfach herauszureißen und Pappmacheschneemänner daraus zu rollen. Ich werde den älteren Beitrag an dieser Stelle nicht verlinken, damit ich mich unentlarvter wiederholen kann.
Damals war mein Fallbeispiel Megan Fox, eine Schauspielerin, von der ich immer wieder hörte, zu der sich mir aber kein Bild einprägen mochte. Um sie ist es inzwischen stiller geworden, doch das ist kein Grund für selbstgerechte „Siehst du?!“-Häme. „Es war nicht sie, es war ich“, wie man in schlecht übersetzten amerikanischen Filmen sagen würde. Die Nichtmehrteilnahme am Schauspielermerken scheint mir ein typisches Altersphänomen. Ich schaue nach wie vor gerne Filme, mir ist nur zusehends egaler, wer die macht und wer darin mitspielt, solange alle ihre Arbeit gut machen. Die bekommen ja schon Geld dafür, die brauchen nicht auch noch mein Personengedächtnis. Das Geld gönne ich ihnen, selbst wenn es unverhältnismäßige Ausmaße annimmt. Besser die als Waffen- oder Drogenhändler, sage ich mir. Altenpfleger oder Entwicklungshelfer wären noch besser, aber die Welt ist halt nicht perfekt. Das Abwenden vom Personenkult in Kunst und Unterhaltung ist eine persönliche Konzentration aufs Wesentliche. Man sollte vermeiden, daraus allgemeingültige Schlüsse zu ziehen, etwa zu maulen: „Die Zeit der großen Stars ist vorbei!“ Die ist nicht vorbei, und die wird so schnell nicht vorbeigehen. Wenn einer ‚Filmstar‘ sagt, habe ich immer zuerst Harrison Ford vor Augen. Nicht, weil ich ein besonders ergebener Verehrer wäre. Sehe ich heute seine alten Filme, denke ich: Na ja, einen gewissen Charme hatte er schon, aber nicht gerade säckeweise Talent. Er war allerdings der erste (nicht der letzte) Filmsuperduperweltstar, der zu meinen Lebzeiten zu einem solchen geworden ist. Quasi live vor meinen Augen. Das vergisst man nicht so leicht. Nun gibt es nicht wenige Menschen meines Alters, die, wenn sie an Harrison Ford denken, klagen: „So einer kommt nie wieder! Die Zeit der großen Stars ist vorbei!“ Sie vergessen all die Griesgrame, die in den Achtzigern an Leute wie James Stewart dachten und klagten: „Die Zeit der großen Stars ist vorbei!“ Wahrscheinlich klagten zu James Stewarts Zeiten die Freunde Clark Gables: „Die Zeit der großen Stars ist vorbei!“ Und zu dessen Zeiten klagten die Fans von Errol Flynn: „Die Zeit der großen Stars ist vorbei!“ Und nach der Ära Rudolph Valentinos klagten seine Verehrer: „Die Zeit der großen Stars ist vorbei!“ Und davor mochte sich keiner vorstellen, dass das vulgäre Lichtspiel jemals ähnlich funkelnde Sterne hervorbringen würde wie die romantisch knarzenden Theaterbühnen der Welt. Denke ich zwei Sekunden länger nach, fällt mir neben Ford noch John Travolta als zweiter Weltstar derselben Ära ein, dessen Werdegang ich nahezu von Anfang an verfolgen durfte. Sein Ruhm ist allerdings mit dem von Harrison Ford nicht ganz vergleichbar. Fords Image scheint völlig immun gegen Flops. Seit Jahrzehnten hat er außerhalb seiner Nostalgie-Franchises keine Rolle von Belang mehr gespielt, trotzdem bleibt die Verehrung breiter Bevölkerungsschichten ungebrochen. Travolta hingegen hat eine rechte Jo-Jo-Reputation zwischen Kult- und Witzfigur. Hat vielleicht auch etwas mit Glaubensfragen zu tun. Zu hoffen wär’s.Archiv der Kategorie: Allgemein
Was denn das denn?
