Glücklicherweise fehlt mir momentan die Zeit, die Making-of-Kawaii-Mania-Serie fortzuführen (das heißt nicht, dass sie nie fortgeführt werden würde). Allerdings habe ich gerade eine wichtige Information hereinbekommen, die nicht warten kann.
Mit ernstem Gesicht und Ton nahm mich meine fünfjährige Tochter heute beiseite: „Papa, ich habe mir noch einmal Kawaii Mania angesehen.“ „Das freut mich, Hana.“ „Da ist der Popo-Detektiv drin.“ „Ja, ich weiß. Vielen Dank, den hätte ich ohne dich gar nicht gekannt.“ „Aber der Popo-Detektiv ist nicht niedlich.“ „Nein?“ „Nein.“ Ende des Gesprächs.Schlagwort-Archive: Japan
Making of Kawaii Mania, Folge 2: Kuchen und Kartoffelsalat am laufenden Band
Ich muss gestehen: Ich kenne mich mit Kuchen nicht aus. Meine japanische Frau kennt mehr deutsche Kuchenbezeichnungen als ich. Wie jeder normale Mensch fotografiere ich zwar gerne Süßspeisen, aber mein Appetit in dieser Richtung hält sich in Grenzen.
Da ich kein Mitglied der internationalen Kuchenliebhaberszene bin, war es mir vor meinem Besuch des Maison Able Café Ron Ron in Harajuku nicht bewusst, dass es sich bei dem Lokal nicht etwa um einen Geheimtipp handelte, sondern um einen wohl recht bekannten Pilgerort. Als ich dort gegen 11 Uhr vormittags eintraf, wurde mir gesagt, das Café und die Warteliste seien fürs Erste voll. Ich bekam ein Ticket, das mich berechtigte, mich in zwei Stunden vor dem Eingang in die Schlange zu stellen. Toll, dachte ich, dann kann ich ja vorher noch ordentlich Mittag essen (siehe Folge 1). Genau das war natürlich mein Fehler. Ins Maison Able Café Ron Ron geht man nicht mal eben so nach dem Essen. Ins Maison Able Café Ron Ron geht man, um aus deren Kuchen-Flatrate das bestmögliche Preis-Leistungs-Verhältnis herauszuholen. Männer zahlen im Fließband-Kuchenparadies mehr als Frauen. Als ich das im Vorfeld meiner Frau erzählt hatte, meinte die, dass das den armen, benachteiligten Männern gegenüber ungerecht sei. Iwo, sagte ich, das ginge schon in Ordnung. Schließlich können Männer mehr essen als Frauen. Ich lernte: Generell vielleicht ja. Aber nicht Kuchen. Ich weiß nicht mehr, wie viele der kleinen Dinger ich geschafft habe. Es waren auf jeden Fall weniger als die, die die spindeldürren Mütter und kleinen Kinder, mit denen ich als einziger Mann die Tafel teilte, geschafft haben. Hier bin ich, wie man sieht, beim sechsten:Making of Kawaii Mania, Folge 1: Harajuku
Gerne erinnere ich mich dieser Tage an die total 2019-mäßigen Probleme, die ich im letzten Sommer hatte: Ich konnte einfach keine anständigen Bilder für mein damals im Entstehen begriffenes Buch Kawaii Mania bekommen. Unanständige hätten es auch getan, aber selbst das war schwierig. Offizielle Pressevertreter relevanter Unternehmen konfrontierten mich mit langwierigen Verfahren, komplizierten Antragsformularen, furchteinflößenden Knebelverträgen oder der guten, alten kalten Schulter. Also löste ich das Problem auf total 2019-mäßige Weise: Ich verließ das Haus, stürzte mich ins soziale Gewimmel und knipste selbst. Gleich am ersten Tag ging mir dabei die Kamera kaputt, also machte ich es wie normale Menschen: Ich nahm das Mobiltelefon. Viele der Fotos kamen tatsächlich ins Buch. Etliche nicht. Eine kleine Auswahl der letzteren möchte ich in dieser Serie teilen.
Heute geht es erst mal ins Teenager- und Touristenviertel Harajuku, dort selbstverständlich in die Takeshita Dori.Wundertüten gibt es immer wieder
Letztes Jahr (gucken Sie hier) spazierte ich am dritten von eigentlich nur zwei Verkaufstagen in die internationale Kinokuniya-Buchhandlung in Shinjuku und hatte noch freie Auswahl zwischen mehreren Variationen der beliebten Neujahrswundertüten, in denen japanische Händler traditionsgemäß zum Jahresauftakt Überraschungssonderangebote zu Schleuderpreisen raushauen. Mein Anfängerglück nicht als solches erkennend, meinte ich, die Gerüchte um die Begehrtheit dieser Tüten seien stark übertrieben.
