Jubiläum: Der 100. Eintrag! (Wiederholung)

Wider besseren Instinkt las ich die Woche ein Interview mit dem hauptberuflichen Schallplattenindustrieerklärer Tim Brenner, in dem Ohrenschlackernmachendes zu erfahren war. Zum Beispiel, dass die Schallplattenindustrie die digitale Revolution verschlafen habe, und dass das Album als Format überholt wäre, denn es sei überhaupt nur aus technischen Notwendigkeiten heraus entstanden (mehr als eine Dreiviertelstunde ging halt nicht drauf) und keineswegs aus künstlerischer Erwägung. Also weg damit.

Wäre ich eine gezeichnete Ente, würde ich sagen: Seufz. Ich müsste vielleicht weniger oder könnte leiser seufzen, würde diese Unwahrheit nicht seit Jahr und Tag landaus, landein von jedem Plappermaul als Wahrheit verkauft werden. Ich habe zwar das Album als solches hier schon einmal als die relevanteste und schönste aller musikalischen Darreichungsformen gepriesen, aber ich tue es gerne noch einmal, weil erstens das Netz das vergesslichste aller Medien ist, zweitens andere ja auch ständig dasselbe sagen (j’accuse, Tim Brenneur!), und drittens mir unlängst erst wieder bewusst geworden ist, wie recht ich habe.

Es sollte bekannt sein, dass die Gründe, aus denen etwas entsteht, und die Gründe, aus denen es fortbesteht, nicht dieselben sein müssen. Das Album mag seine klassische Länge schnöden Kapazitätsproblemen verdanken. Dass es sich aber über Jahrzehnte bewährt hat, liegt daran, dass diese Länge durch einen glücklichen Zufall genau die richtige war und ist. Mit einem Album hat man was in der Hand, und das nicht nur im buchstäblichen Sinne, sondern vor allem im übertragenen. Mit einem Download-Album hat man musikalisch ebenso viel in der Hand wie mit einer Polyvinylchloridplatte. Klein-klein aus dem Analog/Digital-Grabenkrieg soll an dieser Stelle keine Rolle spielen, Musik ist Musik. Rund 10 Songs, mit denen man sich beschäftigen kann und muss. Das tut man auch, und zwar intensiv und gerne, denn 10+X neue Songs eines geschätzten Künstlers auf einmal zu bekommen ist ein Ereignis, für das man mal kurz mit Twittern aufhört. Anders verhält es sich mit einzeln veröffentlichten Songs. Da hört man mal rein und macht nach der Hälfte aus, wenn es nicht auf Anhieb als Meisterwerk erkennbar ist (was machen noch mal die Smashing Pumpkins heute?). Ähnlich bei Darreichungsformen des anderen Extrems. Wer hört sich schon CD-Boxen so intensiv an, wie sie es möglicherweise verdient hätten? Ich habe einen recht genauen Eindruck des ersten Drittels des letzten Dreier-Albums von Joanna Newsom, aber danach verschwimmt alles, und man weiß nicht, ob es Newsoms oder Neuenkirchens Schuld ist. Ich habe außerdem den vagen Verdacht, dass besagtes ein stärkeres Werk hätte werden können, hätte man mit Mut zum Mülleimer aus den hammermäßigsten Krachern der drei Mini-Alben ein einziges Album von moderater Länge gemacht. Aber das ist nur geraten, für eine fundierte Meinung müsste ich erst mal dazu kommen, mir die zweite und dritte Scheibe genauso aufmerksam anzuhören wie die erste.

Wenn nun einer behauptet, wie das die Woche einer in einem Interview getan hat, das Album sei „keine Kunstform“, dann hat der unrecht. Selbstverständlich ist ein anständiges Album hohe Kunst in Inhalt und Form, denn es handelt sich nicht nur um eine Zweckgemeinschaft einzelner Songs, sondern um ein Gesamtwerk, dessen Summe blabla Einzelteile blabla, Sie wissen schon. Das gilt, Gott bewahre, keineswegs nur für ausgesprochene Konzeptalben. Wobei es auch mal an der Zeit wäre, die ständig unreflektiert nachgeplapperte Pauschalkritik an diesem Genre zu überprüfen, und es nicht immer nur an seinen schlimmsten Beispielen zu messen. Im Grunde ist jedes auf dem üblichen Wege entstandene Studioalbum ein Konzeptalbum, denn Auswahl und Reihenfolge der Songs folgt einem dramaturgischen Konzept. Die Songs stehen nicht nur für sich selbst, sondern auch in Beziehung zueinander, und sie repräsentieren die verantwortlichen Künstler in einer bestimmten Phase ihres Lebens und Schaffens. Deshalb sind Hit-Sammlungen und andere Kompilationen meist so unbefriedigend, es fehlt zum einen das dramaturgische Auf und Ab, vor allem aber das einende je ne sais quoi.