Manche Leute sagen „Was denn?“ statt „Wie bitte?“, eine schreckliche Angewohnheit. Ich darf das so sagen, weil ich selbst einer von denen bin. Ich weiß ganz genau, wie das kam. Als Teenager war ich mal für ungefähr fünf Minuten, die mir zunächst wie eine Ewigkeit vorkamen, einseitig verknallt in eine Teenagerin, die gewohnheitsmäßig „Was denn?“ sagte. Da habe ich es mir auch angewöhnt. Die Liebe ist verpufft, die Marotte ist geblieben. Woher das Mädchen sie hatte, weiß ich nicht. Einmal traf ich es wieder, da war es schon eine sie geworden, also aus dem Mädchen eine Frau. Sie forderte von mir Klärung einer längst verjährten Unklarheit, an die ich mich nicht im Geringsten erinnern konnte. Ich sagte nur: „Was denn?“, und ging schnell weiter.
(Klingt diese Pointe etwa so ausgedacht, wie sie ist? In Wirklichkeit ging ich so schnell nirgendwo hin, wand mich nur ganz schrecklich und winselte: „Ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst!“ Glaubte sie mir natürlich nicht, stimmte aber. Ich bleibe bei meiner Aussage.)J-Stulle oder Galapagos-Burger?
In unserer Nachbarschaft hat ein neuer Sandwich-Laden aufgemacht, Wawich. Das lässt sich frei mit J-Stulle übersetzen. Als ich zum ersten Mal auf Höhe des Ladens unverbindlich interessiert das Tempo drosselte, wurde ich sogleich von einem herbeieilenden Wawich-Mitarbeiter überinformiert. Beim Wawich handele es sich um „einen Sandwich japanischer Art, man muss ihn mit Messer und Gabel essen.“ In dieser Aussage steckt natürlich schon ein herrlicher Widerspruch, den ich an dieser Stelle nicht breittreten möchte (gleichwohl möchte ich darauf hinweisen, dass er mir nicht entgangen ist). Es sei etwas drauf und drin im Brotteig, wurde weiter erläutert. Dann folgte eine Erklärung der gesamten Speisekarte. Abgeschreckt von so viel Konversation auf leeren Magen vertröstete ich auf ein anderes Mal.
Die Ballade von Botox-Baldi
Wie jeder erwachsene Mensch aus Fleisch und Blut habe ich mir die eine oder andere sentimentale Brücke in meine Kindheit und Jugend bewahrt, allerdings nicht unbedingt in meine allerfrüheste Kindheit. Bussi Bär im limitierten Sammelschuber oder Rappelkiste in der Blu-ray-Steelbox wird man in meinem Haushalt nicht finden. Daher wundert es mich selbst, dass ich bis heute an Baldi-Hund festhalte, meinem ersten Stofftier. Irgendwie ist er immer mitgekommen. Nicht mit ins Büro oder in die Kneipe, aber er hat jeden Umzug mitgemacht. Schon lange schläft er nicht mehr bei mir im Bett, keine Sorge. Das würde er auch gar nicht mehr aushalten. Denn Baldi ist alt geworden:
Baldi heißt so, weil ich als Kind das W nicht gescheit aussprechen konnte. Das Problem habe ich zwar inzwischen in den Griff bekommen, möchte das Tier aber dennoch nicht umbenennen. Einen Waldi-Hund kann schließlich jeder haben.
Zuletzt stand Baldi eingequetscht zwischen zwei Aktenordnern (okay, ungeordneten Aktenbehältern) auf meiner Schreibkommode, weil er ohne Hilfe nicht mehr stehen konnte. Er erinnerte mich dabei ein bisschen an diese japanischen Bäume, die schon längst tot umgefallen wären, würden japanische Baumliebhaber ihnen nicht ständig neue Krücken unters Geäst stellen.Ich sagte einmal meiner Frau, dass ich diese Krückengeschichte für Schummelei halte, man solle doch die Bäume einfach in Würde sterben lassen. Daraufhin sagte sie, es sei doch nett, dass man sich so rührend um die alten Bäume kümmerte. Diese Einstellung übernahm ich fürs erste. Nach einer Weile allerdings hatte ich wieder bei jedem Vorbeiflanieren an Krückenbäumen dieses Flüstern im Kopf: „Erlöse mich! Nimm einfach die Krücken weg und lass mich gehen!“ (Gehen ohne Krücken ist natürlich ein schiefes Bild in diesem Zusammenhang, aber ist ja nur Internet.)