Also ahnte ich nichts Böses, als ich in diesem Jahr am Nachmittag des Erstverkaufstages mit betonter Lässigkeit ins Geschäft schlenderte. Diesmal wollte ich mehr als eine Tüte. Zwar habe ich von den Büchern aus der von vor einem Jahr bislang nur eines gelesen, aber darauf kommt es ja nun wirklich nicht an. Leider wird nur ein Beutel pro Nase ausgegeben. Deshalb hatte ich meiner Frau 2020 Yen zugesteckt und sie instruiert, sich ganz normal zu verhalten. Im Nullkommanichts würden wir den Laden mit zwei sogenannten Lucky Bags verlassen haben, und niemand müsse je erfahren, dass beide für mich bestimmt sind. Doch, Schockschwerenot, auf dem Wundertütentisch standen nur noch die Ausverkauft-Schilder. Auf Anfrage versicherte man uns, dass es am nächsten Tag eine weitere Chance gäbe, wir uns allerdings gefälligst recht früh, also vor Ladenöffnung, vor dem Haupteingang im Erdgeschoss einfinden sollten, so uns die Sache wichtig wäre. Abkürzungen über andere Zugänge seien nicht erlaubt. Wir fügten uns. Als wir um zehn vor zehn ankamen, warteten bereits ungefähr 20 andere auf ihr Glück.Die McDonald’s-Schläferin und die totgeschlagene Fliege: Zwei Urlaubs-Zen-Momente ohne Abbildungen
Weil wir dem Kinde vor der Bahnfahrt in den Urlaub etwas ganz Besonderes bieten wollten, kehrten wir zum Frühstück in ein McDonald’s-Schnellrestaurant ein. Japan ist zwar ein McDonald’s-Land, aber kein Frühstücksland, so war die Filiale am Bahnhof Meguro am frühen Sonntagmorgen nur mäßig gefüllt. Bei der Platzwahl entschieden wir uns für eine Ecke einer langen Tafel im zweiten von drei großzügig bemessenen Stockwerken. An der Tafelecke schräg gegenüber von unserer saßen zwei Frauen im besten Alter, also ungefähr in meinem. Sie mögen Freundinnen gewesen sein, denn ihr Ton und ihre Haltung sprachen von einer gewissen Vertrautheit miteinander. Eine trug eine schwarze Lederjacke mit vielen kleinen Reißverschlüssen, die andere etwas Altersangemesseneres. Wovon sie sprachen, war nicht zu verstehen, denn sie unterhielten sich in angenehmer japanischer Zimmerlautstärke. Vielleicht versuchten auch sie, wie zuvor ergebnislos wir, den Unterschied zwischen Hotcakes und Pancakes zu erörtern. Der Mann an der Kasse hatte uns auf Anfrage mitgeteilt, dass es einen gäbe. Diese Frage allein schien ihn allerdings bereits derart aufgewühlt zu haben, dass wir das Thema nicht noch vertiefen wollten.