Das bisher beste Album des laufenden Jahres ist bekanntlich Ninth vom vielversprechenden Nachwuchstalent Peter Murphy. Es ist ein Paradebeispiel für ein gelungenes Album, weil es nicht nur voller guter Songs ist, sondern weil man das erst dadurch merkt, dass es ein Album ist. Da gibt es Lieder, die sofort gefallen, etwa die mopsfidelen Velocity Bird oder Memory Go. Dann die, die man im zweiten Durchgang mitnimmt, zum Beispiel die poetisch-spinnerten I Spit Roses oder Seesaw Sway. Diese Songs hätte man womöglich auch bemerkt und für gut befunden, wenn sie für sich irgendwo rumgeflogen wären. Aber dann gibt es auch so etwas wie das brummige Secret Silk Society, das das erste, zweite, dritte … Mal nach typischem Füllmaterial klingt, bis man seinem dunklen Sog erliegt. Als vorletztes Stück kommt es an genau der richtigen Stelle im Gesamtzusammenhang, man wird dem Sog wieder sanft entrissen vom Rausschmeißer Crème de la Crème, den ich zunächst für zu beschaulich gehalten hatte. Als Kontrast zum Vorgänger und als Abschluss des Albums ist er aber ganz wunderbar. Solche Lieder brauchen Zeit zum Gedeihen, und das geht nur, wenn sie in ein Album gepflanzt sind. Als itunes-Hörproben haben sie keine Chancen.

Selbst wenn man langweilig, also aus Sicht der Wirtschaft und des Marketings, an die Sache herangeht, ist das Album als solches unverzichtbar. Auch wenn es sich nicht mehr so gut verkauft wie zu Zeiten, als das Kino noch zwei Groschen gekostet hat, Fußball Männersache war und der Pfannkuchen wie Pfannkuchen schmeckte, so ist es doch als Aufhänger für mediale Öffentlichkeit und weitere musikalische Aktivitäten nicht zu ersetzen. Welches Leitmedium berichtet schon darüber, wenn jemand einen neuen Song ins Internet stellt? Bei einem ganzen Album sieht das anders aus. Gerne weisen Schallplattenindustrieerklärer darauf hin, dass der große Reibach heute auf der Bühne gemacht wird. Das ist schön, da gehört Musik hin. Aber eine Tournee ohne reichlich neues Material (Sie haben es erraten: Album!) hat etwas Trauriges, da verkommt ein Künstler schnell zur eigenen Cover-Band.

In diesem Sinne: Man sieht sich beim Konzert am 23. 10.

Bitchmove in Schanghai

(Bitte nicht lesen, wenn Sie die Erörterung kleinlichster Fragen der deutschen Sprache und Rechtschreibung nicht für hocherotisch halten.)

Vor meinem nächsten Kontrollbesuch in Japan habe ich eine mehrtägige Zwischenlandung in China eingeplant, zur Vorbereitung wollte ich kürzlich Sachliteratur erstehen. Ich ging also auf den Buchladen und tippte ins Suchfeld: „Shanghai“, und hatte im Nullkommanichts genau das, was ich wollte, in großer Auswahl und vielfacher Ausführung, neu und gebraucht. Soweit nicht ungewöhnlich, Internet halt, ich hatte schon davon gehört.

Etwas scheinbar Ungewöhnliches ereignete sich dann aber doch noch wenig später, als ich erneut „Shanghai“ tippte, und zwar in eine Office-Anwendung, beim Verfassen eines launigen Artikels zum Thema (jener später an dieser Stelle, falls er fertig wird und launig bleibt). Das Wort „Shanghai“ wurde stets rot unterkringelt von der zuvorkommenden Software. Ich starrte und stierte, aber konnte den Fehler nicht finden. Sollte die Stadt etwa mit deutschem Schule-Sch geschrieben werden? Das konnte nicht sein, denn die drei deutschsprachigen Reiseführer, die bereits auf dem Weg zu mir waren, und die für mich Mindestvoraussetzung für fünf Übernachtungen sind, hatten es mit anglophilem Shanty-Sh auf dem Umschlag, da war ich mir sicher.

Aber ein Blick in den Duden bestätigt: Schanghai mit Sch ist die empfohlene Schreibweise. Der gedruckte Duden kennt immerhin die Sh-Variante, in der Online-Version hingegen wird sie als eigener Eintrag gar nicht geführt, sondern unter „Schanghai“ mitgelistet und als „englisch“ verunglimpft.