Gut dass ich meine Frau erwähnt habe, denn die brauchen wir jetzt. Beim obligatorischen Durchblättern alter Familienfotos stieß sie einmal einen spitzen Schrei aus und rief: „Baldi war mal… weiß!“ Ich sagte: „Frau, du redest Unsinn!“ Gleich darauf entschuldigte ich mich, weil sie keinen Unsinn redete. Leider kann ich das Foto gerade nicht wiederfinden, vermutlich ist es in einem ungeordneten Aktenbehälter, doch es existiert. Ich hatte das freundliche Grau stets als seine Originalfärbung wahrgenommen, schließlich war die Ergrauung ein schleichender Prozess gewesen. Nun hatte meine Frau sich in den Kopf gesetzt, den Original-Baldi rekonstruieren zu lassen. Es gäbe da eine wunderliche Alte, sagte sie, die lebe zurückgezogen in den Bergen, und sie kreiere Kunst aus ausgestopften Tieren. Außerdem mache sie veraltete Stofftiere in einem dreimonatigen Prozess wieder wie neu, für nur 30.000 Yen. Ich stieß einen spitzen Schrei aus und rief mit der Stimme meiner Mutter: „30.000 Yen? Das sind ja fast 500 Mark! Wie viele fabrikneue Baldis könnten wir dafür kaufen?!“ Meine Frau sprach die Antwort aus, die ich längst kannte: „Aber die wären nicht Baldi.“ Also schickten wir ihn in die Bergklinik. Vorher dokumentierte ich noch die Altersspuren:Die Künstlerin bot uns an, nach Eintreffen des Tieres eine Einschätzung abzugeben, ob es in unserem Fall schneller und günstiger gehen könnte. Die Antwort kam schnell: Nein, das ginge ganz sicher nicht.
Wir durften ihn in den drei Monaten nicht besuchen. Oft malte ich mir aus, wie er nun dalag, allein auf einem Seziertisch in einer dunklen Berghütte, aufgeschnitten und ausgespreizt, die Felllappen mit Haken und Ketten in Position gehalten, wie eine sadomasochistische Fantasie aus einem Hellraiser-Film für Stofftiere. Als Baldi zurückkam, erfuhren wir zuerst, was die Künstlerin am liebsten bei der Arbeit trank, offenbar in größeren Mengen.Dann sahen wir ihn, und er sah uns.
Er sah uns sogar aus neuen Augen. Die alten hatte die Künstlerin separat mitgeliefert (unten auf der Abbildung unten).
Er ist heller und fülliger geworden. Das Fell ist nicht einfach nur mit Perwoll gewaschen. Es ist neu.
Im Schnauzenbereich ist er noch ein bisschen kahl, wie früher. Ich bin überzeugt, dass die Künstlerin dort bewusst ausgespart hat, um Baldis tatsächliches Alter zu würdigen. Sie hat es geschafft, seine Seele zu bewahren, obwohl sie wohl so ziemlich alles außer dem Halsband ersetzt hat. Jetzt kann ich ihn endlich wieder bedenkenlos mit ins Bett nehmen.
Das war also die Ballade von Botox-Baldi. Streng betrachtet handelt es sich nicht um eine Ballade, doch als Mensch aus Fleisch und Blut kann ich einfach keiner naheliegenden Alliteration aus dem Weg gehen. Könnte ich malen, hätte ich eher ein Bild gemalt. So wie meine Tochter es unaufgefordert getan hat: Baldi im Kreis der Familie, inklusive seiner alten Augen.