Als die Freundinnen an unserer Tafel ihre Hotcakes oder Pancakes verspeist hatten, beendeten sie ihr Gespräch, blieben aber noch sitzen. Die in der Lederjacke holte ein Handtuch aus ihrer Handtasche hervor, das sie vor sich auf der Tischplatte sorgsam mehrfach faltete. Am Ende des Faltvorgangs prüfte sie die Weichheit der Konstruktion mit dem Finger. Nicht ganz zufrieden mit dem Ergebnis nahm sie ihren Schal vom Hals, faltete ihn in gleicher Manier und legte ihn auf das Tuch. Dann bettete sie ihr Haupt zum Schlafe, und zwar mit einem Gesichtsausdruck, als hätte sie sich das ganze Wochenende auf diesen Moment gefreut. Ihre Begleitung nahm einen Stapel Formulare und eine Handvoll verschiedenfarbiger Stifte aus ihrer Tasche und machte sich in aller Seelenruhe ans Ausfüllen der Papiere. Meine Frau spürte meine Verzückung und sagte: „Mach bitte kein Foto.“ Außerdem sagte sie: „Wenn du etwas über die japanische Kultur erfahren möchtest, gibt es wirklich keinen besseren Ort als McDonald’s. Hier kommt jeder hin, vom Baby bis zum Opa.“ Da sagte sie was. Genau diesen Eindruck hatte ich bereits bei meinem allerersten Aufenthalt in Japan 1999 gehabt, als ich aufgrund gewisser Unsicherheiten weit mehr Mahlzeiten in solchen Lokalen zu mir nahm, als ich jemals öffentlich zugegeben habe. Es zwanzig Jahre später von einer Einheimischen bestätigt zu bekommen, schließt einen Kreis und eine alte Wunde. Eine Zugfahrt später hatten wir schon wieder Hunger. Weil wir außerdem einen dringenden Termin im Spaßbad hatten, entschieden wir uns für das erstbeste rustikale Nudelsuppenlokal am Bahnhof Hakone-Yumoto. Bald summte eine Fliege über unserem Tisch, was Frau und Kind zu energischem, anhaltenden Fuchteln veranlasste. Schließlich sprach ich ein Machtwort: „Familie, dieses Gewedel stört mehr als das Tier. Akzeptiert einfach, dass die Fliege hier ist. Sie ist so authentisch wie das Lokal.“ Das überzeugte niemanden, zumindest nicht komplett. Immerhin wurde mir zuliebe ein kleines bisschen weniger gefuchtelt. Nach einer Weile trat die schon etwas betagte Bedienung wortlos an unseren Tisch, klatschte in die Hände und entfernte sich wieder, weiterhin wortlos, mit der nun toten Fliege. Nach Entsorgung des Leichnams ging das Muttchen zu unserem Nachbartisch und vermeldete: „Ist erledigt.“ Der Nachbartisch hatte sich offenbar beschwert. Ob über die Fliege oder über das Gefuchtel, weiß ich nicht. Ich habe aber meine Vermutung, und meine Frau hat ihre.Ich bin der Fernsehflorist
Hätte mein Blog zwei Leser, könnte ich mir folgendes Gespräch vorstellen:
Leser 1: „Schon gesehen, Leser 2? Auf Shakira Kurosawa gibt es einen neuen Beitrag.“ Leser 2: „Echt jetzt, Leser 1? Na, meine Neugier hält sich in Grenzen. Ist wahrscheinlich wieder nur so ein apologetisches Geflenne, warum der Typ so selten in seinen Blog schreibt. Hat zu viel zu tun, blabla, schließlich erscheint sein neues Buch Kawaii Mania bald für 19 Euro 95 im Conbook Verlag, blabla, und im Frühjahr kommt schon wieder was, blablabla …“ „Hm, tja, ein bisschen so ist der Beitrag durchaus. Aber gleichzeitig vieles mehr. Eine Geschichte von Liebe und Verrat, von Rache und Drachen, Würfelspielen und Schwertkämpfen, waghalsigen Fluchten und dramatischen Konfrontationen, verloren Söhnen, schönen Prinzessinnen, gefährlichen Piraten und einem Mann mit sechs Fingern.“ „Ach, der Ärmste. Jeweils drei Finger rechts und links? Oder vier und zwei? Oder …“ „Nein, nein. Ich hätte es anders formulieren sollen. Sechs Finger an einer Hand, die andere ganz normal, also fünf.“ „Gibt es in dem Beitrag wirklich einen elffingerigen Mann?“ „Ehrlich gesagt nein.“ „Und die anderen Sachen auch nicht, oder?“ „Nein, da muss die Euphorie mit mir durchgegangen sein.“ „Ich werd’s wohl trotzdem lesen.“ „Gleich nach der Reklameeinblendung geht’s los.“Lesebändchen gegen Nazis
Als ich Ende letzten Jahres kurz in Deutschland weilte, um dem dortigen Buchhandel ein segenreiches Q4 zu bescheren, erschrak ich über mich selbst. Und zwar als ich feststellte, dass es mir beim Bücherkauf offenbar ein Kriterium geworden war, ob ein Buch ein Lesebändchen hatte oder nicht. Dabei mokiere ich mich seit Jahren über die Sammellämmer im Filmbereich, denen Inhalte längst egal geworden sind, solange sie nur in limitierten und nummerierten Blechboxen geliefert werden. Bin ich etwa genauso ein oberflächlicher Ausstattungsfetischist geworden?