Wissen das die Deutschen? Selbst ich wusste es nicht, und mir wachsen regelmäßig graue Haare (Haare wachsen = reines Wunschdenken), wenn jemand in einem deutschen Text „Tokio“ mit Fantasie-Ypsilon schreibt. Ich nehme solche Sachen sehr genau, ich habe sonst keine Freuden im Leben. Liebend gerne schreibe ich Schanghai gutdeutsch, man muss es mir nur sagen. Und man sollte es so gut wie allen deutschen Reiseliteraturverlagen sagen, denn lediglich ein einziger Reiseführer ist unter der korrekten Schreibweise zu finden (drolligerweise der aus dem Amerikanischen übernommene Wallpaper City Guide). Tippt man „Schanghai“ in den Buchladen, kommt die hilflose Frage: Meinten Sie Shanghai?

Viel Neues über die Muttersprache kann man auch bei Langenscheidts Wahl äh Voting zum Jugendwort des Jahres erfahren. Die meisten nominierten Begriffe sind faule Übernahmen aus dem Englischen, z. B. Bitchmove oder (Epic) Fail. Mir fehlt just der Esprit, diesen Umstand ausführlich zu beklagen, bitte fügen Sie hier Ihr eigenes Lamento über die Überfremdung der deutschen Sprache ein.

Einige deutschdeutsche Ausdrücke sind schon dabei, gar nicht mal alle unschön. An der Authentizität allerdings hege ich – sehr vorsichtige – Zweifel. Es ist ja nun nicht so, dass ich sehr viel direkten Kontakt zu Jugendlichen hätte, aber ganz außen vor fühle ich mich nicht. Als Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel hört man der Jugend schließlich oft genug beim Telefonieren zu. Noch nie habe ich gehört: „Mein Katheterpeter ist voll der Körperklaus, aber trotzdem ziemlich naturschlau, jedenfalls kein Wikiwisser.“ Döner habe ich zum letzten Mal im 20. Jahrhundert gegessen, auch da schon nicht mehr in Gesellschaft ganz blutjunger Menschen. Ob solche heute tatsächlich sagen: „Einmal Karussellfleisch mit scharf!“, weiß ich nicht. Aber ich hoffe es ausdrücklichst!

Einige angeblich brandaktuelle Ausdrücke verwundern doch sehr. Berufsjugendlicher war schon in meiner Jugend das lang etablierte Wort, mit dem mein damaliges Ich so Typen wie mein heutiges Ich beschrieb. Auch die Prolette war keine Unbekannte. Wir echten Jugendlichen fanden damals keineswegs, dass Berufsjugendliche und Proletten rulen, aber jenes Verb benutzten auch wir schon mehr, als für unsere Ausdrucksweise gut war. Rubbeldiekatz hingegen sagten wir bestimmt nicht, das taten nur Berufsjugendliche, die auf Katheterpeter angewiesen waren.

Zum ersten Mal in seiner Geschichte gibt Shakira Kurosawa eine Wahlempfehlung: Bitte wählen Sie Karussellfleisch, alles andere wäre ein Bitchmove.

Sie können mich mal gernhaben (ich habe Sie ohnehin gern!)

Sie haben bestimmt bemerkt, dass vor kurzem unter den Beiträgen hier überall Knöpfe aufgetaucht sind, die vorher nicht da waren. Trauen Sie sich, drücken Sie ruhig mal drauf, dann passiert irgendwas! Nein, ich habe nicht angefangen zu twittern, zumal ich nach wie vor nicht so ganz genau weiß, was das eigentlich ist. Und auch zukünftig werde ich netzwerktechnisch asozial bleiben. Aber Ihnen, untertänigst verehrte Leserinnen und Leser, möchte ich fürs erste nicht mehr vorschreiben, was Sie zu tun oder zu lassen haben. Deshalb dürfen Sie mich jetzt durchaus weitertwittern, auch wenn mir die Sache nicht ganz geheuer ist. Und Sie können mich mal liken, Sie wissen schon wo.

Ich werde die Sache mit kritischem Auge beobachten. Sollten die Ergebnisse zu beschämend sein, nehme ich den Unsinn wieder runter. Ich hoffe, das geht.

Wo der Computer schon mal an ist: Es gibt wieder mal anderswo Anderes von mir zu lesen. So habe ich unlängst beim Fünf-Bücher-Projekt den Dicken gemacht. Bitte kaufen Sie meine fünf Bücher und alle anderen fünf Bücher, es ist gleich doppelt für einen guten Zweck (Ihr Lesevergnügen und eine wohltätige Organisation).