Der Nostalgist und ich
Kürzlich saß ich mit einem Bekannten aus der Unterhaltungsindustrie zusammen, wir sprachen von Musik. Dass dieser Bekannte ein Unterhaltungsindustrieprofessioneller ist, ist für die Geschichte völlig irrelevant; ich wollte nur damit angeben, dass ich Bekannte in der ‚Unterhaltungsindustrie‘ habe. Wir sprachen nicht nur davon, welche Musik wir gerne hörten, sondern auch darüber, wie wir sie gerne hörten. Da wir noch nicht lange miteinander bekannt waren, klassifizierte ich das Gespräch als Smalltalk. Bei Smalltalk muss man nicht die Wahrheit sagen. Man sollte seinen Gesprächspartner vor allem nicht mit allzu komplizierten und kontroversen Wahrheiten konfrontieren. Deshalb sagte ich das, was man in solchen Angelegenheiten halt so sagt, nämlich dass mir die Vinylschallplatte die liebste sei. Dabei machte mich die unreflektierte Vinylkonsensnostalgie in Wirklichkeit augenrollen. In meinem Buch Happy Tokio plädiere ich sogar für eine unreflektierte CD-Nostalgie (Seite 58f.), einfach so, aus reiner Freude an der Provokation, weil man es ja wohl noch mal sagen dürfen wird.
Wahrheitsgemäß erzählte ich meinem Bekannten, dass ich alle meine Vinylschallplatten samt Abspielgerät weggeben hatte, als ich in den Osten rübermachte. Außerdem erzählte ich, dass ich nun, da in meinen Leben wieder der liebe Trott eingekehrt war, mit dem Gedanken spielte, wieder eine Schallplattensammlung zu beginnen. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Dieser Gedanke war mir tatsächlich ab und an gekommen, allerdings nicht in allerjüngster Vergangenheit, sondern eher in mitteljunger Vergangenheit, als der Kopf und das Leben doch noch etwas durcheinander waren und man jeden Tag mindestens eine brillante Idee hatte, was man alles unbedingt in seine Lebenshaltung integrieren müsste, um der Mann von Welt zu werden, den die Welt verdient hat. Rasierpinsel, maßgeschneiderte Schuhe, Schallplattenspieler; solche Sachen denkt man dann. Zwischenzeitlich jedoch war mit dem Trott auch die Vernunft eingekehrt. Sie sagte: „Mit dem stilvollen Rasieren warten wir lieber, bis wir uns ein stilvolles Rasierzimmer einrichten können. Mit dem Rasierzimmer und den Schuhen warten wir lieber, bis wir noch ein paar Bücher verkauft haben. Was die Musik betrifft: Du hörst eh kaum noch welche. Du brauchst keine zusätzliche Darreichungsform für die Musik, die du nicht hörst.“ Das war das, und ich träumte nie wieder Schallplattenträume. Bis zu jenem Tag, als ich das Gespräch mit meinem Bekannten aus der Unterhaltungsindustrie hatte. Als ich ihm die Lüge von meinen Vinylplänen auftischte, war sie schon fast Wahrheit geworden. Ich ertappte mich danach ein ums andere Mal dabei, Schallplattenspielermodelle zu vergleichen, sie in virtuelle Einkaufskörbe zu legen, sie panisch wieder zu löschen. Als der CD-Player, mit dem wir die Hintergrundmusik für Familienessen einspielen, nach zu vielen Kleinkindkontakten endgültig den Dienst verweigerte, ließ ich alle Vernunft fahren und erklärte: „Na gut, dann diesmal was mit Plattenspieler.