Das Glück gibt’s nicht in Wundertüten (nicht der Titel meines kommenden Schlageralbums)
Das Schöne am japanischen Neujahrsfest ist, dass tagelang alles stillsteht und nichts aufhat. Wenn man den Heimaturlaub so koordiniert, dass man direkt von den deutschen Weihnachtsfeiertagen ins japanische Neujahr schlittert, hat man knapp zwei Wochen süßen, zwangsverordneten Nichtstuns. Zeit für Andacht, Schnaps, Lego-Friends-Wohnmobile zusammenbauen, und dann gleich wieder Schnaps.
So richtig stimmt es natürlich auch nicht, dass in Japan dieser Tage gar nichts aufhat. Schließlich müssen die traditionellen Neujahrswundertüten verkauft werden, international bekannt als Lucky Bags. Also Beutel mit Überraschungsqualitätsprodukten zu Schnäppchenpreisen. Ich wollte dieses Jahr unbedingt die von meinem bevorzugten Büromaterialienhändler Smith/Delfonics haben, denn ich hatte von Leuten gehört, die von Leuten gehört hatten, dass diese Lucky Bags sich besonders lohnten. Ganz genau konnte es keiner sagen, denn keiner hatte je eine abbekommen. Ich auch nicht. An zwei verschiedenen Tagen habe ich es versucht, Pustekuchen. In den Schnickschnackgeschäften Loft und Tokyu Hands versuchte ich mein Glück ebenfalls, dort wurden die Tüten allerdings nur in Abteilungen angeboten, die mich nicht interessierten. Die Wein-Beutel diverser Luxussupermärkte lockten mich, doch ich widerstand. Die Preise waren gut für japanische Verhältnisse, aber im internationalen Vergleich nach wie vor nicht tragbar. Besonders wenn man gerade aus dem Billigweinland Deutschland zurückgekehrt ist. Heute Morgen hatte es dann doch noch geklappt mit dem Tütenerwerb, in der internationalen Kinokuniya-Buchandlung in Shinjuku. Die hatte ich fast vergessen. Obwohl, wie könnte ich sie jemals vergessen?J-Stulle oder Galapagos-Burger?
In unserer Nachbarschaft hat ein neuer Sandwich-Laden aufgemacht, Wawich. Das lässt sich frei mit J-Stulle übersetzen. Als ich zum ersten Mal auf Höhe des Ladens unverbindlich interessiert das Tempo drosselte, wurde ich sogleich von einem herbeieilenden Wawich-Mitarbeiter überinformiert. Beim Wawich handele es sich um „einen Sandwich japanischer Art, man muss ihn mit Messer und Gabel essen.“ In dieser Aussage steckt natürlich schon ein herrlicher Widerspruch, den ich an dieser Stelle nicht breittreten möchte (gleichwohl möchte ich darauf hinweisen, dass er mir nicht entgangen ist). Es sei etwas drauf und drin im Brotteig, wurde weiter erläutert. Dann folgte eine Erklärung der gesamten Speisekarte. Abgeschreckt von so viel Konversation auf leeren Magen vertröstete ich auf ein anderes Mal.
Die Ballade von Botox-Baldi
Wie jeder erwachsene Mensch aus Fleisch und Blut habe ich mir die eine oder andere sentimentale Brücke in meine Kindheit und Jugend bewahrt, allerdings nicht unbedingt in meine allerfrüheste Kindheit. Bussi Bär im limitierten Sammelschuber oder Rappelkiste in der Blu-ray-Steelbox wird man in meinem Haushalt nicht finden. Daher wundert es mich selbst, dass ich bis heute an Baldi-Hund festhalte, meinem ersten Stofftier. Irgendwie ist er immer mitgekommen. Nicht mit ins Büro oder in die Kneipe, aber er hat jeden Umzug mitgemacht. Schon lange schläft er nicht mehr bei mir im Bett, keine Sorge. Das würde er auch gar nicht mehr aushalten. Denn Baldi ist alt geworden:
Baldi heißt so, weil ich als Kind das W nicht gescheit aussprechen konnte. Das Problem habe ich zwar inzwischen in den Griff bekommen, möchte das Tier aber dennoch nicht umbenennen. Einen Waldi-Hund kann schließlich jeder haben.