Auch für einen guten Zweck: Am nächsten Donnerstag, den 28. Juli, liest Christine Bongartz in Bremen aus meiner Gebrauchsanweisung für Japan, musikalisch begleitet von Naoko Marutani. Alle Fakten hier.

Und es gab neues zu besprechen:

Film

Garden of Sinners Film 2: Morderverdacht Teil 1

Gothic & Lolita Psycho

Kite Liberator – Angel of Death

Monga – Gangs of Taipeh

Buch

Stephen Clarke: Gebrauchsanweisung für Paris

Barry Eisler: Paris is a Bitch / The Lost Coast

Don Winslow: Satori

Das Sommermärchen ist wahr: Maja Haderlap ist Weltmeisterin!

Wie ich haben Sie ja diese Woche und insbesondere am Wochenende ebenfalls gebannt an den Geräten geklebt und auf 3sat oder ORF die Tage der deutschsprachigen Literatur (TddL) verfolgt, deren krimiartig spannendes Finale heute Mittag Maja Haderlap in Klagenfurt den Ingeborg-Bachmann-Cup brachte.

In alter Tradition wurde ein Text ausgezeichnet, der inhaltlich so auch vor 50, sprachlich vor 100 Jahren hätte geschrieben worden sein können. Man darf ihn genau deswegen schätzen. Man könnte aber auch erst recht die Schultern hängen lassen, aus Solidarität mit einer Literatur des Hier und Jetzt, die in Klagenfurt durchaus auch stattfindet, aber von einer Jury, die nach eigenem Bekunden im Leben nie etwas anderes als Bernhard und Handke gelesen hat, aus Prinzip nicht verstanden wird. Das Spezialgebiet eines Jurymitglieds ist laut Offizielltext die Literatur des Mittelalters. Man hat das Gefühl, es ginge dem Rest der Jury nicht anders.

Aber wir wollen uns nicht zu sehr grämen, erfreulich war immerhin das Ergebnis des Fußballspiels der japanischen Kämpferinnen gegen die deutschen Schauspielerinnen (Bildzeitungswerbefernsehen).

„Deutschland Vs Japan 0:1 …“
Dieses Video ist aufgrund des Urheberrechtsanspruchs von FIFA nicht mehr verfügbar.

Das ändert freilich auch nichts am Ergebnis.

Moleskine, Moleskine – ich kann es nicht mehr hören!

Die Propeller
drehen sich.

Das Flugzeug
gewinnt Höhe.

Weite Reise
macht weise.

Das Reisen
ist Leben.

Das steht, nicht immer in dieser Reihenfolge und inzwischen in geringfügig überarbeitetem Wortlaut, seit 10 Jahren auf den Notizbüchern der Rollbahn-Reihe des japanischen Lifestylebüroartikelherstellers Delfonics. Der beste Geburtstag seit dem von Marshall McLuhan und Washlet. Seit ich diese Notizbücher kenne, kann ich in nichts anderem mehr schreiben. Kann ich schon, kommt aber nur Mist dabei raus. Hier mein erstes und mein aktuelles Rollbahn, zum ersten Mal in einer gemeinsamen Szene:

 

Nicht im Bild: Meine nächsten beiden Rollbahns, die schon, noch eingeschweißt, bereitliegen.

Zum Zehnjährigen ist ein Federmäppchen erschienen, in dem sich die einzigen Schreibwerkzeuge transportieren lassen, mit denen sich Literatur, nein: LITERATUR, schaffen lässt.

Bitte geben Sie Ihre Moleskine-Kladde zum Altpapier und schenken Sie Ihr iPad einem Berber. Außer Rollbahn brauchen Sie nichts. Vertrauen Sie mir.

告白: Ich habe Fußball gesehen, Kuh gegessen, und nichts gelernt

Heute machte ich mit der Arbeit früher Schluss und fing mit der Abendschule gar nicht erst an. Stattdessen ging ich in den Biergarten, schaute Fußball und aß in der Halbzeitpause ein Steak (engl., aus dem Altnordischen, steik -> braten). Und natürlich dachte ich: Huch, wie konnte das passieren? Wo ich doch sonst gerne pro Tier (lebend) und gegen Sport (hauptsächlich Fußball) töne. Der Steak-Aspekt bedarf zu ausschweifender Erläuterung und zu händeringender Rechtfertigung für dieses Umfeld, aber Fußball ist schnell erklärt, denn ich habe ja nicht irgendwelchen Fußball geschaut, sondern Frauenfußball. Da ist die Formel leicht: Fußball eigentlich nicht interessant, Frauen schon irgendwo interessant, ergo Frauenfußball nicht ganz uninteressant. Dann spielt noch ein gewisser Fußfetisch mit rein und die Tatsache, dass ich nicht irgendein Spiel gesehen habe, sondern Japan gegen England. Japan erst recht nicht uninteressant. England auch nicht zu verachten, aber wenn ich wählen müsste, Sie wissen schon. Von daher war das Ergebnis heute nicht so erfreulich, aber der Stachel sitzt nach zwei Stunden Biergarten auch nicht sonderlich tief. Außerdem ist Japan ja ohnehin im Viertelfinale. (Oder? Ich habe das doch richtig verstanden?!)