“ Ich stellte nur zwei Bedingungen: Das Gerät sollte billig sein und lächerlich aussehen. Also entschied ich mich für das Modell The Nostalgist der Firma Qriom. Die Anschaffungskosten hatte man mit einer einzigen Kolumne für ein mäßig zahlendes Online-Magazin fast komplett wieder drin. Das Retro-Design erinnerte an so gut wie gar nichts, was es früher wirklich mal gegeben hätte. Die Modellbezeichnung bescherte mir sogleich eine vage Idee für eine neue fiktive Figur. Ich weiß nur noch nicht, ob der Nostalgist ein Superheld oder ein Serienmörder wird. Sollte ich es als Konzept fürs moderne Krawallfernsehen amerikanischer Machart ausarbeiten, spricht natürlich nichts dagegen, beides zu kombinieren.Der Nostalgist überraschte mich. Die Teile, die auf Fotos nach Holz und Metall aussehen, sind tatsächlich aus Holz und Metall. Der Klang ist warm, außerdem differenzierter als der des deutlich teureren Nur-CD-Players von einer namhaften Marke, den wir bis vor kurzem beschäftigt hatten. Selbstverständlich kann man keinerlei Höhen oder Bässe einstellen, oder wie dieser ganze Spezialisten-Schnickschnack heißt. Natürlich stört mich ein bisschen, dass modischer Unfug wie ein Speicherkartenleser an Bord ist. Außerdem stört mich, dass kein Bluetooth dabei ist. Wir Menschen verwickeln uns halt mitunter in Widersprüche. Nicht stört mich, dass der CD-Player nach jedem Lied knackt und das Radio nur manchmal funktioniert. Ich möchte ja nun in erster Linie Schallplatten hören.
Auf der Suche nach meiner ersten neuen Schallplatte lernte ich: Der HMV Record Shop in Shibuya hat zwar die freundlicheren Mitarbeiter, aber die Recofan-Filiale eine Ecke weiter ist besser bestückt und atmosphärisch befriedigender. Außerdem hat sie viel authentischere Plattenladenmitarbeiter. Als ich nach meinem Einkauf auf der Suche nach dem Ausgang einmal durch das ganze große Geschäft im Kreis gelaufen war und wieder an der Kasse ankam, fragte ich eine Mitarbeiterin nach dem Weg. Sie schaute vom Plattensortieren keineswegs auf, sondern zeigte nur wortlos mit der Hand in die ungefähre Richtung, was mir nur ungefähr weiterhalf. Da wurde mir ganz warm ums Herz: Die guten Menschen hier wollen gar nicht, dass ich sie jemals verlasse. Wenn ich mal Musik höre, dann in erster Linie welche von alten weißen Männern, die sich zur Gitarre einen Kopf machen. Bei Schallplatten kommt es aber auf Klang an, meine ich gehört zu haben, deshalb wollte ich auf meiner ersten neuen Schallplatte Musik haben, die sich auch nach Musik anhört. Etwas, wozu ich meinen kleinen Popo schütteln kann, wenn keiner guckt. Oder einen täuschend echten Roboter tanzen. Oder den Mann hinter der imaginären Glasscheibe.Also entschied ich mich für den Soundtrack des Films Wild Style. Als in den 1980ern der Hip-Hop in kleinen Dosen nach Deutschland kam (echter Hip-Hop, nicht Deutschrap), war ich zugeneigt. Allerdings wusste ich zunächst nicht, ob meine Zuneigung ironisch oder aufrichtig war. Sie ist eine verwirrende Zeit, die Pubertät. Als ich mich Anfang der Neunziger von ganzem Herzen bekennen konnte, ahnte ich nicht, dass Hip-Hop als innovative, elektrisierende, ausdrucks- wie inhaltsstarke Kunstform nicht mehr lange zu leben hatte, bevor sie von maulfaulen, ideenlosen Kifferluschen mit komischen Namen vereinnahmt wurde. Wie sollte ich Reime und Rhythmen von jemandem für voll nehmen, der sich, zum Beispiel, Puppylove Waldi Doggystyle rief? Ich war es gewohnt, zu Füßen von Großmeistern zu sitzen, nicht bei den Pfoten von Haustieren.