Zuletzt stand Baldi eingequetscht zwischen zwei Aktenordnern (okay, ungeordneten Aktenbehältern) auf meiner Schreibkommode, weil er ohne Hilfe nicht mehr stehen konnte. Er erinnerte mich dabei ein bisschen an diese japanischen Bäume, die schon längst tot umgefallen wären, würden japanische Baumliebhaber ihnen nicht ständig neue Krücken unters Geäst stellen.Ich sagte einmal meiner Frau, dass ich diese Krückengeschichte für Schummelei halte, man solle doch die Bäume einfach in Würde sterben lassen. Daraufhin sagte sie, es sei doch nett, dass man sich so rührend um die alten Bäume kümmerte. Diese Einstellung übernahm ich fürs erste. Nach einer Weile allerdings hatte ich wieder bei jedem Vorbeiflanieren an Krückenbäumen dieses Flüstern im Kopf: „Erlöse mich! Nimm einfach die Krücken weg und lass mich gehen!“ (Gehen ohne Krücken ist natürlich ein schiefes Bild in diesem Zusammenhang, aber ist ja nur Internet.)
Gut dass ich meine Frau erwähnt habe, denn die brauchen wir jetzt. Beim obligatorischen Durchblättern alter Familienfotos stieß sie einmal einen spitzen Schrei aus und rief: „Baldi war mal… weiß!“ Ich sagte: „Frau, du redest Unsinn!“ Gleich darauf entschuldigte ich mich, weil sie keinen Unsinn redete. Leider kann ich das Foto gerade nicht wiederfinden, vermutlich ist es in einem ungeordneten Aktenbehälter, doch es existiert. Ich hatte das freundliche Grau stets als seine Originalfärbung wahrgenommen, schließlich war die Ergrauung ein schleichender Prozess gewesen. Nun hatte meine Frau sich in den Kopf gesetzt, den Original-Baldi rekonstruieren zu lassen. Es gäbe da eine wunderliche Alte, sagte sie, die lebe zurückgezogen in den Bergen, und sie kreiere Kunst aus ausgestopften Tieren. Außerdem mache sie veraltete Stofftiere in einem dreimonatigen Prozess wieder wie neu, für nur 30.000 Yen. Ich stieß einen spitzen Schrei aus und rief mit der Stimme meiner Mutter: „30.000 Yen? Das sind ja fast 500 Mark! Wie viele fabrikneue Baldis könnten wir dafür kaufen?!“ Meine Frau sprach die Antwort aus, die ich längst kannte: „Aber die wären nicht Baldi.“ Also schickten wir ihn in die Bergklinik. Vorher dokumentierte ich noch die Altersspuren:Die Künstlerin bot uns an, nach Eintreffen des Tieres eine Einschätzung abzugeben, ob es in unserem Fall schneller und günstiger gehen könnte. Die Antwort kam schnell: Nein, das ginge ganz sicher nicht.
Wir durften ihn in den drei Monaten nicht besuchen. Oft malte ich mir aus, wie er nun dalag, allein auf einem Seziertisch in einer dunklen Berghütte, aufgeschnitten und ausgespreizt, die Felllappen mit Haken und Ketten in Position gehalten, wie eine sadomasochistische Fantasie aus einem Hellraiser-Film für Stofftiere. Als Baldi zurückkam, erfuhren wir zuerst, was die Künstlerin am liebsten bei der Arbeit trank, offenbar in größeren Mengen.Dann sahen wir ihn, und er sah uns.
Er sah uns sogar aus neuen Augen. Die alten hatte die Künstlerin separat mitgeliefert (unten auf der Abbildung unten).
Er ist heller und fülliger geworden. Das Fell ist nicht einfach nur mit Perwoll gewaschen. Es ist neu.
Im Schnauzenbereich ist er noch ein bisschen kahl, wie früher. Ich bin überzeugt, dass die Künstlerin dort bewusst ausgespart hat, um Baldis tatsächliches Alter zu würdigen. Sie hat es geschafft, seine Seele zu bewahren, obwohl sie wohl so ziemlich alles außer dem Halsband ersetzt hat. Jetzt kann ich ihn endlich wieder bedenkenlos mit ins Bett nehmen.
Das war also die Ballade von Botox-Baldi. Streng betrachtet handelt es sich nicht um eine Ballade, doch als Mensch aus Fleisch und Blut kann ich einfach keiner naheliegenden Alliteration aus dem Weg gehen. Könnte ich malen, hätte ich eher ein Bild gemalt. So wie meine Tochter es unaufgefordert getan hat: Baldi im Kreis der Familie, inklusive seiner alten Augen.