Gesellschaftlich war ich schon immer ein Wanderer zwischen den Welten, und beide Welten (also alle außer der dritten) haben schon versucht mich von meiner Fußball-Lethargie zu kurieren. So unterschiedlich die Welten auch scheinen mögen, sie sind sich in einem einig: Du musst mal mit ins Stadion, Alter! Meine stolzen, tapferen proletarischen Freunde sagten stets: „Alter, du musst mal mit in die Fankurve, da willste gar nicht mehr weg!“ Meine Etepetete-Bekannten aus der Etepetete-Society sagten: „Alter, du musst mal mit in die VIP-Lounge, wo unkomplizierte junge Dinger dir und Kai Pflaume Schnittchen auf die Zungenspitze legen!“ Ich habe beides ausprobiert. Die Fankurve war mir zu proletarisch, die Schnittchen zu etepetete, das Spiel in beiden Fällen egal.

Dann geschah letzten Freitag das: Durch Zufall erfuhr ich, dass Japan am Nachmittag in der Fußball-WM der Frauen gegen Mexiko spielen würde. Trotz der Teilnahme Japans hatte ich die Veranstaltung bis dahin nicht großartig verfolgt. Ich war ein wenig enttäuscht gewesen, dass die Japan Football Association nicht auf meinen Vorschlag eingegangen war, AKB48 zur Fußballnationalmannschaft zu erklären, sondern irgendwelche Frauen geschickt hatte, die ich gar nicht kannte. Aus einer Laune heraus jedoch verfolgte ich das Spiel gegen Mexiko per Textticker im Internet (yeah, Silver Surfers go, schreibt uns noch nicht ab, Kids!), und das stellte sich im Nullkommanichts als das Spannendste heraus, was ich jemals aufrecht sitzend gelesen hatte. Das war aber auch ein Spiel! Die überraschende Ono! Die emsige Kinga! Und die vom Himmel herab gestapfte Sawa! Die kannte ich alle gar nicht!

Aufgeregt rief ich in Japan an, um meiner persönlichen Weltmeisterin zum Sieg zu gratulieren, aber da kam nur: „Fußball? A[ch] so. Aber nur Frauen, oder? Haben wir gewonnen? Ich hab gerade CSI gesehen.“

4:0 würde ich nun nicht als ‚gewonnen‘ bezeichnen, sondern eher als Volksfest mit Bauchtanz, aber gut. Bin ich mit meiner Begeisterung eben allein. Auch wenn meine persönliche interdisziplinäre Weltmeisterin den Großteil meines Herzens zur freien Verfügung hat, weiß sie, dass da ein kleiner, abgelegener aber warmer Platz ist, der theoretischen Traumfrauen zur Eroberung durch sportliche Leistungen zur Verfügung steht. Sie hält sich da raus, und ich sag nichts gegen Matt Damon, so sind die Regeln. In der besagten Herzkammer könnte es ein wenig enger werden, denn die eine, die da jetzt schon wohnt, könnte bald Gesellschaft bekommen.

Ich weiß nicht viel über Homare Sawa, und heute war sie ein wenig schüchtern, aber das wird schon. Ich habe ein paar Bilder von ihr gegoogelt (das ist nichts Unanständiges, sondern ein menschlicher Urinstinkt), und sie wirkt auf mich wie jemand, der seine Passion sehr ernst nimmt. Das gefällt mir an Menschen. Ob ich die Passion teile oder nicht. Ich hoffe, sie macht noch ein paar Dinger rein, wenn es drauf ankommt. Und selbst wenn nicht, wohnt sie auf ewig in der Ruhmeshalle meines Herzes, wegen des sehr euphorisierenden Nachmittags am Ticker.