Das wird man ja wohl noch sagen dürfen. Ich habe jetzt jedenfalls wieder eine Schallplatte. Sie gefällt mir gut, und manchmal höre ich sie auch. Vielleicht kaufe ich mir noch eine.Oh, wie heiß ist Tokio
Es ist so heiß, dass das kälteste aus dem Wasserhahn zu bekommende Wasser lauwarm ist.
Es ist so heiß, dass man das Kind am Ende des Kindergartentages kauernd auf dem Kindergartenfußboden vorfindet, mit leiser Stimme wimmernd: „Mir ist so kaaalt!“ Denn selbstverständlich dürfen die Kleinen bei der Hitze nicht nach draußen, sondern gehören acht Stunden mit der Klimaanlage eingesperrt. Es ist so heiß, dass ich zum ersten Mal, seit ich denken kann, willentlich ohne Armbanduhr am Arm aus dem Haus gehe. Dabei trage ich doch so gerne Armbanduhren. Aber bei diesem Wetter könnte ich mir gefühlt genau so gut eine Wolldecke ums Handgelenk wickeln. Es ist so heiß, dass mich in der noch jungen Woche bereits zweimal an unbeschatteten Bushaltestellen fast eine Ohnmacht überkam. Nach dem Geständnis mahnt die Ehefrau: „Du darfst nicht vergessen zu trinken. Weshalb steht denn wohl in diesem Land alle zwei Meter ein Getränkeautomat?“ Sage ich: „Ich habe mein Lebtag noch nie vergessen zu trinken und nie verstanden, warum so viele Erdenmenschen diesen simpelsten aller Ur-Instinkte wie eine Geheimwissenschaft behandeln. Nur ist es inzwischen so heiß, dass die körperliche Anstrengung beim Führen des Getränkes zum Munde meinen Kreislauf aus der Bahn wirft.“Es ist so heiß, dass ich mir nicht etwa zum ersten Mal in meinem Leben eine kurze Hose gekauft hätte. Ich habe mir DREI kurze Hosen gekauft. Weil ich nicht vorhabe, jemals wieder etwas anderes zu tragen.
Es ist so heiß, dass mir bestimmt noch viele Verse einfielen, die Hitze und ihre Pracht zu preisen, wenn es nur nicht so heiß wäre.10 Dinge, die ich über Kanni-chan weiß
Hurra, meine dreijährige Tochter Hana hat ihre erste imaginäre Freundin, Kanni-chan. Das ist nichts Schlimmes, ich habe mich kompetent informiert (Google). Imaginäre Freunde sind wohl gut für die Entwicklung, und Hana hat ja genügend echte Freunde, die sie nach alter Menschensitte schon noch früh genug enttäuschen werden.
Trotzdem möchte man als Vater natürlich genau wissen, mit welchen unsichtbaren Leuten die minderjährige Tochter so rumhängt. Also habe ich sie befragt und Folgendes protokolliert, alles in Hanas Originalton:- Kanni-chan kann allein auf die Toilette gehen.
- Kanni-chan geht auf die andere Schule.
- Kanni-chan wohnt im Tokyo Tower in Italia.
- Kanni-chan ist groß und lang.
- Kanni-chan hat Fische, Krebse und einen shark.
- Kanni-chan spricht Japanisch, Englisch, Deutsch, betonamugo [Vietnamesisch] und Französisch.
- Kanni-chan ist ein bisschen böse und ein bisschen cool.
- Kanni-chan trinkt gerne Kaffee.
- Kanni-chan hat ein bisschen Bauchschmerzen, weil da ein Baby drin ist.
- Kanni-chan ist sechs Jahre alt.
Ich öffne im Traum David Bowies Nassrasiererverpackung und esse in echt Salat mit jemand anderem
Ich habe letzte Nacht nichts versäumt, denn ich habe nur von David Bowie geträumt. Wir fuhren auf einem Kreuzfahrtschiff und kamen ins Gespräch, als wir im Rasiererladen an Bord dasselbe Modell von Nassrasierer kauften. Wir hatten beiden Schwierigkeiten, die unglücklich gestaltete Designerverpackung zu öffnen. Ich bekam den Trick schließlich heraus, wir rasierten uns gemeinsam im öffentlichen Puderzimmer des Schiffes.