Bitte nicht verwechseln:

Fußballnationalmannschaft der Frauen

AKB48

14 Jahre sind relativ (wenig)

„Endlich Wochenende /
Jetzt wird nur noch gezockt“

– Friedrich Schiller, Ode „An die Freude“ – Tony D, Jackpot

Sie haben sicherlich aus den Nachrichten davon erfahren, am vorvergangenen Freitag ist das Telespiel Duke Nukem Forever erschienen. Von der ersten Ankündigung bis zum Erstverkaufstag hat es rund 14 Jahre gebraucht, was als ziemlich lang gilt. Mit der Zeit hatte sich in der Gemeinde der Computer- und Videospieler der Glaube durchgesetzt, dass der Untergang oder Fortbestand der westlichen Zivilisation von der Qualität dieses Spieles abhinge, denn viele hatten sentimentale Erinnerungen an den Vorgänger, Duke Nukem 3D. Ich auch. Duke Nukem 3D überzeugte mich 1996 davon, dass Computerspiele doch kein langweiliger Kinderkram sind, sondern ganz schön aufregender Kinderkram.

Vorher hatte ich keinen nennenswerten Kontakt zu Computerspielen. Ich war schon immer liebenswert fortschrittsfeindlich und bin es noch heute. Mein erster Walkman war ein iPod, und auch den habe ich nur widerwillig und gebraucht gekauft. Er wird frühestens ausgetauscht, wenn die Akkuleistung unter drei Minuten fällt (was vermutlich bald der Fall ist, Apple halt). Erst kürzlich bin ich wg. Materialermüdung von einem Schwarz/grau-Mobiltelefon mit Knöpfen auf ein Farbmodell mit berührungssensitivem Bildschirm umgestiegen, mein drittes Handy in 13 Jahren. Ich sehe aber ein, dass es Vorteile hat. Man kann darauf seine fettigen Ohrabdrücke viel besser sehen. Das Faxgerät blieb der Welt nicht lange genug erhalten, als dass wir uns richtig hätten kennenlernen können. Die Faxe, die ich in meinem Leben gefaxt habe, lassen sich vermutlich an den Fingern einer Hand abzählen, und mindestens einen Finger hätte ich noch frei um Haselnussbrotaufstrich zu naschen. Nie habe ich eingesehen, einen Automobilführerschein zu machen. Meinen ersten Heimcomputer kaufte ich mir sauertöpfisch mit Mitte 20, weil meine Nachbarn fanden, dass meine Schreibmaschine zu laut sei, um nachts darauf zu schreiben.

(Mit 20 meint man, inspirierte Schreibarbeiten müssen unbedingt nachts erledigt werden, dabei geht das auch vor 22 Uhr.) Ich hatte mir vorgenommen, mein Computer-Dings lediglich als leisere Schreibmaschine zu verwenden und es keinesfalls mit Spielen zu besudeln. Mein Installateur hatte mir zwar ungefragt und zu meiner großen Freude Sam & Max draufgepackt, aber das ging in Ordnung, fand ich, das war immerhin was zum Nachdenken, adorno-mäßig gerade noch okay.

Vielfach wird meine Technikfeindlichkeit und damit einhergehende Ahnungslosigkeit bei entsprechenden Themen für Koketterie gehalten. Immer wieder bringen mir ganz aufgelöste Menschen kaputte Handys an die Tür und schluchzen: „Es klingelt seit heute Morgen nicht mehr! Ich flehe Sie an – tun Sie etwas!“ Das Missverständnis, dass mich so etwas interessieren könnte oder ich gar eine Lösung wüsste, kam vermutlich dadurch in die Welt, dass ich beruflich einmal ein paar Jahre lang auf die schiefe Bahn geraten war. Dabei habe ich mich in meiner Zeit als technischer Journalist (oder „schreibender Schraubenzieher“, wie die anderen Journalisten sagen, wenn man gerade nicht hinhört) bloß durchgeschummelt, großes Ehrenwort. Es gehört ja auch wirklich nicht viel dazu, Sony-Pressemitteilungen umzuformulieren.

Entschuldigen Sie, wenn ich abschweife. Ich war heute Vormittag bei einer ärztlichen Untersuchung und habe noch Kontrastmittel im Körper, was immer das sein mag.