Wohin die Reise ging? Wer weiß das schon, im Leben wie im Traum. Den Bowieisten der Welt hingegen brennt eine ganz andere Frage unter den Nägeln: „Welcher Bowie war es denn?! Er war ja ein Mann der tausend Masken, ein Chamäleon gar!“ Sage ich: „Quatsch mit Soße, Chamäleon! Er war eher das Anti-Chamäleon! Das Schuppenkriechtier aus der Familie der Leguanartigen ist bekannt dafür, dass es die Farbe seiner Umwelt annimmt. Bei David Bowie hingegen war es umgekehrt: Die Welt nahm stets die Farbe an, die er trug.“ Aber um die Frage zu beantworten: Es war circa der Bowie von hours, seinem besten Album.Wider ein Leben mit dem Senfglas
Letztes Jahr um diese Zeit wollten wir mal was ganz Verrücktes und total Japanisches machen, also haben wir eine Beaujolais-Party gefeiert. Es sollte natürlich eine ironische Beaujolais-Party werden, denn wir wussten ja, dass Beaujolais nouveau total eklig ist. Wir wussten es freilich nicht aus eigener Erfahrung, sondern hatten unkritisch die Vorurteile übernommen, die in besseren Kreisen bei diesem Reizthema zum guten Ton gehören. Alle Welt macht sich lustig darüber, dass Japan den jungen Wein jedes Jahr in großen Mengen aufkauft, und die Franzosen, so hört man, sind froh, dass sie das Gesöff los sind. Doch was soll ich sagen? Uns hat es so gut geschmeckt, dass wir dieses Jahr schon wieder eine Beaujolais-Party gefeiert haben. Diesmal in echt, ohne Ironie. Die Kritik, Beaujolais nouveau schmecke wie Obstsaft mit Alkohol, ist zwar sachlich nachzuvollziehen. Ich verstehe nur nicht, wo darin die Kritik liegt. Obstsaft ist lecker, und Alkohol kann, gewissenhaft genossen, auch mal ganz lustig sein.
Mein Bunny-Feuerzeug brennt nicht mehr
Ich bin wie alle: Ich verwechsle manchmal Hugh Hefner und Stan Lee. Nicht ihre Namen und nicht ihr Wirken, sondern ihre Gesichter. Dabei sehen sie sich eigentlich gar nicht sonderlich ähnlich, abgesehen davon, dass es sich bei beiden um kleine, alte weiße Männer handelt. Als vor ein paar Tagen der Tod Hefners vermeldet wurde, sah ich das begleitende Bildmaterial, bevor ich jedes Wort der Überschrift gelesen hatte, und dachte: „Oh je, Stan Lee ist tot. Muss ich jetzt was darüber schreiben? Ich wollte doch eine kurze Schreibpause einlegen, nachdem ich mein neues Buch, das übrigens im Frühjahr 2018 erscheint und 14 Euro 99 kostet, gerade fertiggeschrieben habe, und bevor ich mit der Artikelserie für die Reiseillustrierte beginne, die ab Januar im gut sortierten Presse- und Buchhandel der DACH-Staaten erhältlich sein wird. Andererseits gehört das Ableben von autobiografisch relevanten Personen des öffentlichen Lebens dieser Tage zu den wenigen Ereignissen, die mich noch zur Pflege meines sträflich unterpflegten Weblogs antreiben, und ich habe dort bereits die die Craven-Romero-Hooper-Trilogie verstorbener amerikanischer Horrorregisseure ausgelassen.“
Dann merkte ich: „Ach, es ist ja nur Hugh Hefner. Über den muss ich nichts schreiben.“ Und dann merkte ich: „Eigentlich doch. Der Mann selbst ist mir emotional so fern, wie es Stan Lee ist. Gleichwohl ist sein Lebenswerk mit meiner Biografie fast so stark verwoben das Lebenswerk Lees.“Dabei ist die Geschichte eigentlich keine besondere. Erst versteckten meine Eltern Playboy-Hefte vor mir, später versteckte ich Playboy-Hefte vor meinen Eltern – die Boulevardkomödie, die wir Leben nennen; aufgeführt in jedem Haushalt der freien Welt vor Bekanntwerden des Internet.