Jedenfalls ging ich eines Tages im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrtausends einen Freund besuchen, ihn abzuholen, um irgendetwas viel Wichtigeres als das Spielen von Computerspielen zu unternehmen (vermutlich saufen). Mein Freund hatte sich zu meinem Unmut noch nicht mal fertiggemacht, als ich ihn in seinem WG-Zimmer fand. Stattdessen machte er an seinem PC Außerirdische fertig, die die Erde unterjochen wollten. Er spielte Duke Nukem 3D, einen Ego-Shooter (vulg.: Killerspiel) über einen heterosexuellen Kriegshelden mit dummen Sprüchen und dicken Knarren. Mein Freund fragte mich, ob ich auch mal ran wolle. In der Hoffnung, unsere Abreise dadurch zu beschleunigen, willigte ich ein. Wir verließen das Haus an diesem Abend nicht mehr. Als die Lebensgefährtin des Freundes auftauchte, die mich als Kriegsdienstverweigerer und Studenten der Geisteswissenschaften kannte und schätzte, sagte sie triumphierend: „Andreas, sag ihm, was du davon hältst!“

Ich nahm die Hände keinen Moment von der Tastatur und den Blick nicht vom Bildschirm und ächzte: „Ich würde es besser finden, wenn man es mit Joystick spielen könnte!“

Ich bildete mir ein, die Zukunft der Unterhaltung gesehen, nein, erlebt zu haben. Wenn Spiele so wären, dann wären Action-Filme fortan überflüssig, weil man bei diesem Spielprinzip und dieser atemberaubenden Grafikqualität das Gefühl hatte, selbst in einem Action-Film mitzuspielen, was viel aufregender war als bloß zuzuschauen. Die technische Revolution hatte stattgefunden. Das Ende der Fahnenstange war erreicht. (Mir wurde erst später bewusst, dass Spiele niemals Konkurrenz für Unterhaltungsfilme werden können, weil man sich beidem aus völlig unterschiedlichen Gründen zuwendet. So ein Spiel wird man nie zur Entspannung spielen, denn ein Spiel ist alles andere als entspannend.)

Auf Duke Nukem Forever, die Fortsetzung, freute ich mich. Aber eines verwirrte mich: Immer wieder las und hörte man unmittelbar vor der Veröffentlichung die Behauptung, man habe 14 Jahre darauf gewartet.

Also, ich nicht. Im betreffenden Zeitraum habe ich unter anderem mein Studium erfolgreich abgebrochen, meinen ersten Erwachsenen-Job angenommen und dreimal gewechselt, mit dem Rauchen aufgehört und mit dem Laufen angefangen, meinen Wohnort von Norden nach Süden gewuchtet, aus langen Haaren und Vollbart das Gegenteil gemacht, rund 30 Fernreisen unternommen, wichtige und weniger wichtige Beziehungen beendet und begonnen, mehrere unveröffentlichte Bücher und ein veröffentlichtes geschrieben, drei oder vier Blogs aufgegeben, unzählige Bücher gelesen und Filme gesehen, mit dem Comiclesen mehrfach aufgehört und wieder angefangen, viele Kochrezepte gelernt, in Konzerthallen gestanden und auf Bierbänken gesessen, zweimal genullt, und sogar ein paar Video- und Computerspiele ohne Duke Nukem gespielt (ging auch). Der Planet drehte sich unermüdlich um die Achse und kreiste um die Sonne, Babys wurden schreiend aus der molligen Dunkelheit in das harsche Licht der Welt gezerrt, Erde kehrte wieder zur Erde zurück, große Kunstwerke wurden geschaffen und vernichtet, Regime wurden gestürzt und errichtet. Mit all dem hatte ich direkt nichts zu tun, aber es kann einen trotzdem ablenken.

Ich habe also nicht viel Zeit damit verbracht, mit Fingernägeln zwischen den Zähnen auf den Kalender zu starren und mich zu fragen, wo denn Duke Nukem Forever bliebe. Will nicht sagen „gar keine“ Zeit, aber doch „kaum“. Wenn man alles zusammenrechnet, vielleicht so eine Stunde. Das war auszuhalten. In einer Stunde über 14 Jahre verteilt übersteigert man nicht seine Erwartungshaltung, weder in Sachen technischer und spielerischer Brillanz, noch in Sachen schrulliger Retrocharme, oder des Ausmaßes der Katastrophe, die viele vorgebliche Anhänger niederträchtig und masochistisch herbeisehnten.

Ein bisschen banges Kalenderstarren und Nägelkauen ließ sich am letzten Samstag nicht vermeiden, weil ich aus Gründen der Knauserigkeit das Spiel im Billigland England bestellt hatte und es nicht feststand, dass es rechtzeitig zum langen Wochenende rübermachen würde. Hat es aber, und ich muss sagen: Die eine Stunde Wartezeit habe ich keine Sekunde bereut. Ich habe gelesen, dass die Grafik des Spiels unter aller Sau ist. Für diese Info möchte ich mich bedanken, denn es wäre mir sonst nicht aufgefallen bei dem ganzen Spaß, den ich mit Duke Nukem Forever habe. Wie die Musik ist, kann ich nicht beurteilen, da Musik in Videospielen nichts verloren hat, weshalb ich sie immer gleich nach Erhalt abstelle. Wenn sie so ist, wie der überdrehte Gitarrenquatsch im Intro, war das die richtige Entscheidung. Das Geknatter meiner Schusswaffen und das Todesquieken meiner Gegner ist genügend Musik in meinen Ohren.