Noch viel später, es muss in den Nullerjahren gewesen sein, war ich kurzzeitig sogar Playboy-Abonnent. Teils ging es mir um die Unterstützung des gefährdeten Zeitschriftenwesens an sich, teils um das Bunny-Feuerzeug, das Aboprämie war. In erster Linie aber ging es um Männlichkeit. Das Berufsleben in Festanstellung war mir just zur Routine geworden, also dachte ich mir: Jetzt bin ich wohl ein Mann. Ich war mir nur nicht sicher, was Männer so tun. Aber Playboy abonnieren gehörte bestimmt dazu. Eines muss ich festhalten, ehe die Menschen sonst was von mir denken: Ich habe Playboy nie wegen der überschätzten Interviews oder der reißerischen Artikel gekauft, sondern einzig und allein wegen der Abbildungen unbekleideter Damen. Ich musste mit fortschreitendem Alter allerdings feststellen, dass ich ideologisch doch das eine oder andere Problem mit dem Playboy hatte. Vor allem die ganz unverblümte Kraftfahrzeugverherrlichung konnte ich nicht gutheißen. Ich bestellte mein Abo wieder ab, woraufhin der Aboservice noch jahrelang in unregelmäßigen Abständen bei mir anrief, um mich zurückzugewinnen. Das ist für den gemeinen Ex-Abonnenten lästig genug. Für den Ex-Abonnenten, der selbst mal in Zeitschriften gemacht hat und nach wie vor hier und da vor sich hin schreibt, ist so ein Anruf geradezu tragisch. Im ersten Moment denkt man: „Der Playboy ruft mich an! Endlich haben sie mich bemerkt!“ Und dann wollen sie gar keine monatliche Kolumne oder mehrseitige Reportage anbieten, sondern lediglich ein weiteres billiges Feuerzeug, das nicht lange brennt, und mit dem man nicht mal gescheit Bierflaschen öffnen kann (was soll das überhaupt für ein Männerfeuerzeug sein?). Kürzlich habe ich noch einmal in den deutschen Playboy hineingeschaut. Teils aus beruflichem Interesse, teils weil ich wissen wollte, welche C-Prominenten es inzwischen so in Deutschland gibt, und wie die nackt aussehen. Die Unbekleideten waren zum Glück immer noch da, die Autos leider auch. Das kritisiere ich. Hugh Hefner indes kritisiere ich nicht. Das tun schon genügend andere; dieser Tage vor allem ehemalige Bewohnerinnen der Playboy Mansion. Ein manipulativer alter Sack sei er gewesen, der ganz, ganz gemein sein konnte. Das bezweifle ich nicht, und doch will mich keine Empathie überkommen. Der Aufenthalt in der Playboy Mansion ist keine Strafe, zu der man ohne Widerrufsrecht verdonnert wird. Man liegt, wie und wo man sich bettet, und man weiß stets: Da ist die Tür. Fragt ein alter reicher Mann eine dralle junge Dame, ob sie mit ihm und anderen drallen jungen Damen in seinem Häuschen leben und in seinem Bettchen schlafen möchte, dann wird die sich doch nicht im Unklaren darüber sein, was da abgeht. Vielleicht bin ich zu naiv, dass ich an so viel Naivität nicht glaube. In diesem Sinne wünsche ich Hugh Hefner für seinen weiteren Weg vielleicht nicht unbedingt alles Gute, aber auch nichts ewig Schlimmes. Vor allem wünsche ich mir, dass dieser Text bald vorbei ist und ich zumindest noch ein bisschen Pause machen darf.