An den Humor hatte ich keine großen Erwartungen. Den Humor von Duke Nukem 3D seinerzeit hatte ich mir als linksdrehender Frauenversteher damit schöngeredet, dass der ja gar nicht sexistisch und gewaltverherrlichend wäre, sondern eine Parodie auf Sexismus und Gewaltverherrlichung. Dass Parodie niemals Anklage, sondern immer nur Schmeichelei und Bekräftigung ist, verdrängte ich damals. Das tue ich nun nicht mehr, bilde ich mir ein. Deshalb kann ich über den Bier-und-Babes-Humor von Duke Nukem heute gar nicht mehr lachen.

Hm, kann ich offenbar doch noch. Duke Nukem Forever ist schon ziemlich lustig. Es sind ja nicht nur die Macho-Sprüche und Fellatio-Witze (obwohl viele von denen auch recht ulkig sind). Es gibt außerdem vereinzelte Anspielungen auf relativ aktuelle Auswüchse der amerikanischen Gegenwartskultur, etwa Seitenhiebe auf den Krieg der Late-Night-Talkshows und den Krieg gegen den Terror sowie blutige Fausthiebe auf einen cholerischen Schauspieler-Lackaffen, der wahrscheinlich Christian Bale ist.

Aber die wenigen Konzessionen an die Gegenwart sind nicht das Entscheidende. Vor allem gilt: Nicht obwohl Duke Nukem Forever mindestens zehn Jahre zu spät erscheint, ist es ein gutes Spiel, sondern weil es mindestens zehn Jahre zu spät erscheint. Ein oder zwei Jahre nach Duke Nukem 3D wäre es nur eine solide Fortsetzung gewesen. Heute ist es eine veritable Zeitreise. In eine Zeit, in der Spiele noch etwas Spielerisches hatten und nicht mit buchhalterischem Mikromanagement-Irrsinn allen Spaß an der Freud verdarben. Man fühlt sich wieder wie Mitte 20, nur nicht so behaart. Sollte es eine weitere Fortsetzung geben, ich warte gerne. Selbst wenn es wieder eine Stunde dauert.

Düsseldorf Underground

Dieses Wochenende bin ich wegen schlimmen Fußes an den Schreibtisch gefesselt.

Aber letztes Wochenende war ich gut unterwegs in Düsseldorf, wohin mich das germanistische Studierendenprojekt „Reiseliteratur“ der Heine-Universität zu einer Lesung in gediegenem Ambiente eingeladen hatte.

Der Düsseldorfer Hauptbahnhof war voller Cosplayer (ich war ein wenig enttäuscht zu erfahren, dass sie nicht wegen der Lesung gekommen waren, sondern immer dort rumlungern), mein Hotel war voller holländischer Hell’s Angels (ich war nicht enttäuscht, dass sie nicht wegen der Lesung gekommen waren, sie entpuppten sich aber beim Frühstück als sehr umgängliche Gesellen). Mehr Worte möchte ich gar nicht verlieren, denn die Zeitung war da und der Literatur-Blog Legimus sowieso. Legimus-Chefin Vanessa Lellig war nicht nur die treibende Kraft hinter der Organisation der Veranstaltung, sondern auch so nett mich zu interviewen. Ihr und der fleißig fotografierenden Aljona Merk und allen anderen Beteiligten von Uni und reinraum e. V. und natürlich den freiwilligen Gästen unten und oben sei mindestens tausend Dank für den schönen Abend, Onigiri, Alt und Pils.

Wo ich gerade mit Links in die große weite Welt nur so um mich schmeiße: Es gibt ein paar neue Film- und Buchbesprechungen da draußen.

Bedevilled – Zeit der Vergeltung

Detective Dee und das Geheimnis der Phantomflammen

Garden of Sinners – Film 1: Thanatos

War of the Wizards

William Gibson: Die Idoru Trilogie

Eigentlich fehlen mir die Worte

Erschütternde Bilder erreichen mich aus Sydney. Okay, nur eines, aber das ist erschütternd genug.

Wie lange wird die internationale Gemeinschaft noch tatenlos zusehen? Ich jedenfalls werde handeln und ziehe mit sofortiger Wirkung meine japanische Botschafterin aus Australien ab.